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4 Der Mythos Alexander

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Autorität flog ihm zu. Lebenslänglich. Er hätte sich rechtzeitig in ein öffentliches Amt zurückziehen müssen. Das Amt hätte er verlassen können mit 65 Jahren. Er aber hatte die ihm zugewachsene Macht in einem Privatunternehmen konzentriert. Sechs mögliche Nachfolger waren verbraucht. Er war nicht fähig, Macht zu teilen. Seine Kräfte fühlte er schwinden.

(Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt)

Alexanders Odyssee hatte elf Jahre gedauert (334–323 v. Chr.). Alles, was er tat und was wir in ihn projizieren, bezieht sich auf diese knapp bemessene Zeitspanne. Daher zeigt das Fundament für seine Beurteilung eine auffällige Konzentration von Raum-, Zeit- und Wirkungsfaktoren als Rahmenbedingungen einer politischen Biographie, die sich durch ungewöhnliche Gedrängtheit und Dichte auszeichnet. Kaum ein Jahr verging ohne ungewöhnliche Taten, dramatische Brüche oder aufsehenerregende Wendungen. Angesichts seiner spektakulären Auftritte auf den Schlachtfeldern des Orients birgt die retrospektive Analyse seiner Aktionen die Gefahr, die Bilanz dieser Jahre zu verabsolutieren, zu überschätzen oder gar zu gering zu veranschlagen. Dass er als titanische Persönlichkeit in Erinnerung blieb, unterstreicht das Außergewöhnliche eines Lebenswegs, um den sich schon früh Mythen rankten.

Es begann mit dem Feldzug gegen das Achaimenidenreich, den er als König der Makedonen und als Hegemon des Korinthischen Bundes eröffnete. Aus dieser Doppelfunktion resultierte sein Verhalten, das bemüht war, den sich daraus ergebenden divergierenden Anforderungen zu genügen. Je tiefer er in den asiatischen Raum vorstieß, umso stärker wandelten sich sein Auftreten und sein Erscheinungsbild. Nach den Anfangserfolgen überwucherten die ersten legendären Züge die historisch erfahrbaren Stationen seiner asiatischen Expedition. Schon nach der Landung am östlichen Ufer des Hellespont, bei der er im Gewand des Achilleus zur Befreiung der ionischen Griechen vom persischen Joch aufrief, zerstreute er jedweden Verdacht, dass er einen gewöhnlichen Beutefeldzug im Sinne hatte. Zahlreiche Inszenierungen wie der Speerwurf in den asiatischen Boden, das Opfer in Aulis, der Besuch in Troja oder die Ehrungen am Grab des Achilleus knüpften an mythologisch konnotierte Episoden an, mit denen er die Schirmherrschaft der vor Troja kämpfenden griechischen Heerführer für seine Aktionen reklamierte. Seine mit vielen Fragezeichen versehene Unternehmung sollte an die homerischen Helden erinnern und damit den Mythos einer glorreichen Vergangenheit in den Dienst einer ungewissen Zukunft stellen. Die erste überaus riskante Feldzugsphase, die anders als es die nachträglich geglätteten Quellenzeugnisse nahelegen, den jugendlichen König an den Rand des Abgrunds brachte64, stand unter der Ägide einer panhellenischen Ideologie, als deren Vollstrecker er sich vor der griechischen Öffentlichkeit wirkungsvoll in Szene setzte. Doch nachdem die westlichen Satrapien des Achaimenidenreiches besetzt werden konnten, integrierte Alexander einheimische Elemente und Persönlichkeiten in sein entstehendes Herrschaftssystem. Er änderte an den bestehenden Verhältnissen so wenig wie möglich und übertrug seinen Vertrauten Schlüsselstellungen. Daneben bekleideten sorgsam ausgewählte Mitglieder der persischen Oberschicht Leitungsfunktionen in seinem sich stets vergrößernden Führungsstab. Schon hier offenbarte sich Alexanders Pragmatismus, der den panhellenischen Geist seines Feldzuges konterkarierte, als Konstante seiner künftigen Strategie der Machterhaltung.

