Читать книгу Die Kreuzzüge - Jonathan Riley-Smith - Страница 33

Die zweite Welle: Von Konstantinopel nach Antiochia

Оглавление

Es scheint, dass die meisten Anführer des Kreuzzuges von den Griechen eine vollwertige Beteiligung an dem geplanten Feldzug erwarteten. Im Frühjahr 1097 besprach Kaiser Alexios mit Gottfried von Bouillon, Robert von Flandern, Bohemund und vielleicht auch Hugo von Vermandois die folgende Möglichkeit: Er, Alexios, könne selbst das Kreuzzugsgelübde ablegen und den Oberbefehl übernehmen. Das mag bloßes Taktieren des byzantinischen Kaisers gewesen sein, denn als Raimund von Toulouse eintraf und erklärte, er werde sich dem byzantinischen Kaiser nur dann unterordnen, wenn dieser auch wirklich das Kommando übernehme, entschuldigte sich Alexios mit der Erklärung, er werde dringend in Konstantinopel gebraucht. Zwar sollte es später, bei der Belagerung von Nicäa, durchaus zu einer Zusammenarbeit von Griechen und Lateinern kommen; auch gab es eine Beteiligung griechischer Truppen bis zum Erreichen Antiochias, die insofern von Vorteil war, als der byzantinische Befehlshaber – ein hellenisierter Türke und erfahrener Feldherr namens Tatikios – den Kreuzfahrern einheimische Führer zur Seite stellte; aber dennoch blieben, nachdem Tatikios im Januar 1098 von seinem Posten abberufen worden war, nur einige wenige byzantinische Offiziere und Geistliche zur Unterstützung der Kreuzfahrer zurück. Dafür unternahm es im Kielwasser des Kreuzfahrerheeres eine byzantinische Streitmacht, den Machtbereich ihres Kaisers wieder über die kleinasiatische Küste bis nach Antalya auszudehnen. Bis zum Juni 1098 war Alexios allerdings mit seinem Heer aus Griechen und frisch eingetroffenen Kreuzfahrern gerade einmal bis Akşehir vorgedrungen und hatte also weniger als die Hälfte des Weges von Konstantinopel nach Antiochia zurückgelegt. Falschmeldungen über die Lage in Antiochia sowie Gerüchte über die Massierung eines mächtigen türkischen Heeres in Anatolien veranlassten den Kaiser jedoch, sich selbst aus Akşehir noch zurückzuziehen und die Kreuzfahrer ihrem Schicksal zu überlassen. Bis zum Sommer 1098 hatte sich die griechische Unterstützung für den Kreuzzug also als im besten Falle halbherzig erwiesen.

Was Kaiser Alexios betraf, waren ihm andere Angelegenheiten viel wichtiger. So war seine eigene Position in Konstantinopel gefährdet – erst zwei Jahre zuvor war ein Attentat auf ihn vereitelt worden, zu dem sich einige führende Männer am Kaiserhof verschworen hatten –, und die Unterstützung, die nun bei ihm eingetroffen war, unterschied sich ganz gehörig von dem, was er sich vorgestellt hatte. Die Kreuzfahrer hatten ihm bereits auf ihrem Marsch über den Balkan und bis vor die Tore von Konstantinopel genug Ärger bereitet, weshalb er ihnen in der Folge zutiefst misstraute. Das galt insbesondere für Bohemund von Tarent; ihn und die anderen Anführer des Kreuzfahrerheeres versuchte Alexios daher möglichst weitgehend zu kontrollieren.

Es scheint, dass er im Herbst 1096, Hugo von Vermandois war gerade als Geisel bei ihm „zu Gast“, auf eine geeignete Strategie verfiel: Er wollte die Anführer der Kreuzfahrer voneinander isolieren, um sich jedem von ihnen einzeln widmen zu können – Alexios’ Tochter Anna schrieb, dass ihr Vater einen Angriff auf Konstantinopel befürchtete, wenn sie sich zusammenschlössen – und verlangte von jedem der Anführer zwei Eide auf ihr friedliches Verhalten den Byzantinern gegenüber. Im Gegenzug zahlte er den Kreuzfahrern große Geldsummen, was jedoch nicht überbewertet werden sollte, da jene ja verpflichtet waren, sich auf den Märkten des Byzantinischen Reiches gegen Bezahlung mit Proviant einzudecken. Die Kreuzfahrer waren natürlich heilfroh, überhaupt etwas zu bekommen, und befanden sich in benachteiligter Verhandlungsposition, zumal es für sie nur eine einzige Alternative gab, sollten sie nicht auf die Forderungen des Kaisers eingehen, nämlich die Rückreise in ihre Heimat.

