Читать книгу Die Kreuzzüge - Jonathan Riley-Smith - Страница 25

Jerusalem

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Sechsundachtzig Jahre zuvor, im Jahr 1009, war auf Anweisung des Fatimidenkalifen al-Hakim die Grabeskirche in Jerusalem verwüstet worden. Die als Jesu Grab verehrte Grotte war beinahe dem Erdboden gleichgemacht worden, so dass lediglich der Boden und der untere Teil der Wände verschont geblieben waren. Als die Nachricht von der Zerstörung des Heiligen Grabes Westeuropa erreichte, brach eine Welle der Gewalt gegen etliche der vor erst relativ kurzer Zeit entstandenen jüdischen Gemeinden Frankreichs los. Manche scheinen bei diesem Blutbad ganz beträchtliche Einbußen erlitten zu haben. Auch in der Frühphase des Ersten Kreuzzuges sollte es zum ungezügelten Ausbruch eines gewalttätigen Antijudaismus kommen, wiederum im Zusammenhang mit der Sorge um das Heilige Grab. Vorerst jedoch unterbrachen die Zerstörung der Grabeskirche und die Verfolgung der Christen von Palästina einen stetigen Pilgerstrom, der zuletzt schon eher einer Flutwelle geglichen hatte. Diese Intensivierung des Wallfahrtsbetriebes spiegelte wahrscheinlich die weitverbreitete Befürchtung wider, mit der Jahrtausendwende sei auch die Endzeit nahe; immerhin sollten sich die letzten Ereignisse auf dieser Erde ja allesamt in Jerusalem ereignen: das Auftreten des Antichrist; die Wiederkehr des Messias; das Bersten der ersten Gräber und die Auferstehung der Heiligen aus Knochen und Staub. Schon seit Jahrhunderten waren christliche Pilger nach Jerusalem gereist, hatten sich selbst im Westen Zentren eines Jerusalemkultes gebildet – aber erst im 11. Jahrhundert erreichte die fromme Fixierung auf die heiligen Stätten ihren beinahe fieberhaften Höhepunkt. Dieser Enthusiasmus wurde durch die Ankunft von Reliquien aus Jerusalem noch weiter genährt, die in vielen Kirchen West- und Mitteleuropas aufbewahrt wurden. Besonders namhafte Sammlungen gab es im Lateranpalast in Rom und in der Abtei von Moissac im Languedoc. Im Laufe des 11. Jahrhunderts wurden überall Kirchen dem Heiligen Grab oder dem Wahren Kreuz geweiht; manche wurden auch nach dem Vorbild des Schreins entworfen, der das Heilige Grab umfasste. Einige wurden dem Heiligen Grab sogar zum Geschenk gemacht.

Der beschriebene Enthusiasmus war das Nebenprodukt einer fast schon morbiden Beschäftigung mit der Sündhaftigkeit. Männer und Frauen jener Zeit lebten in der schmerzlichen Überzeugung, dass ihre Gesellschaftsordnung zur Sünde hinstrebte: nicht allein, weil diese Gesellschaft eine gewalttätige war und ihrer ganzen Struktur nach von einer kriegerischen Schicht geprägt wurde, sondern auch, weil die Kirche – beeinflusst von den Moralvorstellungen der Klöster und allzeit bedacht auf die Verbreitung des Evangeliums – von den Gläubigen geradezu Unmögliches forderte, was die Einhaltung sittlicher Normen anging. Für die meisten Menschen stellte die Teilnahme an der Heiligen Messe und an Wallfahrten eine natürliche Möglichkeit dar, ihre religiösen Gefühle und ihre „Sündenängste“ öffentlich auszudrücken bzw. auszuleben – das war im Frömmigkeitsverständnis der damaligen Zeit von großer Bedeutung. Aus diesem Grund gab es einen permanenten Reiseverkehr zwischen den diversen regionalen Kultzentren, der durch die immer enger werdenden Beziehungen der Laienschaft zu den örtlichen religiösen Gemeinschaften – die nicht selten als Hüter eines bestimmten Heiligtums amtierten – noch verstärkt wurde. Viele Pilger zog es jedoch weiter in die Ferne. Was sie dazu bewog, für eine gewisse Zeit ein oft überaus beschwerliches Wanderleben auf sich zu nehmen, war dabei nicht allein die Aussicht auf seelische Erbauung und die Vergebung ihrer Sünden, sondern es waren die Reliquien, die in den großen Heiligtümern aufb ewahrt wurden, und die Wunder, die sie namens ihrer jeweiligen Heiligen bewirkten. Das galt für den Schrein der heiligen Fides in der französischen Abtei Conques nicht minder als für den des heiligen Benedikt von Nursia in der Abtei von Fleury oder jenen des heiligen Cuthbert von Lindisfarne in der Kathedrale von Durham. Diese Wundertaten reichten von eigentümlichen, manchmal launischen oder sogar rächenden Handlungen zum Schutz des Fürbittenden bis hin zu wundersamen Heilungen. Andererseits war es, obwohl sich auch in der Nähe der größten Wallfahrtsorte Santiago de Compostela, Rom und Jerusalem bisweilen Wunder ereigneten, eher unüblich, nach Rom oder Jerusalem zu pilgern und dort um wunderbaren Beistand zu bitten; dies tat man vielmehr aus Frömmigkeit und um Vergebung zu erlangen.

