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Anachronistische Helden

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In den homerischen Epen manifestiert sich das Wertesystem und Lebensgefühl der griechischen Eliten.10 Der Bekenntnischarakter, der den Lobpreisungen innewohnt, lässt die Kehrseite einer tiefgreifenden Krise erahnen. Durch Hervorhebung der Gegensätze bleibt sie für uns erkennbar. Der selbstbewusste Adlige schätzte alle diejenigen gering, die er in unüberwindlichem Abstand zu seinem eigenen exklusiven Lebenskreis verortete. Handwerker, nichtadlige Landbesitzer und Kaufleute wurden als Vertreter der gesellschaftlichen Gruppierungen, denen kein heldisches Leben vergönnt war, ignoriert, wenn nicht sogar verachtet.11 Und doch waren es gerade diese sozialen Schichten außerhalb der vornehmen gesellschaftlichen Kreise, von denen die Anstöße zur Aushöhlung der traditionellen Adelswelt ausgingen. Die Thersites-Episode und Hesiods despektierliche Epitheta über die Repräsentanten der Adelskultur12 liefern einen Vorgeschmack dafür. Den Auflösungserscheinungen des traditionellen Ordnungsgefüges hielt der homerische Held seine eigenen Wertvorstellungen entgegen: Kriegerethik, Streben nach Ruhm und Ehre sowie seine Individualität stellte er höher als Solidarität und Gemeinsinn. Was wie ein Bekenntnis zur Einseitigkeit anmutet, ist nichts anderes als der zum Scheitern verurteilte Versuch, die soziale und politische Realität des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. zu verdrängen. In der Vermittlung dieses Spannungsverhältnisses thematisierte Homer auf subtile Weise eine anthropologische Grunderfahrung, die Jahrhunderte später durch Cervantes’ Don Quijote in seinem sprichwörtlichen Kampf gegen Windmühlen erneut ins geistesgeschichtliche Bewusstsein gehoben werden wird. Diesbezüglich hat Paul Ingendaay eine geistreiche Metapher gefunden, um die Essenz dieses bahnbrechenden Oeuvres zu verdeutlichen, wenn er schreibt: „Es ist eben doch mehr als ein Roman, eher eine flüssige Substanz, die in die kulturellen Erdschichten der Welt eingesickert ist und die Qualität des Trinkwassers für immer verändert hat“.13 Was für Cervantes zu Recht in Anspruch genommen wird, gilt nicht minder für Homer, den Meister der epischen Erschließung der Welt.

Doch bei aller Sympathie, ja vielleicht sogar Nostalgie, die Homer für die Repräsentanten einer untergehenden Adelsschicht aufbrachte, ignorierte er keineswegs ihre Schattenseiten, die er durchaus skeptisch verzeichnete. Eine kritische Einstellung gegenüber Machtträgern war durchaus nicht ungewöhnlich. Sie hatte verschiedene Ursachen und fand im außergriechischen Kulturkreis ihre Parallelen.14 Am deutlichsten lässt sich die negative Einschätzung der autokratischen Machtansprüche einzelner Individuen bei den Hebräern feststellen.15 Die anklagenden Töne speisten sich aus zwei Quellen. Eine Strömung, die sich am schärfsten im Alten Testament artikulierte, verwarf aus prinzipiellen Erwägungen heraus die Machtfülle ehrgeiziger Individuen. Die andere gründete in der Enttäuschung, die durch den Machtmissbrauch Einzelner verursacht wurde, erkannte aber die Daseinsberechtigung der Führungsschicht grundsätzlich an. Mit letzterer haben wir es in den homerischen Epen zu tun. Meistens verbarg sich hinter solchen Einstellungen ein Besserungskonzept. Es klang wie eine beschwörende Mahnung, wenn Hesiod in starker Anlehnung an Homer16 das Bild des gerechten basileus geradezu hymnisch umschrieb: Die aber rechten Bescheid Einheimischen geben und Fremden, gerade und schlicht, und weichen nicht ab auch nur etwas vom Rechten, denen gedeiht die Gemeinde, und in ihr blühen die Sippen. Friede beschirmt die Jugend im Land, und es lässt nicht bei ihnen unglückseligen Krieg entstehen Zeus, Späher ins Weite. Nie wird der Hunger Begleiter bei rechtlich handelnden Männern, nie der Ruin, sie vollbringen ihr Werk für festliche Freuden, reichen Ertrag bringt denen ihr Land, und auch auf den Bergen bringt der Eichbaum Eicheln im Wipfel, Bienen im Stamme. Und ihre wolligen Schafe sind schwer von lastenden Flocken. Und ihre Weiber gebären den Eltern gleichende Kinder. Unaufhörlich gedeihen sie an Gütern. Und nicht auf Schiffen fahren sie hinaus, es bringt ihnen Frucht kornspendender Acker.17

Der Evozierung einer solchen gesellschaftlichen Idylle schloss sich komplementär die Verwünschung der das Recht beugenden, sich des Frevels schuldig machenden Potentaten eines politischen Verbandes an, die in apokalyptischen Drohungen gipfelte: Denen sendet vom Himmel herab viel Leiden Kronion, Hunger und Seuche zugleich; hinstarben die Leute in Scharen. Und es gebären die Frauen nicht mehr, es schrumpfen die Häuser nach ZeusWillen und Sinn, des Olympiers; oder es hat auch denen den stattlichen Heerbann vertilgt, eine Feste genommen oder die Flotte auf See, zum Vergelt Zeus, Späher ins Weite. Adlige Herren, ach wolltet auch ihr von euch aus bedenken solches Gericht! 18

Derartig leidenschaftliche Plädoyers für die Verwirklichung der Gerechtigkeit im Alltag können den ihnen innewohnenden Anteil von Gesellschaftskritik kaum verhehlen. Zumindest dürfen sie als Entwürfe dafür gelten, wie sich die früharchaische Welt den mustergültigen Adligen vorstellte. Nicht vergessen sollte man dabei, dass solche Idealbilder aus der Not der grauen Wirklichkeit geboren waren. Das Herausstreichen der Attribute, die man dem weisen Staatsmann zusprach, verdichtet sich zu einer Wunschvorstellung. Sie zeigt unmissverständlich, woran es im konkreten Alltagsleben mangelte.19 Insofern dienten die Preisgedichte nicht nur der Proklamation der Wertvorstellungen des aristokratischen Publikums, sondern legten gleichsam den Finger in die Wunde.20

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