Als Alexander Karien betrat, wurde eine Facette seines Regierungsstils sichtbar, die danach ebenfalls in Ägypten und Babylon zur Anwendung kam: Die Regeneration der im Verlauf der persischen Herrschaft verschütteten Traditionen dieser Regionen. Er ließ sich von der karischen Fürstin Ada adoptieren, um von der einheimischen Bevölkerung als rechtmäßiger Nachfolger akzeptiert zu werden, was die Legitimation seiner Ansprüche verstärkte. Der Drang nach Absicherung seiner keineswegs gefestigten Herrschaft führte schon bald in der offiziellen Kriegspropaganda zu einem diffusen Ideologiekonglomerat, das jederzeit den sich verändernden Gegebenheiten angepasst werden konnte.

Nach dem Sieg bei Issos weigerte sich Alexander, auf Dareios’ III. Vorschlag einer Reichsteilung einzugehen. Mit der Ablehnung eines Verständigungsfriedens unterstrich er seine Ambitionen auf den asiatischen Kontinent. In seinen Plänen war kein Platz für ein nach dem Vorbild seines Vaters Philipp II. gestaltetes Großmakedonien.65 Alexanders Ziele waren ehrgeiziger. Der bereits bestehenden Dominanz über Makedonien, Griechenland und Kleinasien wollte er die Herrschaft über das restliche Achaimenidenreich hinzufügen. Die Umrisse einer Universalherrschaft, die Orient und Okzident zugleich umfasste, erschienen erstmalig am Horizont. Um das hochgesteckte Ziel zu verwirklichen, setzte er seine hervorragend ausgebildete Armee und damit Makedoniens Schicksal immer wieder aufs Spiel.

Mit der Eroberung Ägyptens und der anschließenden Krönung zum Pharao war Alexander seiner makedonischen Heimat weit entrückt. Von Bedeutung war sein Besuch im Heiligtum des Zeus-Ammon in der Oase Siwah, wo er eine Bestätigung seiner göttlichen Abstammung erhalten haben soll oder dies zumindest gegenüber seiner Umgebung suggerieren konnte. Hervorzuheben ist die fortwährende propagandistische Absicherung seiner vielfältigen Herrschaftsansprüche durch sakrale Handlungen und religiöse Motive.66 Zahlreiche Prophetien und Prodigien sollten die Konformität der Götter mit seinen diversen Vorhaben zum Ausdruck bringen und zugleich seine Gefolgschaft anspornen. Seine öffentlich zur Schau getragene Verbundenheit mit den auf seiner Wanderschaft liegenden Orten, die eine Beziehung zu den bis ans Ende der Welt treibenden Herakles oder Dionysos aufwiesen, verstärkte diese Identifizierungstendenzen.67

