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Schlachtenlärm, Waffenlärm, Terror und Folter

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Da Gott der HERR die Stadt Jericho in die Hand der Israeliten geben wollte, wies er den Heerführer Josua an, er solle an sechs Tagen hintereinander jeweils einmal mit allen Kriegern die Stadtmauern umrunden. Sieben Priester sollen sieben Posaunen aus Widderhörnern vor der Bundeslade hertragen. Am siebenten Tag aber sollen die Kriegsleute siebenmal um die Stadt ziehen, und die Priester sollen in die Posaunen stoßen und das ganze Volk solle, wenn es die Posaunen höre, ein großes Geschrei erheben. Dann werden die Mauern Jerichos zusammenstürzen. Josua folgte der Aufforderung Jehovas und am siebten Tag stürzten, wie der Herr es gesagt hatte, die Mauern Jerichos ein.

Es ist natürlich nicht anzunehmen, dass die Mauern Jerichos durch die von Posaunen und Schreien erzeugten Schallwellen zum Einsturz gebracht werden konnten. Vielmehr ist dahinter eine psychologische Taktik zu vermuten, die darin bestand, die Belagerten zu zermürben. Denn sechsmal wurde ein Signal gesetzt, das einen Angriff erwarten ließ und die Bewohner Jerichos in höchste Alarmbereitschaft versetzte, doch nichts geschah. Beim siebten Mal jedoch, als das große Kriegsgeschrei anhob, waren die Belagerten mit den Nerven am Ende und nicht mehr in der Lage, koordinierten Widerstand zu leisten, und die Stadt konnte eingenommen werden. Nicht die steinernen Mauern stürzten durch den Lärm ein, sondern das Nervengerüst der Belagerten.

Ungeachtet der Frage, ob der Fall Jerichos wie in der Bibel geschildert den historischen Tatsachen entspricht oder nicht, deutet diese alttestamentarische Geschichte an, wie mit Lärm Schrecken und Angst verbreitet und Menschen nervlich zerrüttet werden können.

Krieg und Lärm gehören zusammen. Lärm soll den Gegner einschüchtern und terrorisieren. Die Römer schlugen mit den Schwertern auf ihre Schilde, wenn sie in die Schlacht marschierten. Die Indianer stürmten mit Kriegsgeheul in den Kampf. Die Phalanx der Spartaner kündigte sich schon von Weitem durch lautes, schrilles Pfeifen an, und beim Näherkommen hörte man das wuchtige, rhythmische Stampfen der marschierenden Soldaten, bis sie mit ihren glänzend polierten Schilden und blutroten Mänteln sichtbar wurden und den zermürbten Gegner erstarren ließen. Im Zweiten Weltkrieg stürzten sich die Sturzkampfbomber (Stuka) der deutschen Luftwaffe mit einem von einer Fahrtwindsirene erzeugten kreischenden Geräusch – „Jericho-Trompete“ genannt – auf ihre Ziele und verbreiteten Schrecken und Panik unter Soldaten und Zivilbevölkerung.

Das Kriegsgeschehen selbst, insbesondere das moderner Kriege mit ihren Materialschlachten, verursacht ebenfalls ein wahres Lärminferno. Wahrscheinlich bringen Menschen kein schlimmeres hervor. Tag und Nacht schlugen im Ersten Weltkrieg die Granaten über den Stellungen bei Verdun ein. Im Körper der Soldaten herrschte permanent höchste Alarmstufe. „Trommelfeuer aufs Trommelfell“ überschrieb Gerhard PAUL (2014) sein Essay über den „Ersten Weltkrieg als akustischen Ausnahmezustand“. Viele der in Bunkern und Schützengräben Eingeschlossenen, die wochenlang den Höllenlärm, das ständige Krachen, Hämmern, Zischen und Fauchen ertragen mussten, zitterten danach wie Espenlaub, und das Zittern ließ nicht nach. Dieses Zittern gab der Nervenerkrankung ihren Namen: „Zitterkrankheit“. Die Betroffenen nannte man „Kriegszitterer“. Es handelte sich, so würden wir heute wohl diagnostizieren, um eine Art posttraumatischer Belastungsstörung. Das Zittern war so stark, dass viele ohne Hilfe nicht mehr stehen konnten. Beim kleinsten Geräusch schreckten sie zusammen und gerieten in Panik. Viele Kriegszitterer wurden ihr Leiden nie mehr los und waren ihr ganzes Leben auf Pflege angewiesen.