Wer nach Jerusalem pilgerte, gehörte grob gesagt einer von drei Gruppen an: Die erste und wohl zahlreichste war von ihren Beichtvätern auf Pilgerfahrt geschickt worden, um eine Bußleistung zu erbringen. Die Angehörigen der zweiten Gruppe – und diese lässt sich mitunter nur schwer von der ersten unterscheiden, denn auch auf ihren Reisen gab es ein Element der Buße – befanden sich auf einer sogenannten peregrinatio religiosa, einer religiösen Wanderfahrt also, das heißt, sie hatten sie freiwillig und möglicherweise unter Ablegung eines Gelübdes als Akt der Frömmigkeit unternommen; kein Beichtvater hatte ihnen diese Buße auferlegt. In die dritte Gruppe fielen jene Pilger, die nach Jerusalem zogen, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Die besondere Lage der Stadt in der Geografie der Vorsehung machte sie zu demjenigen Ort, an dem man als frommer Christ am liebsten begraben sein wollte.

Nach dem Tiefpunkt des Jerusalemer Wallfahrtswesens, der im 11. Jahrhundert auf die Zerstörung der Grabeskirche durch den Kalifen al-Hakim folgte, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Pilgerstrom wieder anschwellen würde. Bereits Mitte der 1020er-Jahre gibt es eine Fülle von Zeugnissen über Pilger auf der Reise. Das Jahr 1033 galt gemeinhin als das Jahr, in dem sich die Auferstehung Christi zum tausendsten Male jährte; entsprechend strömten während der gesamten 1030er-Jahre – zu einer Zeit, in der auch die Heiligtümer der Stadt auf Veranlassung des byzantinischen Kaisers zumindest teilweise wiederhergestellt wurden – Scharen von Pilgern aus vielen Teilen Westeuropas nach Jerusalem. Die nächste große Welle scheint in den 1050er-Jahren in Richtung Osten gerollt zu sein. Dann kam die große Wallfahrt von 1064, die aus Frankreich und den deutschen Ländern aufbrach und auf der Überzeugung beruhte, Ostern werde 1065 auf dasselbe Datum wie 33 n. Chr. fallen. Bis in die 1070er-Jahre muss die Reise durch Kleinasien, das sich mittlerweile weitgehend in türkischer Hand befand, sehr viel schwieriger geworden sein; dennoch gibt es keine Hinweise auf ein Nachlassen des Pilgerverkehrs. Ganz bestimmt nahm dieser in den 1080er- und frühen 1090er-Jahren sogar noch zu. Der Aufbruch des Ersten Kreuzzuges in Richtung Jerusalem im Jahr 1096 war, so gesehen, nur die letzte in einer langen Reihe von Pilgerwellen, die siebzig Jahre lang mit schöner Regelmäßigkeit über Jerusalem hereingebrochen waren.

Das Ziel Jerusalem machte den Kreuzzug zum Feldzug und zur Pilgerfahrt zugleich. Während Papst Urban bei seiner Ausrufung einerseits das typische Vokabular des Pilgerwesens gebraucht hatte (iter, via, labor – Weg, Straße, Mühsal), benutzte er andererseits auch die militärische Bezeichnung „Jerusalem-Expedition“ (Jherosolimitana expeditio). Ein Kreuzfahrer sah in seiner Reise nicht nur „die Wallfahrt nach Jerusalem“, sondern auch „solch eine … großartige … Expedition des Gottesvolkes, das sich seinen Weg nach Jerusalem erstreitet, um dort für Gott gegen die Heiden und die Muslime zu kämpfen“. Zwei andere Kreuzfahrer, ein Brüderpaar, nahmen das Kreuz

… einerseits um der Gnade der Wallfahrt willen, andererseits jedoch, um mit Gottes Beistand die Entweihung [Jerusalems] durch die Heiden zu tilgen und jenes maßlose Wüten zu beenden, durch welches schon unzählige Christen gedemütigt, in Bande geschlagen und in barbarischer Raserei getötet worden sind.

Die Kreuzzüge

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