Sein unstillbares Verlangen nach Ruhm, Ehre und Macht erhielt unmittelbar nach der definitiven Niederlage seines Gegners Dareios III. 331 v. Chr. die ersehnte Bestätigung, als er noch auf dem Schlachtfeld von Gaugamela vom siegreichen Heer zum König von Asien proklamiert wurde. Einen solchen Titel, der einen kontinentalen Herrschaftsanspruch verkündete, hatte noch niemand geführt.68 Nach seinem triumphalen Einzug in Babylon setzte er sich in Besitz der Königsresidenzen und erfüllte sich einen Lebenstraum, indem er in Susa auf dem Thron der Achaimeniden Platz nahm. Die Brandschatzung des Palastes von Persepolis war der Höhepunkt des Feldzuges und zugleich ein bewusst gesetztes Zeichen, welches das Ende des Rachekrieges signalisierte. Denn unmittelbar darauf beeilte er sich, das Grab des Dynastiegründers Kyros in Pasargadai zu restaurieren, um dem Schöpfer des Perserreiches seine Ehrerbietung zu erweisen. Die Bewunderung für Kyros in der griechischen Welt war groß. Xenophon hatte ihm in seiner Kyropädie, einem Werk, das Alexander sicherlich kannte, ein Denkmal gesetzt. Die ostentativ bekundete Wertschätzung für Kyros hatte eine politische Komponente.69 Ebenso wie die karische Herrscherin Ada oder die Pharaonen nahm ihn Alexander in Anspruch, um sich in seine Nachfolge einzureihen. Kyros wurde damit zum Vorgänger des jugendlichen Welteroberers. Wenn wir die Reihe der glorreichen „Vorfahren“ näher betrachten, die Alexander im Verlauf seiner Expeditionen anhäufte, so fällt auf, dass er sowohl menschliche als auch göttliche Akteure in einer Genealogie des Erfolges vereinte: Philipp II., Achilleus, Ada, die ägyptischen Pharaonen, Zeus-Ammon, Herakles, Dionysos und jetzt auch Kyros, der die Tugenden des Achaimenidenhauses verkörperte. Die Aufbietung gerade dieser Gründerikone verkündete eine unmissverständliche Botschaft: Dareios III. war es nicht wert, in seine Fußstapfen zu treten. Nur Alexander erwies sich kraft seiner Leistungen als der würdige Nachfolger des Reichsgründers.


Alexander, Prägung des Diadochen Lysimachos (um 286/82), London British Museum)

Nach der Beseitigung des Dareios 330 v. Chr. übernahm Alexander die Hofhaltung der Achaimeniden. Er kleidete sich persisch, verwendete das Königssiegel und ließ sich mittels der Proskynese aufwarten. Die Opposition der Makedonen war unüberhörbar, und so kam es zu schweren Loyalitätskrisen70, auf die Alexander erbarmungslos reagierte, indem er zunächst Philotas und seinen Vater Parmenion beseitigen ließ. Die Missstimmung aber blieb. Sie brach sich in Marakanda Bahn, als Alexander seinen Gefährten Kleitos eigenhändig tötete, was eine persönliche Krise auslöste. Kurz darauf weigerte sich ein Teil seines makedonischen Gefolges, von Kallisthenes angestiftet, die Proskynese zu vollziehen. Der König hatte dies nicht vergessen und entledigte sich seiner anlässlich der Pagenverschwörung. Die Opposition gegen Alexander richtete sich nicht nur gegen sein zunehmend autokratisches Gebaren, sondern war zugleich Ausdruck der Fehlplanungen und Unzulänglichkeiten des Feldzuges in den Jahren 330 bis 327 v. Chr., der im ostiranischen Raum in eine Sackgasse zu geraten drohte. Eine Reihe von Rückschlägen unterminierte die Autorität des Königs, der darauf mit Aktionismus und Brutalität reagierte. Die Unzufriedenheit des makedonischen Kriegeradels blieb und meldete sich anlässlich der kritischen Etappen des Feldzuges wiederholt zu Wort. Am heftigsten geschah dies 326 v. Chr. bei der erzwungenen Rückkehr am Hyphasis und 324 v. Chr. bei der Meuterei in Opis. Die Widerstände aus den eigenen Reihen hingen auch mit der Frage der künftigen politischen Gestaltung der asiatischen Eroberungen zusammen. Hätten die Perser Griechenland besetzt, was zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. durchaus denkbar schien, wäre es einfach als weitere Satrapie dem Achaimenidenreich einverleibt worden. Dazu hätte es keinen Umbau des bestehenden Staatsorganismus bedurft, sondern lediglich eine Erweiterung des bewährten Herrschaftsbereiches erfordert. Die imperiale Tradition orientalischer Großmächte wie Sumer, Akkad, Assyrien oder Babylon, deren Erbe die Perser antraten, erleichterte ihnen diese Aufgabe. Demgegenüber stand dem Makedonenkönig kein vergleichbares Modell der territorialen Integration zur Verfügung, das die nötigen Erfahrungen und die passenden Mechanismen bereithielt, um eine derart komplexe Aufgabe zu bewältigen. Während die riesige Landmasse des Achaimenidenreiches verhältnismäßig leicht Gebietserwerbungen verkraften konnte, vermochte die makedonische Monarchie damit kaum Schritt zu halten: Nicht nur, weil die Größe der Erwerbungen die Machtzentrale erdrückt hätte, sondern auch, weil sie aufgrund ihrer Eigenart und Geschichte damit überfordert gewesen wäre. Dass Alexander auf diese drängende Herausforderung keine Antwort fand, hängt gewiss mit seiner unerwarteten Erfolgssequenz zusammen, die, schneller als gedacht, vollendete Tatsachen schuf. Doch offenbart der Wechsel seiner Parolen und Ziele, die sich dem Verlauf des Feldzuges anpassten, weniger die Verlegenheit des Eroberers, als vielmehr die Strukturschwäche seiner Ausgangs-position. Dagegen blieb aber die Methodik seiner Herrschaftssicherung stabil. Sie wies den Weg der künftigen politischen Gestaltung: Alexander setzte von Anfang an auf die Übernahme der persischen Verwaltungspraktiken und verwandelte sich immer mehr zu einem westlichen Herrscher auf dem orientalischen Thron. Babylon statt Pella lautete die Alternative, die Alexander nur allzu bereitwillig ergriff.

