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Traditionalismus

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Eine Definition der Kreuzzüge, die jene auf einen einzigen Schauplatz – den Nahen Osten – und einen klar umrissenen Zeitraum – von 1097 bis 1291 nämlich – beschränken wollte, hat schon der englische Historiker Thomas Fuller vorgeschlagen (in seiner Historie of the Holy Warre von 1639). Indem er das „echte Kreuzfahrertum“ in eine ferne Vergangenheit verlegte, handelte Fuller jedoch willkürlich und inkonsistent. Schwerlich konnte er den Krieg zwischen Christen und Türken ignorieren, der zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Buches auf dem Mittelmeer tobte. Er wusste genau, dass die Malteser mit ihrem Insel-Ordensstaat aktiv daran beteiligt waren; tatsächlich sollten sie kurz darauf – binnen sechs Jahren nach der Veröffentlichung seines Buches – einer Kreuzzugsliga beitreten, die zur Verteidigung der Insel Kreta begründet worden war. Fuller wollte nicht ganz ausschließen, dass es auch in Zukunft wieder zu Kreuzzügen kommen könnte, und er stellte sich sogar ganz konkret einen erneuten Kreuzzug zur Rückeroberung Jerusalems vor – ein aussichtsloses Unterfangen, wie er selbst sogleich einräumte. Es überrascht nicht, dass Fullers zurückhaltende Definition seinerzeit nur auf geringe Zustimmung stieß. So gelangte Louis Maimbourg zu der Einsicht (und zwar in seiner Histoire des Croisades von 1675), der Kriegsschauplatz habe sich nur gezwungenermaßen, faute de mieux, auf europäischen Boden verlagert, und selbst der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz schlug in seinem ambitionierten Projet d’expédition d’Égypte von 1672 vor, in einem Heiligen Krieg Ägypten zu erobern, obwohl die staatliche französische Armee daran beteiligt sein sollte.

Der eigentliche „Traditionalismus“ in der Kreuzzugsforschung geht jedoch auf die Köpfe der Aufklärung im 18. Jahrhundert zurück, die denselben Ansatz verfolgten wie vor ihnen Fuller. Die Franzosen Denis Diderot (der in seiner 1751–1772 erschienenen Encyclopédie unter anderem auch auf die Feldzüge gegen Häretiker und im Baltikum zu sprechen kam) und Voltaire (in seinem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations von 1756); die Schotten David Hume (in seiner History of England von 1762) und William Robertson (der 1769 mit seiner Betonung der kulturellen Überlegenheit der Muslime in The Progress of Society in Europe einen zusätzlichen Gesichtspunkt zur Diskussion stellte) sowie der Engländer Edward Gibbon (in seinem monumentalen Werk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 1776–1789) wollten den Kreuzzugsbegriff allesamt nur auf den Nahen Osten und das hohe Mittelalter angewandt sehen. Und damit repräsentierten sie den allgemeinen Konsens ihrer Zeit: Wenn man solche Malteser-Propagandisten wie etwa René de Vertot (in seiner Histoire des chevaliers hospitaliers von 1726) einmal beiseite lässt, kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass in den gebildeten Kreisen des 18. Jahrhunderts die Kreuzzugsbewegung als tot galt, als ein Phänomen längst vergangener Zeiten. Und obwohl manche Autoren des 18. Jahrhunderts den Kreuzzügen zugestanden, dass sie Europa wohl doch auch einigen Nutzen gebracht hatten, blieb die Kreuzzugsbewegung als Ganze ein bevorzugtes Beispiel für Aberglauben und Torheiten der vormodernen Epoche.

Man kann es gar nicht genug betonen: All diese Historiker und Philosophen der Aufklärung wandten eine vollkommen willkürliche Definition des Begriffs „Kreuzzug“ an – eine Definition, die es ihnen erlaubte, einerseits die Kreuzzugsbewegung als Ausgeburt mittelalterlicher Dummheit zu brandmarken, über neuere und ganz ähnliche Entwicklungen jedoch den Mantel des Schweigens zu breiten. Diderot etwa konnte es letztlich nicht vermeiden, in seiner Encyclopédie die Insel Malta als einen „Knotenpunkt des Krieges gegen die Feinde des Christentums“ zu bezeichnen; aber in dem langen Artikel über die Geschichte des Malteserordens gibt es dennoch kaum einen Verweis auf irgendwelche Kampfhandlungen nach 1291 (obwohl selbst der Organisationsstruktur und Verfassung des Ordens einiger Platz eingeräumt wird). Dem Beispiel der Aufklärer folgte bald jedoch auch ein seriöser Historiker namens Friedrich Wilken, zu dessen Vorzügen seine Kenntnisse des Arabischen und des Persischen gehörten. Seine große Geschichte der Kreuzzüge erschien in sieben Bänden zwischen 1807 und 1832 und galt in Gelehrtenkreisen schnell als ein Musterbeispiel quellensatter und objektiver historischer Forschung. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde die Sicht der Aufklärung auf die Kreuzzüge von keinem Geringeren als Sir Walter Scott popularisiert, dessen Bücher späterhin einen weitaus größeren Einfluss gewinnen sollten, als sie es eigentlich verdient hatten. In gleich vier von Scotts Romanen geht es um Kreuzzüge und Kreuzfahrer. Count Robert of Paris (1831) spielt in Konstantinopel zur Zeit des Ersten Kreuzzuges. Die anderen drei Romane waren in der Zeit des Dritten Kreuzzuges angesiedelt. Während sich Ivanhoe (1819) und The Betrothed (1825) um die Geschehnisse an der Heimatfront drehten, ist in The Talisman (1825) Palästina der Schauplatz der Handlung, in deren Mittelpunkt die Freundschaft zwischen einem schottischen Ritter und dem Sultan Saladin steht, der in einer verblüffenden Anzahl von Maskeraden auftritt (darunter die eines kunstfertigen Arztes, der edlerweise den englischen König Richard Löwenherz von einem Leiden kuriert). Scotts Romane stellten die Kreuzfahrer als tapfere und glanzvolle Helden dar – aber auch als Prahlhansel, Geizkrägen, Kindsköpfe und Bauerntölpel. Nur wenige von Scotts Romanrittern werden tatsächlich von religiösen und ritterlichen Idealen angetrieben; die meisten hatten das Kreuz aus Stolz, Gier oder blindem Ehrgeiz genommen. Die schlimmsten unter ihnen sind die Brüder der Ritterorden, die zwar einerseits als mutig und diszipliniert dargestellt werden, andererseits aber arrogant, durch Privilegien korrumpiert, wollüstig und liederlich daherkommen.

