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Die Fortentwicklung der Kreuzzugsidee

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Der Ereignisverlauf von 1097 bis 1099 legte mehr oder minder verbindlich fest, dass es sich bei einem Kreuzzug um eine Pilgerfahrt handelte, auf der Ritter zugleich ihre kriegerische Aufgabe erfüllen konnten. Durch seinen aufwendigen liturgischen Rahmen, seine Bußprozessionen und Fastenzeiten – erstaunlicherweise sollten die so schon hungernden Kreuzfahrer vor jeder wichtigen Schlacht fasten! – erschien der Kreuzzug den gebildeten Zeitgenossen, die ja zumeist Mönche waren, als eine Art wanderndes Kloster. Die teilnehmenden Laien hatten Gelübde abgelegt, die – wenn sie auch für einen klar umrissenen Zeitraum galten – Ähnlichkeiten mit den ewigen Gelübden der Mönche aufwiesen. Zudem erlegten die Sachzwänge des Kreuzzuges ihnen ein Leben in Armut auf sowie – theoretisch – ein Leben in Keuschheit. Die Kreuzfahrer waren, wie auch die Mönche, „Exilanten“ der normalen Welt. Sie hatten das Kreuz genommen, um Christus nachzufolgen, sie hatten um Gottesliebe ihre Frauen, Kinder und ihre Heimat verlassen und sich aus Liebe zu ihren Brüdern selbst in Lebensgefahr gebracht. Sie waren „Nachfolger Christi“. Wie die Mönche in ihren Klöstern nahmen auch sie an regelmäßigen gemeinsamen Gebeten und anderen frommen Ritualen teil, und während die Mönche eine „innere Reise“ nach Jerusalem unternahmen, reisten sie persönlich dorthin. Da es ein Ziel der Reformbewegung gewesen war, die gesamte Kirche nach den Maßstäben des Klosterlebens umzugestalten, scheint dieser Plan zumindest hier, auf dem Kreuzzug, bei den Laien, aufgegangen zu sein. Tatsächlich gab es einen bemerkenswert raschen Transfer von Begriffen und Bildern, die traditionell mit dem Klosterleben verknüpft gewesen waren und nun auf den Kreuzzug bezogen wurden: die Ritterschaft Christi, der Kreuzweg, der Weg in das himmlische Jerusalem, der geistliche Kampf. Die „klösterliche“ Interpretation des Kreuzzuges sollte sich auf Dauer nicht halten, aber sie verschaffte der Kirche doch einen Ausgangspunkt, um auf die Fragen eingehen zu können, die mit dieser revolutionär neuen Art von Kriegführung zwangsläufig verknüpft waren.

Eines der Probleme, die durch den Kreuzzug offenkundig geworden waren, war das der Kontrolle. Es wurde den Priestern in ihren Gemeinden aufgetragen, die Rekrutierung zu organisieren: Niemand sollte das Kreuz nehmen, ohne zuvor den Rat seines Pfarrers eingeholt zu haben. Doch das Gemeindesystem jener Zeit war für derlei Aufgaben nicht gewappnet – noch nicht. In der Theorie waren es die Bischöfe, durch deren Autorität die Erfüllung der Kreuzzugsgelübde überwacht und durchgesetzt werden sollte. Allerdings lässt sich unmöglich rekonstruieren, wie viele der Kreuzfahrer, die ihre Gelübde anlässlich der dritten Welle des Ersten Kreuzzuges einlösten, dies tatsächlich aus Angst vor einer möglichen Exkommunikation taten, und wie viele dies taten, weil ihnen Berichte von der Eroberung Jerusalems zu Ohren gekommen waren, die sie entweder begeisterten oder ihnen – ob ihrer bisherigen Untätigkeit – ein schlechtes Gewissen bereiteten. Die päpstlichen Legaten und anderen Kleriker, die das Kreuzfahrerheer begleiteten, hätten – wiederum in der Theorie – ebenfalls eine gewisse Kontrolle über die Teilnehmer des Kreuzzuges ausüben sollen. Aber der Klerus ließ zumeist die nötige theologische Qualität vermissen, und außerdem dürften die Hauskapläne des hohen Adels wohl kaum geneigt gewesen sein, ihren Herren die Leviten zu lesen.

Die geistlichen Teilnehmer des Kreuzzuges verhinderten weder die mörderischen Judenpogrome im Frühjahr und Sommer des Jahres 1096 noch die Errichtung eines säkularen Staates in Palästina drei Jahre darauf. Zudem lässt sich unter den Laien ein gewisser Eigensinn feststellen: Es ist offenkundig, dass sie die Aussicht auf die Inbesitznahme einer Reliquie antrieb – des Heiligen Grabes nämlich –, nicht die Liebe für ihre Glaubensbrüder im Heiligen Land. Der Papst konnte die Teilnehmer des Kreuzzuges nicht davon überzeugen, dass auch jene, die vor der Erfüllung ihrer Gelübde das Leben ließen, die Vergebung ihrer Sünden erlangen würden. Eine beträchtliche Anzahl von Personen scheint das Kreuz im Jahr 1100 (auch) deshalb genommen zu haben, weil nahe Verwandte von ihnen auf dem vorigen Feldzug gestorben waren, bevor sie Jerusalem erreichen konnten. Wie wir aus den diesbezüglichen Versicherungen Thomas’ von Aquin ablesen können, war die beschriebene Problematik den Gläubigen noch Mitte des 13. Jahrhunderts ein Anlass zur Sorge.

