Читать книгу Die Kreuzzüge - Jonathan Riley-Smith - Страница 12

Materialismus

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Die Vorstellung, dass die Kreuzfahrer aus ihrer Unternehmung etwa Profit hatten schlagen wollen, war den Denkern des 18. Jahrhunderts eigentlich fremd. Tatsächlich war es eines ihrer Lieblingsargumente, dass die Kreuzzugsbewegung wegen der hohen Kosten, die sie verursachte, das Abendland verarmt zurückgelassen und in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gehemmt habe. Für Diderot war es ganz klar, welche Konsequenzen „jene schrecklichen Kriege“ über Europa gebracht hatten: „die Entvölkerung seiner Länder, die Bereicherung seiner Klöster, die Verarmung seines Adels, den Verfall der kirchlichen Sitten, die Verachtung des Ackerbaus, Mangel an Geld und eine Unzahl weiterer Übel.“ Edward Gibbon gelangte zu dem Schluss, dass die Kreuzzüge

die Reife Europas eher gehindert als befördert haben. Die Lebenszeit und Arbeitskraft von Millionen, die im Osten begraben wurden, hätte wohl bei der Erschließung ihrer eigenen Heimatländer einen besseren Dienst geleistet: Der so angesammelte Überschuss an Gewerbefleiß und Wohlstand wäre in Seefahrt und Handel geflossen, und die Lateiner wären durch einen reinherzigen und freundschaftlichen Austausch mit den Völkern des Orients bereichert und belehrt worden.

Gewiss: Scotts Kreuzfahrer waren Jünger des Mammon gewesen, doch es war ein anderer Autor, der (wenn auch unbeabsichtigterweise) einen sogar noch größeren Einfluss auf die Entwicklung des modernen Bilds von den „materialistischen Kreuzzügen“ haben sollte; ein Autor, dessen eigene Ansichten diesem Bild gar nicht unähnlicher hätten sein können: Als Joseph François Michaud seine monumentale, in sechs Bänden zwischen 1812 und 1822 erschienene Histoire des croisades schrieb, war er von der Absicht getrieben, die glorreiche religiöse und monarchische Vergangenheit Frankreichs wieder zum Leben zu erwecken und so die Gräuel der Aufklärung und der Französischen Revolution vergessen zu machen. Wie die Vertreter der Aufklärung gebrauchte Michaud den Kreuzzugsbegriff ausschließlich für Kriegszüge in den Nahen Osten. Er scheint zwar die Existenz anderer Kreuzzugsschauplätze nicht geleugnet zu haben – so verwarf er den Albigenserkreuzzug einfach aus dem Grund, dass dieser mit seiner Erzählung nichts zu tun hatte –, aber andererseits wusste Michaud auch, dass die Kreuzzugsbewegung noch lange nach 1291 lebendig geblieben war (obwohl er die Ansicht vertrat, dass dies spätestens im 17. Jahrhundert vor allem in den Köpfen einiger Autoren der Fall war und nicht in der Realität).

Michaud war überzeugt davon, dass die Kreuzzüge sämtlichen beteiligten Ländern Europas Reichtümer eingebracht hatten und dass Frankreich von allen diesen Ländern am meisten profitiert hatte. In seinen Augen waren die Kreuzzüge Äußerungen einer überlegenen katholischen Zivilisation, deren Mission es war, den Islam zu bekämpfen. Das französische Original seiner Histoire erschien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in neunzehn Auflagen; daneben erschienen Übersetzungen ins Englische, Deutsche, Italienische und Russische. Die patriotischen Elemente in Michauds Darstellung gefielen vor allem den europäischen Architekten großer Reiche. Auf Michauds Rhetorik werde ich später noch eingehen, vorweg sei nur gesagt, dass seine Ideen zur Begründung aller möglichen Arten von europäischen Kolonialunternehmungen missbraucht wurden.

In dem Maße jedoch, wie im Verlauf des 20. Jahrhunderts der Imperialismus selbst in Ungnade fiel, war der Weg frei für beißende Kritik wie die von Norman Daniels Islam and the West: The Making of an Image (1960). Daniel zufolge gründeten die zeitgenössischen Vorurteile, die der kolonialistische Westen mit Blick auf die angebliche Unterlegenheit der muslimischen Welt hegte, in verdrehten Vorstellungen, die zur Zeit der Kreuzzüge entstanden waren.

Der Imperialismus mochte Schnee von gestern sein; die proto-imperialistische Lesart der Kreuzzüge blieb aktuell. Ihres religiösen Kontextes enthoben, wurden sie spätestens in den 1920er- und 1930er-Jahren als Ereignisse der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte interpretiert – und zwar von marxistischen wie von liberalen Wirtschaftshistorikern, die der Ansicht waren, die Kreuzzugsbewegung stelle einen Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Wirtschaftslebens dar. Von ihren imperialistischen Vorläufern hatten sie die Überzeugung geerbt, die Kreuzzüge seien eine frühe Erscheinungsform des Kolonialismus gewesen; sie selbst konnten sich nicht vorstellen, dass für ein historisches Geschehen von dieser Größenordnung andere Kräfte als die des Marktes hätten verantwortlich sein können.

Die neo-imperialistische Sicht der Kreuzzüge als eines proto-kolonialistischen Phänomens wurde mit der Zeit die Meinung der breiten Mehrheit und das, obwohl die wirklichen Kreuzzugsexperten unter den Historikern an ihrer Formulierung nicht den geringsten Anteil gehabt hatten. Es gibt bis heute keine umfassende Studie zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Kreuzzüge, und auch die Wirtschaftsgeschichte der Kreuzzugsbewegung selbst muss erst noch geschrieben werden. Norman Housley hat darauf hingewiesen, dass bislang noch nicht einmal eine überzeugende Analyse zur Rolle der italienischen Handelsstädte innerhalb der Kreuzzugsbewegung vorgelegt worden ist. Selbstverständlich lässt sich die Geschichte der Kreuzzüge und der in ihrem Zusammenhang gegründeten Herrschaften (vor allem auf der Iberischen Halbinsel und im Baltikum) nicht völlig von der Diskussion über die Ursprünge des Kolonialismus trennen. Zweifellos gab es einen engen Zusammenhang zwischen Kreuzzugsideen und der Begründung der spanischen und portugiesischen Weltreiche. Die Tatsache bleibt jedoch bestehen, dass bis dato noch kein überzeugender (und das heißt: auf handfeste Beweise gestützter) Nachweis für die Behauptung vorgelegt worden ist, die Teilnehmer an den Kreuzzügen in den Orient hätten vorrangig aus Profitstreben gehandelt. Es scheint, dass diese Ansicht sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter Kreuzzugshistorikern verbreitet hat, wobei israelische Historiker wie vor allem Joshua Prawer die Vorhut bildeten. Für sie stand die Darstellung der Kreuzfahrer als Proto-Kolonialisten im Einklang mit der zionistischen Interpretation der Geschichte des Gelobten Landes seit dem Beginn der jüdischen Diaspora.

Die Kreuzzüge

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