Читать книгу Die Kreuzzüge - Jonathan Riley-Smith - Страница 15

Alternativen zum Traditionalismus

Оглавление

Eine Alternative zur traditionalistischen Interpretation der Kreuzzüge – derzufolge, wie gesagt, allein die Feldzüge zur Rückeroberung oder Verteidigung Jerusalems als „echte“ Kreuzzüge gelten sollten – ist schon in den 1930er-Jahren von Carl Erdmann vorgeschlagen worden. Erdmann war der Ansicht, der Begriff Kreuzzug sei auf jede Art von Kriegführung anzuwenden, die im Namen Gottes zu Zwecken der Buße unternommen worden war. Seine Ideen trafen jedoch erst auf eine gewisse Resonanz, als sein Buch Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens von 1935 auch ins Englische übersetzt worden war (The Origin of the Idea of the Crusade, 1977). Erdmann gilt heute als der erste Vertreter einer generalistischen Interpretation der Kreuzzüge. Ein weiterer Ansatz, der heute als der popularistische bezeichnet wird, wurde von Paul Alphandéry und Alphonse Dupront in ihrem Buch La Chrétienté et l’idée de croisade (1954–1959) entwickelt. Darin legen die beiden französischen Mediävisten nahe, dass die Essenz der Kreuzzugsbewegung gerade in prophetischen, endzeitlich motivierten Bewegungen unter der Bauernschaft und den städtischen Unterschichten gelegen habe. Die freimütigste Herausforderung des traditionellen Standpunkts jedoch hatte zwar in den frühen 1950er-Jahren bereits in der Luft gelegen, offen ausgesprochen wurde sie jedoch erst in der 1977 erschienenen Studie What Were the Crusades? von Jonathan Riley-Smith. Die Anhänger der damals formulierten Idee nennt man heute Pluralisten. Sie vertreten die Ansicht, dass „echte“ Kreuzzüge nicht nur im östlichen Mittelmeerraum, sondern an vielen anderen Fronten stattgefunden haben. Es interessiert sie dabei weniger, welche Ziele ein bestimmter Kriegszug verfolgte; vielmehr fragen sie danach – in den Worten Giles Constables – „wie ein Kreuzzug angestoßen und organisiert wurde“. Zu diesem Zweck haben die pluralistischen Kreuzzugshistoriker ein Modell entwickelt, mit dessen Hilfe sich ein „echter Kreuzzug“ einwandfrei identifizieren lässt. Die dabei berücksichtigten Kriterien sind rechtlicher Natur, betreffen also den juristischen Status eines Feldzuges. Insbesondere zählt dazu eine Proklamation, durch die der Papst im Namen Christi zum Kreuzzug aufruft, einschließlich eines expliziten Verweises auf die Befreiung Jerusalems oder des Heiligen Landes, selbst wenn der betreffende Kreuzzug ganz woanders stattfand, und außerdem ein besonderes Gelübde, welches die Teilnehmer des Feldzuges ablegten, um in den Genuss bestimmter weltlicher und geistlicher Privilegien zu gelangen, namentlich des Ablasses.

Die pluralistische Sicht der Kreuzzüge entstand in den letzten Jahren einer Ära, die Interpretationsmodelle besonders liebte. Aber wie alle Modelle, so zerbricht auch dieses, sobald man sich vom Allgemeinen dem Besonderen zuwendet. Einige führende Historiker haben in der Zwischenzeit die anderen Definitionsansätze einer Neubewertung unterzogen, und der wissenschaftliche Nachwuchs hat sowieso eher geringes Interesse an einer Debatte, die ihren Höhepunkt vor etwa zwanzig Jahren erreicht und mittlerweile deutlich an Schwung verloren hat. Dennoch haben die Pluralisten eine nachhaltige Horizonterweiterung in der Kreuzzugsforschung bewirkt, sowohl im Raum als auch in der Zeit. Die Verfasser der meisten Überblicksdarstellungen hatten zuvor den Kreuzzügen nach 1291 nur geringen Raum eingeräumt, jenen nach 1464 gar keinen. Heutzutage ist es eigentlich schon fast die Norm, die See- und Landkampagnen gegen die Osmanen im 16., 17. und 18. Jahrhundert als eine Art von Kreuzzügen zu bewerten und außerdem den Beitrag der Kreuzzugsbewegung zur Errichtung überseeischer Großreiche (insbesondere im Falle Portugals) ganz neu zu bewerten. Aus Sicht der pluralistischen Interpretation steht der Kriegsschauplatz im Nahen Osten nun neben der Iberischen Halbinsel, dem inneren Westeuropa, dem Ostseeraum, dem Balkan und Nordafrika. Einzelstudien zu historischen Entwicklungen in jenen Gebieten ist damit ein entscheidender Impuls gegeben worden, zu dem auch Kreuzzugshistoriker beitragen konnten. Auch können nun sinnvolle vergleichende Studien beispielsweise zwischen der Iberischen Halbinsel und der Levante oder zwischen den Ordensstaaten Preußen und Rhodos angestellt werden. Ein weiteres Resultat des beschriebenen Perspektivenwechsels ist es, dass die Muslime im Gesamtbild nun etwas weniger prominent hervor- und hinter anderen damaligen Feindbildern zurücktreten – und das just zu einem Zeitpunkt, an dem die breite Öffentlichkeit, unter dem Eindruck dschihadistischer Propaganda, ihre Vorstellung von der Kreuzzugsbewegung als etwas wesentlich Anti-Islamischem bekräftigt gesehen hatte.

Die Kreuzzüge

Подняться наверх