Die traumatischen Erfahrungen der Kreuzfahrer während der zweiten Welle des Kreuzzuges waren ganz entscheidend für die weitere Entwicklung der Überzeugung, diesem Vorhaben hafte wirklich etwas Göttliches an. Nach der Durchquerung Kleinasiens scheint die Überzeugung um sich gegriffen zu haben, all ihr Tun und Lassen sei der wohlwollenden, wenn auch gestrengen Kontrolle Gottes unterstellt. Zu jenem Zeitpunkt begannen auch Seher und Propheten im Kreuzfahrerheer, Erscheinungen zu haben – von Christus selbst oder von Engeln, Heiligen und den Geistern der Verstorbenen. Auch wurden nun die im Kampf getöteten Kreuzfahrer zunehmend als Märtyrer betrachtet. Diese Tendenzen wurden noch verstärkt durch die Auffindung von Reliquien und die Verehrung von Schauplätzen der Heilsgeschichte, wie sie jedem Christen aus Erzählungen bekannt waren. Hinzu kamen zufällige Störungen am Nachthimmel – Polarlicht, Kometen und Meteoriten –, die größtenteils ein Vorspiel bildeten zu der Periode intensiver Sonnenaktivität, die als das „mittelalterliche Maximum“ bezeichnet wird und um 1120 begann. Die Kreuzfahrer waren nicht dumm. Sie wussten, wie stark benachteiligt sie gewesen waren – und doch hatten sie am Ende gesiegt. In ihren Augen konnte es dafür keine andere Erklärung geben, als dass Gott für sie eingegriffen hatte. Die Niederlagen der dritten Welle im Jahr 1101 bestärkten diese Vorstellung sogar noch, denn sie ließen die überwundenen Gegner von 1097–1099 stärker erscheinen, als jene es tatsächlich gewesen waren. Das schreckliche Ende Wilhelms von Aquitanien und seiner Leute ließ sich unter Verweis auf deren ausschweifenden Lebensstil, Stolz und allgemeine Sündhaftigkeit erklären und wurde somit ebenfalls zum Gottesurteil.

Die Vorstellung, der Kreuzzug habe sich im göttlichen Auftrag und unter göttlicher Leitung ereignet, tritt überall in den Briefen und Augenzeugenberichten der Kreuzfahrer lebhaft zutage. Allerdings wird sie dort auf eher unbeholfene und bisweilen untheologische Weise formuliert. Eine zweite Generation von Kommentatoren griff diese Anregung auf, wobei sich insbesondere drei französische Benediktiner hervortaten: Guibert von Nogent, Balderich von Bourgueil und Robert der Mönch. Der letztgenannte schrieb seine Geschichte des Kreuzzuges zehn Jahre nach den Geschehnissen und stellte diese als Teil der Heilsgeschichte dar: Für Robert war der Kreuzzug – nach der Schöpfung und der Erlösung der Menschheit am Kreuz – das dritte deutliche Zeichen göttlichen Eingreifens in der Welt. Alle drei Geschichtsschreiber bemühten sich zudem, den Elementen ihrer Erzählung einen klaren theologischen Rahmen zu geben, und zeigten darum etwa die Verbindung von Märtyrertum und christlicher Nächstenliebe auf. In ihren Schriften wurde der Vorstellung vom Kreuzzug als einem Krieg im Namen Christi, die ja zuvor von den Kreuzfahrern selbst formuliert worden war, ein eigener theologischer Ausdruck verliehen.

Und doch blieb vieles ungestalt und vage. Die Kreuzzugsidee benötigte eine lange Zeit, fast ein ganzes Jahrhundert, um zur Reife zu gelangen, und so blieben in diesem frühen Stadium viele Fragen offen: Was unterschied einen Kreuzzug von anderen Heiligen Kriegen oder auch einer bewaffneten Pilgerfahrt? Unter welchen Voraussetzungen und an welchen Schauplätzen konnten Kreuzzüge geführt werden? War nur der Papst berechtigt, einen Kreuzzug auszurufen? Inwiefern unterstanden die Kreuzfahrer auf ihrem Feldzug kirchlicher Kontrolle? Wie hatte man sich die Vergebung der Sünden im Einzelnen vorzustellen und auf wen traf sie zu? Wie war ein Kreuzzug, der immer sehr viel Geld kostete, zu finanzieren? Die Beantwortung dieser Fragen sollte das gesamte 12. Jahrhundert hindurch die europäischen Christen beschäftigen.

Die Kreuzzüge

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