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Kreuzzüge als Bußwallfahrten

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Eine weitere Eigenschaft der Kreuzzüge machte sie nahezu einmalig: Kreuzzüge waren Akte der Buße. Wie wir noch sehen werden, hatte die Vorstellung, man könne „zur Vergebung der Sünden“ einen Krieg führen, wohl etwas ganz und gar Unerhörtes, als sie in den frühen 1080er-Jahren erstmals in den Äußerungen Papst Gregors VII. und seiner Anhänger auftauchte. Dennoch wurde sie rasch zu einem bestimmenden Merkmal der Kreuzzugsbewegung, das sie in den Augen potenzieller Teilnehmer so ansprechend machte. Die erwähnte Ansprache Jakobs von Vitry vor den Templern ist eine von mehreren erhaltenen Musterpredigten des 13. Jahrhunderts, die zur weiteren Verbreitung immer wieder abgeändert wurden. Diese Neu- und Umformulierungen lassen erkennen, welche Kernpunkte in den Augen eines erfahrenen Predigers einer besonderen Akzentuierung bedurften. Und über weite Abschnitte hinweg kreisen sie allesamt um das Thema Buße. Man übertreibt wohl nicht, wenn man den Verfassern der betreffenden Predigten eine gewisse schwelgerische Kennerschaft auf diesem Gebiet unterstellt. In ihren Augen stellte der Kreuzzug die höchste Form der Wallfahrt dar – und zwar gerade, weil er seinen Teilnehmern eine solch harte Buße auferlegte. Die Mühen und Qualen, die er mit sich brachte, wurden in diesen Predigten immer wieder ausgemalt, bis die Pilgerfahrt in eine fremde und gefährliche Weltgegend zum Ausdruck der Liebe wurde, die in den durch wahre Buße reingewaschenen Herzen der Kreuzfahrer brannte.

Es war diese Vorstellung von Kreuzzügen als kollektiven Akten der Buße, die sie in der Wahrnehmung der Zeitgenossen von anderen Heiligen Kriegen unterschied. Während auch die meisten anderen Heiligen Kriege, die im Namen Christi geführt wurden, den Waffendienst frommer Freiwilliger voraussetzten, die auf einen göttlichen Marschbefehl hin ins Feld zogen, so hing bei einem Kreuzzug alles von der Bereitschaft des angehenden Kreuzfahrers ab, in der Schlacht Buße zu tun und sich damit eine nach Maßgabe der zu vergeltenden Sündenlast angemessene Strafe selbst aufzuerlegen. Es ist keineswegs eine Übertreibung, wenn wir den Kreuzzug aus der Sicht des daran teilnehmenden Individuums nur sekundär als Kriegsdienst für Gott oder zum Nutzen der Kirche oder des Christentums auffassen, primär jedoch als eine Unternehmung, die dem frommen Individuum selbst nutzen sollte – schließlich handelte es sich um einen Akt der Selbstheiligung.

Auf lange Sicht lag die Kraft dieses Konzepts in der Art und Weise, wie es auf die Bedürfnisse der Gläubigen einging. Die Vergebung der Sünden wurde Mitgliedern einer Gesellschaft in Aussicht gestellt, in der es begüterte Laien mit ihrer umfassenden Verantwortung für Verwandte, Klienten und andere abhängige Personen kaum vermeiden konnten, ein beträchtliches Sündenmaß anzuhäufen. Über Jahrhunderte hinweg war die europäische Kultur geprägt von Ängsten um die Sündhaftigkeit, und folglich erschien das Anerbieten der Kreuzzugsbewegung, ihnen einen vollkommenen Neubeginn zu gewähren, vielen Menschen verlockend.

Die christliche – oder doch zumindest die katholische – Sicht auf die Kreuzzüge blieb über wenigstens sechs Jahrhunderte hinweg positiv, wahrscheinlich sogar noch länger. Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert war es die allgemeine Lehrmeinung der katholischen Bischöfe, dass es die moralische Pflicht eines jeden geeigneten Mannes war, das Kreuz zu nehmen. Diese Sichtweise wurde durch die Unterstützung einer ganzen Reihe von Männern und Frauen bekräftigt, die gemeinhin als Heilige gelten. Zu ihnen zählen Bernhard von Clairvaux, Dominikus, Ludwig IX. von Frankreich, Thomas von Aquin, Birgitta von Schweden, Katharina von Siena, Johannes Capistranus – und wahrscheinlich sogar Franz von Assisi. Von Urban II. im Jahr 1095 bis Innozenz XI. im Jahr 1684 schrieb Papst um Papst entweder selbst Briefe, in denen die Gläubigen zum Kreuzzug aufgerufen wurden, oder gab solchen Schreiben seinen Segen. Darin wurden allen Kreuzfahrern für den Fall ihrer Teilnahme geistliche Privilegien versprochen; falls sie sich nicht entschließen konnten, wurde ihnen mit dem göttlichen Gericht gedroht. Außerdem schuf das Papsttum einen neuen Typus von geistlicher Institution, indem es die Ritterorden genehmigte und privilegierte. Mindestens sechs allgemeine Konzilien befassten sich in ihren Entscheidungen mit der Frage der Kreuzzüge, und zwei von ihnen – das Vierte Laterankonzil (1215) und das Zweite Konzil von Lyon (1274) – verabschiedeten die Konstitutionen Ad liberandam und Pro zelo fidei, die zu den wichtigsten Zeugnissen der Kreuzzugsbewegung zählen. Einige Leser der ersten Auflage dieses Buches zeigten sich schockiert von einem Zitat, das ich in einem Bericht des Predigers Humbert von Romans aus den frühen 1270er-Jahren gefunden hatte. Humbert wollte die Ansicht widerlegen, die Kreuzzüge schadeten der Christenheit, weil sie zum Tod so vieler anständiger Männer führten:

Der Zweck des Christentums ist es nicht, die Erde zu bevölkern, sondern den Himmel. Warum soll man sich betrüben, wenn die Anzahl der Christen auf der Welt abnimmt, da doch ihre Tode für Gott erlitten werden? Durch einen solchen Tod bahnen sich Männer ihren Weg in den Himmel, die dort auf andere Weise kaum je anlangen könnten.

Humbert sprach nur aus, was die überwiegende Mehrheit seiner Zeitgenossen glaubte. Wir haben zu akzeptieren, dass damals viele Männer und Frauen bereit waren, ihren Reichtum, ihre Gesundheit und sogar ihr Leben zu opfern für eine Sache, die sie für gerecht und heilsbringend hielten. Ihr jeweiliges Handeln war der individuelle Ausdruck einer Frömmigkeit, die uns fremd geworden sein mag, den damaligen Menschen jedoch ganz vertraut war.

Die Kreuzzüge

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