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EIN UNIVERSUM AN AUSDRUCKSFORMEN

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Die Mittel und Methoden der Verständigung im Tierreich sind, kurz gesagt, unermesslich, und zahlreich sind auch die Funktionen, die diese Verständigung erfüllt: Sie reguliert den Zusammenhalt oder die gleichmäßige räumliche Verteilung der Tiere, grenzt Reviere und Territorien gegeneinander ab, begründet soziale Ordnungen und Hierarchien, stiftet Kampf oder Frieden, erleichtert das schnelle Reagieren auf Bedrohungen durch natürliche Feinde, dient der Fortpflanzung und der Aufzucht der Jungen und ermöglicht den Ausdruck so unterschiedlicher Empfindungen wie Aggressivität und Zuneigung, Angst und Wohlbefinden.

Zur Erfüllung all dieser Aufgaben hat die Natur wahrhaft bewundernswerte Kommunikationsformen hervorgebracht: Die Duftstoffe weiblicher Schmetterlinge, vom Winde verweht, vermögen Männchen aus kilometerweiter Entfernung anzuziehen. Die Rufe und Gesänge von Blau- und Buckelwalen lassen sich im Ozean noch in 100 km Entfernung auffangen, und als die Weltmeere noch nicht von lärmenden Motorschiffen befahren waren, müssen sie im Wasser mehrere hundert Kilometer weit vernehmbar gewesen sein. Bei vielen Tieren ist der Austausch eines genau festgelegten Kanons von wechselseitigen Signalen und Schlüsselreizen unabdingbar, damit Männchen und Weibchen die Paarung vollziehen können (das bekannteste Beispiel ist der „Hochzeitstanz“ der Stichlinge), und bei einigen helfen vom Männchen abgesonderte Stoffe (Pheromone) sogar, den Sexualzyklus des Weibchens zu regulieren. Die noch im Ei befindlichen Jungen einiger Vogelarten bereiten sich durch Lautsignale auf ein gemeinsames Schlüpfen vor, und bei einem koloniebrütenden Vogel, der Lumme, nimmt der Nachwuchs schon im Ei Lautkontakt mit den Eltern auf und erkennt sie an der Stimme, noch bevor er sie zum ersten Mal gesehen hat. Selbst der sprichwörtliche stumme Fisch ist in Wahrheit keineswegs stumm, sondern vermag mit Hilfe seiner Schwimmblase und anderer Körperteile rhythmische Töne zu erzeugen, die Signalcharakter besitzen.


Sehr ausgeprägt ist das Ausdrucksverhalten bei Wölfen. Es regelt durch Dominanz- und Drohgebärden wie durch Unterwürfigkeitsgesten das Sozialverhalten innerhalb der Gruppe.

Die aus der vergleichenden Verhaltensforschung hervorgegangene „Zoosemiotik“ (Wissenschaft von den Signalen im Tierreich) hat vor einigen Jahrzehnten begonnen, in dieses verwirrende Universum an Kommunikationsformen hineinzuleuchten. Sie versucht, den Kosmos ein wenig zu ordnen, indem sie die zahllosen unterschiedlichen Verständigungsweisen nach ihrem Medium bzw. „Kanal“ (akustisch, optisch, chemisch, taktil), nach ihrer Funktion (Fortpflanzung, Revierabgrenzung, Warnung vor Feinden usw.), nach ihrem Wirkungsradius (Nah- und Fernkommunikation) und einigen anderen Kriterien unterteilt. Neben der Entschlüsselung und beschreibenden Klassifizierung dieser Systeme versucht sie aber auch, Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten mit der menschlichen Sprache herauszuarbeiten. Dabei geht es natürlich nicht zuletzt um die Frage, ob angesichts der immensen Vielfalt und des Variantenreichtums der tierischen Verständigungsformen die traditionelle Auffassung noch haltbar ist, nach der der Mensch als einziges Wesen über Sprache verfügt und dieser Sprachbesitz sein wichtigstes Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Tieren bildet.

Wer sprach das erste Wort?

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