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Frühe Anzeichen für ein Revival: Die Geschichte des lateinischen Ostens

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Die Zeit der Stagnation endete in den 1950er-Jahren. Die europäischen Weltreiche befanden sich in Auflösung. Als Reaktion auf die Protokolle der Nürnberger Prozesse sowie die Debatten über die atomare Aufrüstung gab es ein wiedererwachendes Interesse an der Theorie des „gerechten Krieges“. Unter der Fülle von Forschungsbeiträgen, die nun in einer kurzen Zeit entstanden, befanden sich viele, die sich erneut mit Struktur und Gesellschaft der lateinischen Herrschaften im Orient befassten. Noch wichtiger allerdings war es – denn dies betraf alle anderen Zweige der Kreuzzugsforschung –, dass der vorherrschende Konsens über die Kreuzzüge infrage gestellt wurde.

Das erste Anzeichen dafür, dass ein Umschwung in der Luft lag, hatte es schon gegeben, als im Jahr 1940 der französische Historiker und Arabist Claude Cahen die erste detaillierte Studie über das Fürstentum Antiochia veröffentlichte. Einige Jahre später machten sich Jean Richard in Frankreich und Joshua Prawer in Israel daran, die Geschichte des Lateinischen Königreichs Jerusalem neu zu schreiben, indem sie ein ko härentes Modell seiner Verfassungsentwicklung entwarfen. Dieser Ansatz ist mittlerweile zwar in Teilen überholt und durch komplexere, etwas weniger bruchlose Sichtweisen ersetzt worden – durch die Grundlagenstudien von Hans Eberhard Mayer und Steven Tibble etwa –, aber man macht sich heutigentags dennoch kaum ein Bild davon, wie aufregend die Forschungen von Richard und Prawer zur Gesetzgebung, Verfassung, Wirtschaft und Gesellschaft der Kreuzfahrerherrschaften damals waren. Zugleich spiegelten einige Unterschiede zwischen Richard und Prawer, was ihre Interpretation der gesellschaftlichen Grundlagen des lateinischen Ostens anging, im Grunde nur die Geschichte des Imperialismus in den vorangegangenen anderthalb Jahrhunderten wider. In der letzten Zeit ist Joshua Prawer gern als ein Vorkämpfer des Antikolonialismus dargestellt worden; dabei lässt sich vieles von dem, was zur Stützung dieser These herangezogen wird, auch ganz anders interpretieren. Als noch recht junger Mann hatte Prawer sich im britischen Mandatsgebiet Palästina niedergelassen, wo er die Vorstellungswelt des britischen Imperialismus im gleichen Atemzug aufsog, in dem er gegen sie die Stimme erhob. Jean Richard andererseits war Schüler von René Grousset gewesen und stand am Ende der Reihe französischer Historiker, die von Michaud herstammten.

Prawer und Richard waren unterschiedlicher Ansicht, was das Verhältnis zwischen Eroberern und Einheimischen, zwischen Herrschenden und Beherrschten in den Kreuzfahrerherrschaften der Levante betraf. Prawer ging, im Anschluss an den englischen Historiker R. C. (Otto) Smail, davon aus, dass die Siedler ihr Leben getrennt von den einheimischen Anwohnern geführt hätten. Prawer und Smail gingen heftig mit der Meinung ins Gericht, in der Levante hätte sich so etwas wie eine „fränkisch-syrische Gesellschaft“ entwickelt, in der europäische Besatzer und Einheimische sich vermischt und somit eine ganz neue, einzigartige Kultur hervorgebracht hätten. Diese Meinung war hundert Jahre zuvor von Emmanuel Rey vertreten worden, und Richard vertrat sie noch immer. In Smails Augen bildeten die europäischen Siedler eine Herrschaftselite, die von ihren Untertanen nicht zuletzt durch ihre Sprache und Religion getrennt blieb; dabei habe die Ausübung von Macht die „letztgültige Legitimierung der fränkischen Herrschaft“ dargestellt. Prawer ging sogar noch weiter und benutzte das Wort „Apartheid“, um die Trennung der Siedler, die zumeist in Städten lebten, von der einheimischen Landbevölkerung zu beschreiben.


Französischer Imperialismus in den Diensten des Denkmalschutzes: Der Krak des Chevaliers kurz nach seiner Wiederherstellung. Diese schönste und am besten erhaltene aller Kreuzfahrerburgen wurde in den 1930er-Jahren von der französischen Protektoratsregierung in Syrien restauriert. Im Zuge der Arbeiten wurden die Dorfbewohner, die sich in den Mauern der Burg niedergelassen hatten, umgesiedelt. Die Burg war von den Johannitern nach einem Erdbeben im Jahr 1170 vollkommen neu errichtet worden und wurde von ihnen im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts umgebaut und stark erweitert. Im Jahr 1271 war sie an den Mamlukensultan Baibars gefallen und seitdem – baulich nahezu unverändert – in muslimischer Hand geblieben.

Richards Herangehensweise spiegelte, darauf hat Smail hingewiesen, die Zielvorgabe einer kulturellen Integration wider, wie sie (nach französischen „Spielregeln“) beim Streben Frankreichs nach einem Weltreich eine gewichtige Rolle gespielt hatte. Die von Prawer und Smail selbst vertretene These einer Trennung von Siedlern und Einheimischen wiederum wirkte wie ein Echo auf die größere Distanz, die britische Kolonialbeamte in der Regel zu den von ihnen verwalteten indigenen Bevölkerungen einhielten. Die neuere Forschung tendiert dazu, Richard recht zu geben. Neue archäologische Funde und Neubewertungen der Quellenbefunde deuten auf das Bestehen einer „fränkisch-syrischen“ Mischgesellschaft hin. Aber man sollte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Kernfrage nach der Existenz eines Proto-Kolonialismus – die Prawer und anderen Historikern ja so wichtig gewesen war – heutzutage kaum je gestellt wird. Sie ist mittlerweile in Israel zu einer Akzeptanz der im Gefolge der Kreuzzüge stattgefundenen Siedlungsbewegung geworden, die in jener ein positives Element der eigenen (israelischen) Vergangenheit erblickt. Ronnie Ellenblum hat diese Entwicklung folgendermaßen nachgezeichnet:

… von einer „jüdischen“ Lesart der Geschichte (der Kreuzzüge), welche die Massaker an den jüdischen Gemeinden des Rheinlands im Jahr 1096 in den Mittelpunkt stellte, hin zu einer zionistischen Interpretation der Kreuzzüge als – freilich unter umgekehrten Vorzeichen stattfindende – Vorläufer der späteren zionistischen Bewegung, und schließlich hin zu einer Betrachtungsweise, die in den Kreuzzügen einen Teil der Geschichte meines eigenen Landes und darum, zu einem gewissen Anteil, auch einen Teil meiner eigenen Geschichte sieht.

Die Kreuzzüge

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