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Der Materialismus auf dem Prüfstand

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Während die Debatte um die Definition des Kreuzzugsbegriffs sich abkühlte, trat eine andere Fragestellung in den Vordergrund. Ein Schwachpunkt der materialistischen Ansicht, die Teilnehmer der Kreuzzüge in das Heilige Land seien ganz allgemein vom Profitstreben getrieben worden, war der folgende: Es gab für diese These nur sehr wenige Belege. Es war also ganz natürlich, dass einige Historiker ihr Augenmerk auf die anderen Motive richteten, von denen die Kreuzfahrer womöglich zu ihrem Aufbruch ins Ungewisse veranlasst wurden. In den Worten Norman Housleys ging es dabei um „die ganze Bandbreite an Zielen, Hoffnungen, Überzeugungen und Ängsten, durch welche Menschen überhaupt erst dazu bewegt wurden, das Kreuz zu nehmen, und die sie dann später, wenn sie auf einem Kreuzzug waren, bei der Stange hielten“. Die Herangehensweise der Historiker, die sich den Kreuzzügen auf diese Weise näherten, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Denkform der Kulturanthropologie, dem sogenannten Kulturrelativismus. Dieser besagt, dass ein Forscher seine eigenen ethnozentrischen oder vielleicht auch politischen Vorurteile erst einmal beiseitelegen und stattdessen den Gegenstand seiner Studien unter Berücksichtigung von dessen eigenem kulturellen Umfeld untersuchen sollte. Daraus folgt, dass man all das, was etwa die Menschen der Vergangenheit über sich selbst und andere geschrieben haben, mit Blick auf die damalige Lebenswelt durchaus ernst nehmen sollte; nur dann kann man die auslösenden Momente identifizieren, die sie schließlich zum Handeln bewegten – selbst jene schwer greifbaren Faktoren, aus denen sich „der mentale Raum zusammensetzt, in dem … jene Menschen nun einmal lebten“, wie Marcus Bull es formuliert hat. Das schließt zum Beispiel das kollektive Gedächtnis und die Gedenkkultur ein, dazu „all jene Überzeugungen und Instinkte, die sich bis dato vielleicht noch nicht explizit geäußert hatten, die aber in einer veränderten Situation eine entscheidende Bedeutung annehmen konnten“, so Bull. Wenn wir uns Männern und Frauen gegenüber sehen, die vor Hunderten von Jahren lebten und sich – dem Anschein nach oftmals völlig spontan – ganz und gar auf ein waghalsiges und selbstzweckhaftes Unternehmen eingelassen hatten, dann führt einer der Hauptzugangswege zur Vorstellungswelt dieser Leute über das kollektive Bewusstsein eng verbundener sozialer Gruppen (zumindest, solange diese nicht allzu straff organisiert waren oder unter einer allzu starken Kontrolle standen). Aus diesem Grund haben sich Kreuzzugshistoriker der Erforschung von Familien zugewandt.

Dieser Versuch, die Motivation der Kreuzfahrer zu erhellen (dem ich die zugegebenermaßen etwas holprige Bezeichnung sensible Einfühlung geben möchte), ist ein Echo auf Entwicklungen in anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft. Hier wie dort wird dem religiösen Glauben mittlerweile größere Bedeutung beigemessen als früher. Ähnliches gilt für andere Disziplinen wie etwa die Literaturwissenschaften, die Ethnosoziologie und die Psychologie. Einen Vorgeschmack dieser Entwicklung hatte bereits die Fokussierung auf mentalités gegeben, wie sie in der jüngeren Geschichtsschreibung des Mittelalters hervorgetreten ist. Gegen diese Entwicklung könnte man nun einwenden, die Historiker begäben sich da auf gefährliches Terrain – weitaus gefährlicher, als das von den Antrhopologen bearbeitete. Schließlich befassen diese sich mit zwar fremden, aber doch immerhin noch lebendigen Kulturen. Eine weitere potenzielle Schwäche stellt die Gefahr dar, bei der Anwendung psychologischer Erklärungsansätze oder solcher aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich, unbesehen auch die von den Autoren dieser Disziplinen zugrundegelegten Modelle zu übernehmen. Auch kann das skrupulöse Festhalten an einem geradezu grenzenlosen Quellenkorpus am Ende dazu führen, dass man – wenn man nicht sorgsam geplant hat – Forschungsvorhaben verfolgt, die überambitioniert und unkritisch sind. Andererseits hat es natürlich auch echte Fortschritte in der Forschung gegeben. Obwohl es nicht ganz fair ist, den folgenden Vergleich anzustellen (denn die Kreuzfahrer kommen in Georges Dubys berühmter Studie über das Mâconnais, La Société aux XIe et XIIe siècles dans la région mâconnaise von 1971 nur am Rande vor): Es lässt sich ein aufschlussreicher, kontrastiver Vergleich anstellen zwischen Dubys materialistischem Blick auf die Kreuzfahrer, bei dem handfeste Beweise der Theorie und (wenn auch begründete) Vermutungen geopfert werden, einerseits; und Marcus Bulls Studie über die Hintergründe der Reaktionen auf die Predigten zum Ersten Kreuzzug in Westfrankreich andererseits. In dieser letztgenannten Studie, Knightly Piety and the Lay Response to the First Crusade (1993), gelingt Bull nämlich eine wesentlich stärker am historischen Beweismaterial orientierte und nuancierte Darstellung der Verhältnisse zwischen Landbesitz, Familieninteressen, althergebrachten Loyalitäten und religiösen Überzeugungen.

Die Kreuzzüge

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