Schlachtenlärm und Schlachtengesänge kann man nicht nur im Krieg, sondern auch in den (meist) friedlichen Sportarenen hören, wenn Tausende von Fans mit rhythmischem Trommeln, Blasinstrumenten und Gesängen sich mit ihren Mannschaften identifizieren und sie anfeuern. Besonders extrem war dies bei der Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika, als die Ohren nichtafrikanischer Fußballfans erstmals mit den Vuvuzelas, einfachen afrikanischen Blasinstrumenten, konfrontiert wurden, die auch einzeln eine enorme Lautstärke erreichen. Über dem Stadion lag ein Summen wie von einem riesigen Hornissenschwarm. Für die Fußballzuschauer in den Stadien stellte dieser Lärm aber ein durchaus großes Risiko für das Gehör dar. Um das Gehör zu schützen, wurden „Vuvu-Stopper“ angeboten, Ohrstöpsel, durch die der ▸ Schallpegel deutlich reduziert werden konnte.

Zu den lautesten Fußballfans der Welt zählen, wie Sportreporter höchst beeindruckt berichten, die von Beşiktaş Istanbul und Galatasaray Istanbul. Mit Schlachtengesängen, die Lautstärken weit über der Schmerzgrenze des Gehörs erreichen, versuchen sie die gegnerischen Mannschaften einzuschüchtern. Auch das Footballstadion der Seattle Seahawks ist berüchtigt für seine infernalisch lärmenden Fans, die stets um neue Lautstärkenrekorde bemüht sind.

Die antiken Kampfstätten überboten möglicherweise noch die heutigen Sportstadien an Lautstärke und Lärm. Über 150.000 Zuschauern soll der Circus Maximus in Rom zur Zeit von Kaiser Augustus Platz geboten haben. Wir können es uns heute kaum vorstellen, welchen Lärm Zuschauer sowie Hunderte von gleichzeitig brüllenden Tieren und schreienden Menschen in der Arena hervorbrachten. Es muss wahrhaftig die Hölle gewesen sein.

Heute wird Schall auch gezielt als Waffe eingesetzt. Die sogenannte Schallkanone (Long Range Acoustic Device, LRAD) wurde im Auftrag des amerikanischen Verteidigungsministeriums von der Firma American Technology Corporation als nicht-tödliche Waffe entwickelt. Sie sollte zunächst in erster Linie dazu dienen, vor der somalischen Küste Piraten abzuwehren, die ab den 2000er Jahren die Gewässer am Horn von Afrika unsicher machten.

Oftmals kann von der Besatzung eines Kreuzfahrtschiffes, eines Tankers oder eines Kriegsschiffes nicht entschieden werden, ob ein sich näherndes Boot von Flüchtlingen, Piraten oder gar Terroristen gesteuert wird. So wurde im Jahr 2000 im Golf von Aden ein Angriff der Al-Quaida auf den US-Zerstörer Cole nicht verhindert, obwohl man das Boot kommen sah. Als das mit Sprengstoff beladene Boot der Terroristen den Zerstörer rammte, kamen bei der Detonation 17 US-Soldaten ums Leben. Tanker und Kreuzfahrtschiffe sollen in den Folgejahren mit den sogenannten Schallkanonen ausgerüstet worden sein. Diese Geräte strahlen scharf gebündelten Schall in einem Frequenzbereich zwischen 2100 und 3100 Hz ab, in dem das Gehör am empfindlichsten ist (▸ Frequenz, ▸ Hertz). Die Reichweite beträgt bis zu einem Kilometer und der Schallpegel 150 dB. Wer davon getroffen wird, empfindet einen enormen Schmerz, der ihn praktisch paralysiert. Und wer sich dabei mit den Händen die Ohren zuhält ist handlungsunfähig. Gehörschutzkapseln reduzieren zwar den Lärm, beeinträchtigen aber auch die akustische Kommunikation und damit die koordinierten Kampfhandlungen. Schallkanonen sollen auch bei Kämpfen im Irak eingesetzt worden sein, etwa um Verdächtige aus Häusern zu treiben. Auch bei nicht genehmigten Demonstrationen, wie etwa anlässlich des G20-Gipfels 2009 in Pittsburgh, sollen sie Anwendung gefunden haben.

