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Ein Befreiungskrieg

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Urban rief zu einem Befreiungskrieg auf, der von Freiwilligen als Akt der Buße geführt werden sollte. Ein Teil dieser Botschaft spiegelte eine Gedankenwelt wider, in der fortschrittliche Kirchenmänner schon lange heimisch waren. In Frankreich, wo die Zentralgewalt des Königs gerade in die Brüche gegangen war, besaß sie eine besondere Relevanz. Die eigentliche Autorität wurde nicht mehr vom König ausgeübt, und sie ging in vielen Fällen auch nicht mehr vom Hochadel aus, sondern hatte sich aufgesplittert – in einem noch immer rätselhaft anmutenden Prozess, der aber womöglich etwas mit der Tatsache zu tun hatte, dass im 10. Jahrhundert eine ganz und gar auf Krieg getrimmte Gesellschaft gar nicht mehr anders konnte, als sich selbst zu zerfleischen. So waren viele französische Provinzen in kleinere Einheiten zerbrochen, die von Burgen aus regiert wurden, deren Herren und ihre Ritter die umliegenden Gegenden derart terrorisierten, dass sie zur einzigen Erscheinungsform von Autorität wurden, mit der viele Menschen jemals in Berührung gekommen waren: gewalttätig, willkürlich und fordernd. Die daraus resultierende Anarchie erzeugte ihrerseits nicht selten unkontrollierbare Gewalt.

Die Kirche hatte auf die Situation reagiert, indem sie sich an die Spitze einer pazifistischen Initiative gesetzt hatte, der sogenannten „Gottesfriedensbewegung“. Diese verlieh einer weitverbreiteten Besorgnis Ausdruck, indem sie große Versammlungen aller freien Männer einberief, die sich um Unmengen von Reliquien aus den Kirchen der Gegend herum scharten. Diese Versammlungen verfügten die Unantastbarkeit des Klerus und der Armen gegenüber jedweder Form von Gewalt und Ausbeutung und ver boten darüber hinaus jegliche Gewaltausübung zu bestimmten Zeiten des Jahres und an bestimmten Wochentagen. Man versuchte zunächst, die Burgherren und Ritter zur Einwilligung in diese Friedensartikel zu überreden – auch mit drohenden Worten. Es stellte sich jedoch heraus, dass sich jene nur mit Gewalt überzeugen ließen, und so erwuchsen aus der Gottesfriedensbewegung ihrerseits Militäraktionen gegen Friedensbrecher, geführt im Namen einzelner Kleriker, die – wenn sie Bischöfe oder Äbte waren – durchaus über eigene Kontingente von Rittern verfügten.

In Frankreich war die Gottesfriedensbewegung bis in die 1090er-Jahre abgeebbt. Zuvor hatte sie sich allerdings noch nach den deutschen Territorien des Heiligen Römischen Reiches hin ausgebreitet, das zu zersplittern drohte. Die Tatsache, dass die Gottesfriedensbewegung in Frankreich aus Anlass des Ersten Kreuzzuges wiederbelebt wurde, lässt erahnen, wie groß die Angst Urbans und anderer Würdenträger gewesen sein muss, in der Heimat könnte die Anarchie ausbrechen, wenn der Hochadel erst einmal zum Kreuzzug in den Orient aufgebrochen war. Jedenfalls war aus der Gottesfriedensbewegung die Überzeugung erwachsen, dieselbe Gewalt, die den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung herbeigeführt hatte, könne auch zu gottgefälligen Zwecken eingesetzt werden, wenn sich nur die Laienschaft dazu bewegen ließe, ihre Kräfte zu bündeln und in den Dienst der Kirche zu stellen. In ganz Europa wandten sich Kirchenmänner mit der Bitte um militärische Unterstützung an Laien, während sich insbesondere die Hausgeistlichen des Adels bemühten, die christliche Lehre so zu formulieren, dass ihre Brotherren und deren Gefolge sie auch verstehen würden: Sie griffen auf heroische und martialische Geschichten des Alten Testaments und christlicher Heiligenlegenden zurück, um ihr Publikum zu fesseln. Ihre Mühen wurden insofern belohnt, als die Gesellschaft des späten 11. Jahrhunderts zwar noch immer eine gewalttätige war, aber dennoch nicht annähernd so gewalttätig wie noch einige Zeit zuvor. Auch gab es Anzeichen wachsender und vor allem öffentlich bekundeter Frömmigkeit unter den bewaffneten Schichten. Obwohl die Kirche mit ihren Aufrufen zum bewaffneten Beistand vor 1095 nicht gerade erfolgreich gewesen war, wirkte ihr Flehen schließlich doch noch auf die Bestrebungen der Laienschaft ein und erzielte den gewünschten Erfolg: Die allgemein positive Reaktion auf Urbans Aufruf kam einem plötzlichen Handschlag der beiden Seiten gleich, nachdem die Kirche den Laien schon so lange ihre Hand entgegengestreckt hatte. Sicher ist es kein Zufall, dass der Papst, der dieses Übereinkommen ins Werk gesetzt hatte, selbst dem Adel, also jener Gesellschaftsschicht entstammte, die von der Kirche am heftigsten umworben worden war.