Der erste der erwähnten Eide enthielt das Versprechen, dem Byzantinischen Reich all jene von den Muslimen eroberten Gebiete zu überlassen, die sich einst unter byzantinischer Kontrolle befunden hatten. Dies verschaffte Alexios einen stichhaltigen Anspruch auf weite Teile der zur Eroberung in Frage kommenden Gegenden, hatten die Kreuzfahrer doch offenkundig nicht die Absicht, in Gebiete vorzudringen, die noch niemals in christlicher Hand gewesen waren. Der zweite war ein Huldigungs- und Gefolgschaftseid, der einigen westlichen Abhängigkeitsverträgen ähnelte, deren Annahme nicht durch die Gewährung eines Lehens vergolten wurde. Diese Treueverpflichtung gewährte Alexios ein – freilich begrenztes – Maß an Einfluss und Kontrolle.

Die Reaktionen der Kreuzfahrer auf die in diesen Eiden formulierten Forderungen des Kaisers waren verschieden. Der normannische Herzog Robert, Robert von Flandern, Stephan von Blois und – so weit wir wissen – Hugo von Vermandois erhoben keine oder keine gravierenden Einwände. Gottfried von Bouillon und Raimund von Toulouse jedoch protestierten und im Gegensatz zu Bohemund von Tarent auch dessen Stellvertreter und Neffe Tankred – und enthüllten so vielleicht, was Bohemund wirklich dachte. Man hat vermutet, es sei kein Zufall gewesen, dass die Spaltung der Kreuzzugsführung, die sich in Konstantinopel abzeichnete, für den Rest des Feldzuges anhielt und dass es später die Verweigerer des Eides waren, die sich in Palästina ansiedelten; allerdings war es zu dem betreffenden Zeitpunkt alles andere als klar, wer von den Kreuzfahrern sich einmal in der Levante niederlassen würde, und daher ist es sinnvoller, die individuelle Lage der einzelnen Anführer der Reihe nach zu betrachten.

Hugo von Vermandois war, als ihm die Eide abverlangt wurden, mehr oder weniger ein Gefangener des Kaisers Alexios. Außerdem war er praktisch auf sich allein gestellt. Was Gottfried von Bouillon anbelangt, so wurde bereits darauf hingewiesen, dass er 1096 mit dem festen Vorsatz aufgebrochen war, eines Tages nach Europa zurückzukehren – jedenfalls, sofern ihm der Osten nicht etwas Besseres bieten konnte. Daher ist es unwahrscheinlich, dass er sich durch die Eide in seinen zukünftigen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sah. Vielmehr war er misstrauisch geworden: Konnte es nicht vielleicht sein, dass man Hugo von Vermandois das Einverständnis abgepresst hatte – womöglich unter Folter? Daher war Gottfried nicht gewillt, irgendwelche weiteren Schritte zu unternehmen, solange er sich nicht mit den anderen Heerführern – deren Ankunft täglich erwartet wurde – beraten hatte. Kaiser Alexios setzte ihn unter Druck, indem er die Versorgung Gottfrieds und seiner Männer einstellte. Gottfried erwiderte diesen Angriff auf das Wohlergehen seiner Truppe, indem er seinem Bruder Balduin erlaubte, mit seinen Männern die Vorstädte von Konstantinopel zu plündern. Daraufh in stellten die Griechen die Versorgung wieder her.