Tödlich dagegen war der Klang großer Glocken, die man im alten China als Exekutionsmethode eingesetzt haben soll. Das fortwährende Anschlagen der Klöppel erzeugte einen enormen ▸ Schalldruck, der die Delinquenten, die man unter die Glocken fesselte, durch den dadurch ausgelösten extremen Stress qualvoll tötete. Auch DANTE beschrieb im 14. Jahrhundert diese Lärmfolter in der „Göttlichen Komödie“ bei seiner „Reise durch die Hölle“.

Nicht nur Geräusche und Glockenklänge, auch Musik lässt sich einsetzen, um das Nervengerüst eines Menschen zum Einsturz zu bringen. Im Jahr 1989 marschierten trotz massiver internationaler Proteste US-Truppen in Panama ein, um – so die offizielle Begründung – die dort lebenden 35.000 US-Bürger vor der Diktatur Manuel NORIEGAS zu beschützen. NORIEGA, der sich selbst zum Machthaber Panamas ernannt hatte, galt international als Verbrecher. Innerhalb von vier Tagen hatten die Amerikaner Panama unter ihre Kontrolle gebracht, nur NORIEGA selbst, von dem sich Präsident George BUSH „nicht zum Narren machen lassen wollte“, hatte sich dem Zugriff entzogen, indem er sich in die vatikanische Botschaft in Panama-Stadt flüchtete. Dort konnte er von den Amerikanern nicht mit Gewalt herausgeholt werden. Sie beschallten daher die Botschaft Tag und Nacht mit ohrenbetäubender Hardrock-Musik. Nach zehn Tagen gab der Diktator auf und stellte sich.

Auch im Gefangenenlager Guantanamo gehörte die Dauerbeschallung mit Musik zu den praktizierten Foltermethoden. „No-Touch Torture“ oder auch „weiße Folter“ wird diese Art der Misshandlung genannt. Man berührt die Gefangenen nicht, man hinterlässt keine sichtbaren Spuren an ihren Körpern, aber man zerstört ihre Seele. Was ist das besonders Grausame an dieser Folter? Ehemalige Gefangene, Interviewpartner des Autors des Films „Musik als Waffe“, Tristan CHYTROSCHEK, schildern dies so: Werden durch Verletzungen eines Körperteils Schmerzen zugefügt, kann man sich eventuell noch gedanklich in eine innere Welt zurückziehen. Bei dieser Art der Folter wird einem aber auch noch die letzte Zufluchtsmöglichkeit entzogen, die Insel im Inneren. Man kann keinen Gedanken mehr fassen, es wird die innere Welt zertrümmert. Der Mensch wird wahnsinnig auch dadurch, dass der extrem laute Schall von der Außenwelt isoliert und einem den Boden entzieht. So zermürbt, liefert man sich bereitwillig denjenigen aus, die einen verhören und mit wohlklingenden Worten Halt versprechen. Der Komponist zahlreicher Melodien der Kinderserie „Sesamstraße“, Christopher CERF, zeigte sich in dem Film „Musik als Waffe“ erschüttert, als er erfuhr, dass seine Melodien als Folterwerkzeug in Guantanamo eingesetzt wurden.

Lauter Schall

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