Die beteiligten Kirchenmänner waren inspiriert von einer Reformbewegung, die schon die vorangegangenen fünfzig Jahre dominiert hatte: ein halbes Jahrhundert, das unter die bemerkenswertesten Abschnitte in der Geschichte des Christentums zählt. Die Reformer wollten die Kirche von korrupten Praktiken befreien, die sie auf einen allzu großen Einfluss der Laien auf innerkirchliche Angelegenheiten zurückführten. Ihnen schwebte eine schlichtere, authentischere Institution vor, die der frühen Kirche ähnelte, wie sie ihnen aus der Apostelgeschichte bekannt war. Und da die meisten dieser Reformer Mönche waren, die parallel zu – und tatsächlich schon vor – der allgemeineren Kirchenreformbewegung auf eine Reform des Mönchtums gedrungen hatten, sahen sie diese frühe Kirche aus einer klar mönchisch geprägten Perspektive. Ohne zu übertreiben, könnte man ihre Absichten auf den folgenden Nenner bringen: Sie wollten das christliche Abendland in ein einziges großes Kloster verwandeln und träumten von einem Klerus, der – zölibatär und unbefleckt von den Wertmaßstäben dieser Welt – die Seelsorge einer Laienschaft auf sich nahm, die so weit wie möglich ihre Lebensführung und ihren Kultus ganz den klösterlichen Idealen angepasst hatte. Es ist bemerkenswert, wie viel Energie für die Umsetzung dieses Traums aufgewandt wurde. Ebenso bemerkenswert war der Elan, mit dem die Reformer überall im Land den Bau von Pfarrkirchen vorantrieben und so auch eine ganz handfeste, physisch greifbare Umgestaltung der kirchlichen Lebenswelt erreichten. Jede dieser neu errichteten Kirchen sollte im Grunde eine große Klosterkapelle für eine Kongregation von Laien darstellen. Und bemerkenswert war schließlich auch ihre Geisteskraft, die unter den Reformern zu einer Blüte der Gelehrsamkeit führte, insbesondere auf den Gebieten der Grammatik, des Geschichtsstudiums und des Kirchenrechts, denn unter Rückgriff darauf suchten sie ihre Reformkampagne zu legitimieren. Doch am allererstaunlichsten war die Art und Weise, mit der sich das Papsttum von diesen neuen Lehren gefangen nehmen ließ – aber nicht zufällig waren so viele Päpste jener Zeit, bevor sie auf den Stuhl Petri gelangten, selbst Mönche gewesen. Während des Großteils seiner zweitausendjährigen Geschichte ist das Papsttum nicht gerade ein Vorkämpfer von Reformen gewesen. Wohl haben Päpste bisweilen Reformer unterstützt, oder sie haben sich an die Spitze einer Reformbewegung gesetzt, die bereits in Gang gekommen war, um diese unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch nur ein einziges Mal, im späten 11. Jahrhundert, kann die Rede davon sein, dass die Päpste die eigentlichen Anführer einer radikalen Parteiung innerhalb der Kirche gewesen sind – eine beflügelnde, aber auch eine gefährlich exponierte Position.

Wenn Urban nun zur „Befreiung“ aufrief, so bediente er sich eines Begriffs, der durch seine Verwendung seitens der Reformer in den vorangegangenen fünfzig Jahren eine bestimmte Färbung erhalten hatte: die eines übertriebenen Freiheitsverständnisses, das in großen exempten (das heißt von Abgaben befreiten) Klöstern wie etwa Cluny auf der Hand gelegen haben mochte – schließlich genossen diese Klöster Freiheiten, die ihnen vom Heiligen Stuhl gewährt worden waren und die sie der Autorität von Bischöfen und Königen enthoben. Dieser „Befreiungsdruck“ hatte im Westen bereits zu Gewaltausbrüchen geführt. Seit über 40 Jahren schon hatten die Päpste die Anwendung von Gewalt gegen jene, die sich den neuen Ideen widersetzten, gebilligt. Dies war besonders augenfällig geworden, als um 1080 eine Gruppe deutscher Adliger Papst Gregor VII. in eine bewaffnete Auseinandersetzung mit ihrem König, dem designierten römisch-deutschen Kaiser Heinrich IV., hineingezogen hatte. Dieser Krieg hatte in der Folge auch auf Italien übergegriffen, Gregor war aus Rom vertrieben worden, und ein Gegenpapst – Clemens III. – war auf den Stuhl Petri gekommen. Infolgedessen hatte Urban sein Pontifikat im Exil antreten müssen. Der wachsende Erfolg, mit dem er sich nach und nach wieder eine breite Unterstützung erwarb, gipfelte schließlich 1094 in seiner Rückkehr nach Rom sowie in der Synode von Piacenza selbst, an der eine große Anzahl von Bischöfen sowie eine beträchtliche Menge von Vertretern weltlicher Mächte teilnahmen.