Es folgten drei Monate relativer Ruhe, bis Alexios, der Nachricht von der bevorstehenden Ankunft weiterer westlicher Kontingente erhalten hatte, die Lebensmittelversorgung der Kreuzfahrer wiederum unterbrach. Und wieder antworteten diese mit Gewalt, dem einzigen Mittel, das ihnen zur Verfügung stand. Dies gipfelte in einem großangelegten Angriff am Gründonnerstag, der von den Griechen jedoch zurückgeschlagen wurde. Gottfried von Bouillon muss in dieser verzweifelten Lage klar geworden sein, dass Gewalt ihm und seinen Leuten nicht die nötige Verproviantierung einbringen würde, und so legten er und seine vornehmsten Gefolgsleute die von Alexios eingeforderten Eide ab. Unverzüglich wurden Gottfrieds Truppen auf die andere Seite des Bosporus gebracht, wo sie keinen weiteren Schaden anrichten konnten.

Als Bohemund von Tarent in Konstantinopel ankam, hatte Alexios also bereits Hugo von Vermandois und Gottfried von Bouillon dazu gebracht, ihm die geforderten Eide zu leisten. Bohemund konnte daher nicht rundweg ablehnen, es seinen Waffenbrüdern gleichzutun, obwohl es seinem Neffen Tankred gelang, sich durch Konstantinopel zu stehlen, ohne der Forderung des Kaisers nachzukommen. Bohemund war in einer verzwickten Lage, und sein Gefolge war vergleichsweise klein. Wenn die überlieferte Behauptung der Wahrheit entspricht, er habe sich erfolglos um den Posten des megas domestikos, des Oberbefehlshabers der byzantinischen Armee, beworben, dann war dies, von seiner Warte aus betrachtet, ein verständlicher Schachzug, hätte er doch auf diese Weise eine angemessene militärische Unterstützung des Kreuzzuges durch die Griechen sicherstellen können.

Raimund von Toulouse hatte möglicherweise geschworen, nie wieder in seine Heimat zurückzukehren. Daher ist es gut möglich, dass er auf ein eigenes Fürstentum im Osten gehofft hat. Allerdings war ihm eher der Huldigungs- und Gefolgschaftseid ein Dorn im Auge, nicht so sehr das Versprechen, den Byzantinern Gebiete zurückzuerstatten. Anscheinend war Raimund der Ansicht, ein solcher Eid auf den byzantinischen Kaiser wäre mit seinem Kreuzzugsgelübde, auf seiner Reise Gott allein zu dienen, nicht zu vereinbaren. Das irritierte seine Gefährten stark, und sie bemühten sich, ihn umzustimmen – aber vergebens: Raimund weigerte sich. Schließlich ging er doch einen Kompromiss ein, indem er einen eingeschränkten Eid schwor und versprach, dass er des Kaisers Leben und Ehre achten und schützen werde; ähnliche Schwurformeln sind aus seiner südfranzösischen Heimat überliefert.

Von der Reaktion Roberts von Flandern wissen wir nichts, aber zu der Zeit, als Herzog Robert von der Normandie und Stephan von Blois in Konstantinopel eintrafen, hatten die geschilderten Präzedenzfälle zur Folge, dass die Neuankömmlinge sich diesen eigentlich nur anschließen konnten, ob sie nun wollten oder nicht. Vom April 1097 an wurden die westlichen Truppenkontingente nach und nach über den Bosporus gesetzt; Anfang Juni schlossen sie sich vor Nicäa, der ersten bedeutenden Stadt Kleinasiens in türkischer Hand, zu einem großen Kreuzfahrerheer zusammen.

Die Ereignisse von Konstantinopel ließen die Anführer des Kreuzzuges frustriert und desillusioniert zurück. Nach einem langen und kräftezehrenden Marsch waren sie dort angekommen, ohne Vorräte und in Unsicherheit über die zukünftige Rolle der Griechen. Alexios zögerte, die Bürde des Oberbefehls auf sich zu nehmen. Eigentlich ging es ihm wohl ausschließlich um die Restitution ehemals byzantinischer Territorien – was, wie man fairerweise sagen muss, von Anfang an seine erklärte Priorität gewesen war –, und er wirkte entschlossen, jedes ihm zur Verfügung stehende Mittel einzusetzen – von freigebigen Geschenken bis zur Verweigerung der Proviantierung –, um die einzelnen Heerführer zum Treueschwur zu zwingen, bevor ihre Mitstreiter eintrafen. Und obwohl Alexios ihnen allen große Geldgeschenke machte, sollten diese doch nur zum Provianterwerb auf byzantinischen Märkten eingesetzt werden. Kein Wunder, dass von jener Zeit an die meisten Kreuzfahrer der kaiserlich-byzantinischen Regierung misstrauisch bis feindselig gegenüberstanden.