Ein weiteres Motiv, die Überlegenheit der islamischen Kultur nämlich, auf die Scott in den anderen Romanen nur flüchtig eingeht, zieht sich wie ein roter Faden durch The Talisman. In seiner Einleitung zu den späteren Auflagen schreibt Scott:

Der kriegerische Charakter Richards I. [von England], wild und weitherzig, ein Musterbild an Ritterlichkeit mit all seinen extravaganten Tugenden wie mit seinen nicht weniger absurden Fehlern, war insofern dem Charakter Saladins entgegengesetzt, als der christliche und englische Monarch die ganze Heftigkeit und Grausamkeit eines orientalischen Sultans, Saladin hingegen die tiefsinnige Staatsklugheit und Umsicht eines europäischen Herrschers an den Tag legte.

Es fiel Scott, der von William Robertsons Betonung der Überlegenheit der islamischen Kultur beeinflusst war, nicht schwer, die Kreuzfahrer als rückständig und unaufgeklärt zu zeichnen, die mit plumper Hau-drauf-Taktik gegen die zivilisierten und gebildeten Muslime anstürmten. Aber seine Darstellung war anachronistisch, denn sie siedelte die Kreuzfahrer in dem einen Kontext an (nämlich dem des Hochmittelalters) und ihre Gegner in einem gänzlich anderen: dem des 19. Jahrhunderts. Wenn man ihm seine pseudoorientalischen Gewänder herunterriss, so war Scotts Saladin ganz offenkundig ein moderner, liberaler, europäischer Gentleman, neben dem die Europäer des Mittelalters schlicht nicht bestehen konnten.

The Talisman war Scotts zweitbeliebtester Kreuzfahrerroman nach Ivanhoe. Er wurde immer wieder in Bühnenfassungen aufgeführt und in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt. The Talisman inspirierte Maler in Großbritannien, Frankreich und Italien zu großformatigen Gemälden, und insbesondere das Bild Saladins in diesem Roman hatte großen Einfluss auf Generationen von Schriftstellern und Staatsmännern. Als der britische Premierminister William Ewart Gladstone im Jahr 1876 seiner Empörung über Gräueltaten in Bulgarien Ausdruck verleihen wollte, die man den Türken anlastete, so stellte er sie „jenen ritterlichen Saladins des alten Syrien“ gegenüber. Die Ruine von Saladins Grabmal in Damaskus befand sich bald auf den Besichtigungsplänen europäischer Bildungsreisender – 1862 besuchte sie etwa Albert Eduard, der Prince of Wales –, doch erst die übertriebene Ehrung beim Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. im Jahr 1898 rief Saladin der ganzen Levante wieder ins Bewusstsein.

Scotts kritisch-romantische Herangehensweise an die Kreuzzugsmaterie und die Beschränkung des Begriffs Kreuzzüge auf den Nahen Osten und das hohe Mittelalter bestimmen bis heute einen Großteil der populären Literatur über dieses Thema, in Europa wie in Amerika. Das allgemein bewunderte Standardwerk zum Thema in der angelsächsischen Welt, Sir Steven Runcimans A History of the Crusades (1951–1954), in dem die Kreuzfahrer als kühn und voller Schwung, aber eben oftmals auch als kindisch, rüpelhaft und wenig reflektiert dargestellt werden, entspricht wohl beinahe dem, was Scott – bei größerer Fachkenntnis – auch geschrieben hätte. Ein weiteres Beispiel für Scotts bleibenden Einfluss im Bereich der unterhaltenden Darstellungen des Phänomens Kreuzzüge war zuletzt wohl Königreich der Himmel (The Kingdom of Heaven), ein Film des Regisseurs Ridley Scott aus dem Jahr 2005, in dem ein brutaler, habsüchtiger und feiger christlicher Klerus den blanken Hass gegen die Muslime predigt. Beschränktheit und Fanatismus dieser Priester spiegeln sich denn auch in Ridley Scotts Behandlung der Kreuzfahrer, Tempelritter und der meisten Führungspersönlichkeiten aus den christlichen Ansiedlungen rund um Jerusalem wider, die als eine Art Gründerzeit-Amerika dargestellt werden, als eine „Neue Welt“ für unternehmungslustige Einwanderer aus einem verarmten und unterdrückten Europa. Inmitten von Bigotterie und Fanatismus hat sich dort eine eingeschworene Gemeinschaft von Freidenkern zusammengefunden, um dem friedlichen Zusammenleben der Religionen einen Raum in der Welt zu schaffen und zu bewahren. Dabei arbeiten sie mit Saladin zusammen, der ihr Ziel von Frieden und Toleranz teilt, aber religiöse Eiferer im Lager der Christen setzen alles daran, diesen Prozess einer Verständigung mit dem Islam zu sabotieren.

Die Kreuzzüge

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