Da der Aufruf zur Befreiung schon innerhalb der lateinischen Kirche zur Anwendung „befreiender“ Gewalt geführt hatte, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis diese sich auch auf Gebiete ausdehnte, in denen Christen sehr viel stärker zu leiden hatten als ihre Brüder im Westen. Urban gebrauchte den Begriff „Befreiung“ (liberatio) hinsichtlich der Invasion Siziliens durch den normannischen Grafen Roger und ebenso mit Blick auf die Rückeroberung Spaniens und Portugals. Dort hatten christliche Heere schon im 8. Jahrhundert begonnen, an muslimische Besatzer gefallene Territorien zurückzuerobern. Die Einnahme von Toledo im Jahr 1085 war eine Sensation. Zugleich war eines ganz klar – und der oben erwähnte Vorschlag Gregors VII. aus dem Jahr 1074, ein Heer nach Jerusalem zu entsenden, hat es bereits deutlich gezeigt: Wann immer die Kirchenreformer, denen ja ständige Verweise auf die Stadt Jerusalem aus dem Psalmengesang ihres klösterlichen Chorgebets nur zu vertraut waren, an den (christlichen) Osten dachten, wanderten ihre Gedanken beinahe zwangsläufig in Richtung der Heiligen Stadt. So gesehen, bedurfte der Erste Kreuzzug fast gar keines konkreten Kriegsgrundes; die Eigendynamik der Reformbewegung hätte ihn vermutlich früher oder später sowieso herbeigeführt.

Papst Urban rief 1095 zu einem Kriegszug mit zwei unterschiedlichen Befreiungszielen auf. Das erste war die Befreiung der Ostkirchen (und insbesondere des Patriarchats von Jerusalem) von muslimischer Herrschaft. Dabei ging es um die Befreiung von Menschen, getauften Gliedern der Kirche. Offenbar hat Urban damals ein allzu entsetzliches Szenario vom Leben unter muslimischer Herrschaft entworfen; auch hat er wohl die Gefahr übertrieben, die von den Türken zum damaligen Zeitpunkt für Konstantinopel ausging (wenn diese den Byzantinern selbst auch deutlich genug vor Augen gestanden haben muss). Das zweite Ziel war die Befreiung des Heiligen Grabes in Jerusalem, eines bestimmten Ortes also, der die Kreuzfahrer wesentlich stärker motivierte als der Gedanke der Befreiung ihrer Brüder und Schwestern.

Klar ist, dass Urban die Befreiung der Christen im Osten an diejenige der ganzen Kirche gekoppelt hat. In dieser Hinsicht war er wie seine Amtsvorgänger, die ebenfalls die Befreiung bestimmter Gruppen von Gläubigen in den Zusammenhang einer umfassenderen Erneuerung der Kirche als Ganzer gestellt hatten. Es gab allerdings auch noch einen weiteren Faktor, der es Urban unmöglich machte, den Kreuzzug als ein isoliertes Phänomen zu betrachten: Die Ostgrenze der Christenheit war nicht die einzige, die in den Jahrzehnten zuvor gebröckelt hatte, denn dies gilt auch für die südwestliche Grenze zum islamischen Machtbereich auf der Iberischen Halbinsel. Nach dem Zusammenbruch des Umayyadenkalifats von Córdoba im Jahr 1031 war das maurische Spanien in eine Vielzahl konkurrierender Kleinkönigreiche zerfallen. Als im späten 11. Jahrhundert der christliche Druck auf sie zuzunehmen begann, bemühten sich ihre „Mini-Emire“ um die Unterstützung des nordafrikanischen Almoravidenherrschers Ibn Taschfin. Die Almoraviden, die von ihrer Hauptstadt Marrakesch aus ein mächtiges Reich beherrschten, waren eine militante sunnitische Bewegung unter den Berberstämmen Nordafrikas und galten als ganz besonders eifrig, puritanisch und intolerant. Sie setzten nach Spanien über, eroberten es und besiegten 1086 die Christen bei Zallaqa (nahe dem heutigen Sagrajas in der Extremadura). Anschließend fuhren Wagenladungen voller Köpfe, die christlichen Kämpfern abgeschlagen worden waren, durch ganz Spanien und Nordafrika, um den Muslimen zu zeigen, dass die Ungläubigen keinen Grund zur Beunruhigung darstellten. Als Reaktion zogen 1087 französische Stoßtrupps (denen auch etliche spätere Kreuzfahrer angehörten) gegen almoravidische Stützpunkte; diese Kampagne führte jedoch zu keinem nennenswerten Ergebnis.