Obwohl die meisten seiner Einwohner noch immer dem christlichen Glauben anhingen, war Nicäa doch schon seit einiger Zeit die Hauptresidenz von Kilidsch Arslan, dem Sultan der Rumseldschuken und mächtigsten türkischen Herrscher von ganz Anatolien. Die Einnahme der Stadt war absolut unerlässlich, wollten die Kreuzfahrer entlang der alten römischen Militärstraße nach Osten weitermarschieren. Nicäa war von den Griechen umfassend befestigt worden und beherbergte nun eine stattliche türkische Garnison. Doch Kilidsch Arslan selbst war mit dem Großteil seiner Truppen auf einem Feldzug unterwegs, um seinem Hauptrivalen, einem Emir namens Danischmend Ghazi, die Gegend um Malatya in Ostanatolien streitig zu machen. Noch bevor die ersten seldschukischen Truppen zur Verteidigung ihrer Hauptstadt zurückeilen konnten, gelang es dem Kreuzfahrerheer, Nicäa einzuschließen. Am 21. Mai versuchte Kilidsch Arslan vergeblich, mit dem Hauptteil seiner Streitmacht die Linien der Kreuzfahrer zu durchbrechen. Der Seldschukensultan zog sich zurück und überließ die Stadt, seine Ehefrau, seine Familie und einen Großteil seines Vermögens dem Schicksal. Erst als griechische Schiffe auf dem Askania-See (heute Iznik Gölü), an dessen Ostufer Nicäa lag, zu Wasser gelassen worden waren, war die Stadt eingeschlossen. Der Befehlshaber der seldschukischen Garnison nahm Verhandlungen mit den Byzantinern auf, und am 19. Juni – dem Tag, der eigentlich für einen Generalangriff der Belagerer vorgesehen gewesen war – sahen die Kreuzfahrer die Banner des byzantinischen Kaisers auf den Türmen der Stadt. Alexios hatte jedwede Peinlichkeit vermieden, indem er dafür sorgte, dass Nicäa sich direkt ihm ergab; dennoch nutzte er die Gelegenheit, auch von jenen Anführern der Kreuzfahrer die von ihm verlangten Eide zu erhalten, die sich – wie etwa Tankred – bislang vor diesem Schwur gedrückt hatten.

Die Kreuzfahrer müssen zu jenem Zeitpunkt bereits die überaus mutige Entscheidung getroffen haben, auf eigene Faust weiter in das Landesinnere vorzustoßen, ohne nennenswerte militärische oder logistische Unterstützung, bis sie Syrien erreichten. Zwischen dem 26. und dem 28. Juni machten sie sich in zwei großen Marschverbänden auf den Weg durch Kleinasien. Die erste Abteilung stand unter dem Befehl Bohemunds von Tarent und setzte sich aus den italienischen und französischen Normannen, einigen Griechen sowie den Gefolgsleuten Roberts von Flandern und Stephans von Blois zusammen. Die zweite Abteilung wurde von Raimund von Toulouse befehligt; zu ihr gehörten die Kreuzfahrer aus Südfrankreich und Lothringen sowie die Männer Hugos von Vermandois. Unterwegs müssen die beiden Gruppen den Kontakt verloren haben – die Gründe sind heute genauso unklar wie damals, als noch ein Jahrzehnt später in Syrien darüber diskutiert wurde.

Im Morgengrauen des 1. Juli 1097 überfielen die Truppen Kilidsch Arslans das Kreuzfahrerheer, das sie gemeinsam mit Einheiten anderer türkischer Heerführer im Schutz der Nacht umzingelt hatten. Durch die doppelte Wucht von Angriff und Überraschungseffekt wurden die Kreuzritter gegen die Masse der sie begleitenden, bewaffneten wie unbewaffneten Pilger zurückgeworfen. Dieser wirre Haufen entsetzter Männer konnte zwar nicht zu einem geordneten Gegenangriff ansetzen, aber er konnte sich recht effektiv verteidigen. So kam es, dass die Schlacht für einige Stunden unentschieden blieb, bis die zweite Marschabteilung des Kreuzfahrerheeres eintraf – wegen der großen Eile in einzelnen Trupps, die nach Kräften versuchten, Bohemunds Männern Hilfe zu bringen, und denen es schließlich auch gelang, die nun ihrerseits überraschten Türken in die Flucht zu schlagen.

Danach rasteten die Kreuzfahrer zwei Tage lang. Dann nahmen sie ihren Marsch wieder auf und rückten über Akşehir und Konya durch eine Gegend vor, die bereits durch frühere türkische Einfälle verwüstet worden war, von der auf byzantinischer Seite verfolgten Strategie der verbrannten Erde ganz zu schweigen. Auf ihrem Marsch von 105 Tagen (inklusive 15 Rasttagen) brachten sie es im Mittel auf etwa acht Meilen am Tag – kein schlechter Schnitt, wenn man bedenkt, wie viele Unbewaffnete mit ihnen unterwegs waren. Bei Herakleia Kybistra (heute Ereğli in der Provinz Konya) schlugen sie etwa am 10. September eine feindliche Streitmacht, die ihnen den Weg versperrte, in die Flucht. Tankred und Balduin von Boulogne setzten sich mit ihren Truppen ab, um auf dem Marsch durch Kilikien zu plündern, wobei sie sich einer Reihe armenischer Kleinfürstentümer bedienten, deren Herrscher sich hier, weitab von ihrem angestammten Heimatland, aus dem Chaos der vergangenen Jahrzehnte heraus eine Existenz aufgebaut hatten. Tankred und Balduin arbeiteten zwar nicht zusammen, aber ihr von Streitereien geprägter Vormarsch wurde von der armenischen Bevölkerung begrüßt. Im Nu nahmen sie Tarsus, Adana, Misis (das heutige Yakapınar) und Alexandretta (Iskenderun) ein und stießen dann wieder zum Hauptheer. Unmittelbar darauf brach Balduin jedoch mit einer kleinen Streitmacht wieder auf und zog – geleitet von einem armenischen Berater, der sich ihm angeschlossen hatte – entlang der Kette armenischer Fürstentümer in Richtung Osten. Mit der Unterstützung ortsansässiger Armenier nahm er zwei Festungen ein, Ravanda und Tilbeşar, und wurde daraufhin von Thoros, dem Fürsten von Edessa (Urfa) eingeladen, sein Adoptivsohn und Mitregent zu werden. Thoros hatte sich nämlich erst vor Kurzem als Herrscher von Edessa etabliert; seine Machtposition war alles andere als gesichert. Am 6. Februar 1098 erreichte Balduin Edessa, doch einen Monat später brach in der Stadt – womöglich mit Balduins heimlichem Einverständnis – ein Aufstand der Armenier los. Am 9. März wurde Thoros von einer wütenden Menschenmenge getötet, als er gerade fliehen wollte; tags darauf übernahm Balduin von Boulogne die Regierungsgeschäfte. So errichtete er die erste lateinische Herrschaft im Osten, die sich auf Edessa, die Festungen Ravanda und Tilbeşar sowie – einige Monate später – auf Birtha (Birecik), Sürüc und Samosata (Samsat) erstreckte.