Es überrascht also nicht, dass auch Urban ein aufmerksames Auge auf die Iberische Halbinsel geworfen hatte. Fast von Beginn seines Pontifikats an hatte er einen Feldzug zur Rückeroberung von Tarragona nicht nur enthusiastisch unterstützt: Es spricht auch einiges dafür, dass er ihn selbst initiiert hat. Tarragona war damals eine Geisterstadt im Niemandsland, an der Mittelmeerküste knapp achtzig Kilometer südwestlich von Barcelona entfernt gelegen. Der Graf von Barcelona, den man ermutigt hatte, Tarragona einzunehmen, überschrieb es schließlich dem Papst als „ein Land des heiligen Petrus“. Urban ernannte einen Erzbischof von Tarragona, betrieb die Besiedlung, spornte die Würdenträger der Region an, die Stadt wieder aufzubauen – „in Buße und zur Vergebung der Sünden“ – und schlug vor, dass jene, die eine Pilgerreise nach Jerusalem beabsichtigten, ihre Mühen und ihr Geld doch lieber für die Wiederherstellung Tarragonas einbringen sollten, was ihnen, wie der Papst versicherte, den gleichen Nutzen für ihr Seelenheil bringen werde. Als Urban später zu Ohren kam, dass auch Katalanen für die Befreiung Jerusalems das Kreuz genommen hatten, befahl er ihnen, zu Hause zu bleiben, wo sie, wie er ihnen versprach, ihre Kreuzzugsgelübde würden ebenso gut erfüllen können, „denn es zeugt nicht von Tugend, Christen an dem einen Ort vor den Muslimen zu erretten, nur um sie der Tyrannei und Unterdrückung durch die Muslime an einem anderen Orte auszuliefern“. Und obgleich diese Bemühungen geradezu grandios scheiterten – immerhin wurden Urbans Zeilen von mindestens zweien der vier Grafen, an die sie gerichtet waren, geflissentlich ignoriert –, ließ der Papst nicht davon ab, seinen geplanten Kriegszug in das Heilige Land mit der spanischen Reconquista gleichzusetzen. Die meisten Historiker interpretieren Urbans Worte nicht als erstes Abweichen des Kreuzzugsdankens auf einen anderen als den nahöstlichen Kriegsschauplatz; aber zumindest hatte er, der Begründer der Kreuzzugsbewegung, mit ihnen die Grundlagen für die späteren Kreuzzüge auf der Iberischen Halbinsel geschaffen – aus der Motivation heraus, einer Initiative zum Erfolg zu verhelfen, die dem Aufruf zum Kreuzzug zeitlich vorausgegangen war.

Früher konnte man häufiger die Meinung hören, die Eroberung Jerusalems sei als Intention des Ersten Kreuzzuges nur zweitrangig gewesen – vielleicht ein langfristiges Ziel. Viel eher habe Urban mit seinem Aufruf zum Kreuzzug in den Osten den griechischen Christen gegen die Türken beistehen wollen, um die Beziehungen des Heiligen Stuhls zum Patriarchat von Konstantinopel zu verbessern. Die Hinweise darauf, dass Jerusalem von Anfang an eine überragende Rolle gespielt hat, sind jedoch überwältigend: in den Berichten von Urbans Predigtreise, in den Entscheidungen des Konzils von Clermont und in den Urkunden von Kreuzfahrern, die sich auf den Weg machten. Außerdem wissen wir heute, dass zu einer Zeit, in der das christliche Interesse an der Stadt Jerusalem – oder besser gesagt an dem leeren Grab Christi in ihren Mauern – geradezu fanatische Züge angenommen hatte, der byzantinische Kaiser Alexios diesen Fanatismus noch angefacht hatte, indem er westliche Adlige mit der Aussicht auf die Befreiung Jerusalems lockte.

Die Kreuzzüge

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