Diese Gegend war wohlhabend, und ab dem Herbst des Jahres 1098 bezogen die Kreuzfahrer in Antiochia von hier große Mengen an Geld und Pferden. Balduin überließ seinem Bruder Gottfried von Bouillon die Burg und die Ländereien von Tilbeşar. Noch in den späteren Phasen des Kreuzzuges war Gottfrieds auf diese Weise gewonnener (relativer) Reichtum offenkundig. Es war nämlich dieses Vermögen, das es Gottfried gestattete, die Zahl seiner Gefolgsleute zu erhöhen – vor allem auf Kosten Raimunds von Toulouse –, und dieser Umstand wiederum könnte zu seiner Wahl als Herrscher von Jerusalem entscheidend beigetragen haben. Wie wir noch sehen werden, trug Balduin in Edessa noch auf andere Weise zur Unterstützung des Kreuzzuges bei, und das in einem entscheidenden Moment. Vorderhand erscheint jedoch Folgendes bemerkenswert: Obwohl sich die Griechen erst später bitter darüber beklagten, dass die Kreuzfahrer ihre Eide brächen, indem sie sich weigerten, Antiochia an das Byzantinische Reich zurückzugeben, gab es auch in diesem Fall keinerlei Anstalten, Tarsus, Adana, Misis, Alexandretta, Ravanda, Tilbeşar oder Edessa zurückzugeben – die früher alle einmal unter byzantinischer Herrschaft gestanden hatten –, ja es wurde noch nicht einmal die byzantinische Lehnshoheit anerkannt. Allerdings waren die Griechen ja auch weit, weit entfernt. Die einzige Abteilung der Griechen auf diesem Kreuzzug marschierte noch immer im Hauptheer mit. Als die Kreuzfahrer die Stadt Komana in Kappadokien erreichten und sie einem der Ritter aus ihrem Heer überließen, scheinen sie sich noch an ihre Eide erinnert zu haben: Der bei dieser Gelegenheit geleistete Schwur verpflichtete den Ritter, über Komana „in Treue zu Gott und dem Heiligen Grab und den Herren [des Kreuzzuges] und dem [byzantinischen] Kaiser“ zu herrschen – aber Komana war weit entfernt von Edessa, und die offenkundige Weigerung Tankreds und Balduins, eine byzantinische Oberhoheit auch nur in Betracht zu ziehen, war ein Fingerzeig auf die Zukunft.

Den Anführern des Hauptheeres muss indessen klar gewesen sein, dass ein Marsch durch die „Kilikische Pforte“, den wichtigsten Pass durch das Taurusgebirge, und insbesondere durch die „Syrische Pforte“, den Belen-Pass über das Amanusgebirge nördlich von Antiochia, kaum möglich sein würde, wenn diese beiden Engstellen adäquat verteidigt wurden. Sie marschierten deshalb lieber die zusätzlichen 280 Kilometer in nördlicher Richtung nach Kayseri (dem antiken Caesarea) und dann, nach Südosten gewendet, über Komana und Koksen (Göksun) nach Maraş (Kahramanmaraş), wodurch sie das Amanusgebirge zum größten Teil umgingen. So gelangten sie schließlich auf die offene Ebene nördlich von Antiochia, das sie am 21. Oktober erreichten. Noch nagten sie nicht am Hungertuch; außerdem brachte eine genuesische Flotte, die Europa am 15. Juli verlassen hatte, frische Vorräte, als sie am 17. November im Antiochener Hafen von St. Simeon (dem heutigen Samandağ) anlegte – eine logistisch-planerische Glanzleistung! Dennoch: Während des strapaziösen Marsches durch die Einöden Kleinasiens waren die Pferde und Lasttiere in der Sommerhitze gestorben wie die Fliegen. Das war vor allem für die Ritter ein großer Nachteil, die ihre Streitrösser benötigten, um ihre Aufgaben zu erfüllen und ihren Status aufrechtzuerhalten, und überdies Lasttiere, um ihr Gepäck zu transportieren. Nun mussten sie selbst mit anpacken und Lastsäcke voller Waffen und Rüstungsteile schleppen, was auf den engen Gebirgspfaden durch das Anti-Taurusgebirge zu Szenen voller Panik führte. Als die Kreuzfahrer in Antiochia ankamen, waren nur noch 1000 Pferde am Leben – das bedeutet, dass bereits zu diesem Zeitpunkt vier von fünf Rittern ohne Reittier dastanden. Bis zum Sommer darauf reduzierte sich die Pferdezahl noch einmal drastisch; nunmehr waren bloß 100 bis 200 Tiere übrig. Die meisten Ritter – selbst jene, die zu Hause mächtige Herren gewesen – waren nun gezwungen, zu Fuß zu kämpfen oder aber auf Esel und Maultiere auszuweichen. Selbst Gottfried von Bouillon und Robert von Flandern mussten sich vor der Schlacht von Antiochia im Juni 1098 Pferde geradezu erbetteln.

Die Kreuzzüge

Подняться наверх