Alexanders Erfolge beruhten auf der Ausschöpfung des gewaltigen Potenzials der makedonischen Kriegerelite in Verbindung mit seiner eigenen Besessenheit. Sie schufen einen Präzedenzfall. Indem sie die Verwundbarkeit sowie die Veränderbarkeit der vorherrschenden politischen Verhältnisse schonungslos aufdeckten, eröffneten sie die Möglichkeit zur Bildung neuer Synthesen. Eines ihrer folgenreichsten Ergebnisse war die Entstehung eines gewandelten Raumhorizontes. Die Kleindimensionalität der griechischen Polis, die Regionalität der makedonischen Stammesherrschaft, die Abgeschlossenheit der asiatischen Landmasse des Achaimenidenreiches wurde plötzlich aufgebrochen. Daraus gingen eine globalisierte Welt, präzisere Raumvorstellungen und -wahrnehmungen sowie ein tieferes Verständnis für den Zusammenhang zwischen Land und Meer hervor. Die größere Durchlässigkeit zwischen Ost und West, die deutlich verbesserten Kommunikationswege und ein bisher unbekannter Sinn für Territorialität trugen dazu bei, neuartige Kulturzonen zu schaffen, welche die geltenden politischen Maßstäbe sowie die tradierten geographischen Dimensionen sprengten.


Stationen des Alexanderzuges

Seit Alexander der Heimat den Rücken gekehrt hatte, war er zum mächtigsten Potentaten der Welt aufgestiegen. Die Basis seiner Ausnahmestellung war nicht mehr allein das makedonische Königtum, sondern die Vielfalt der aus seinen Eroberungen resultierenden Herrschaftsrechte. Er war König von Makedonien und von Asien, Hegemon des Korinthischen Bundes, ägyptischer Pharao, Herr zahlloser Städte und Völker, die er erobert hatte. Diese beeindruckende Anhäufung von Ämtern, Befugnissen und Funktionen verlieh ihm eine außerhalb jeder Diskussion stehende Autorität. Er konnte nach Belieben über Truppen, Ressourcen, Menschen, Ländereien, Geldmittel, Flotten, Städte und Versorgungsgüter verfügen. Die an manche Beschränkung gebundene Machtausübung des makedonischen Königs geriet zunehmend in den Hintergrund, während sich sein Regierungsstil immer stärker dem der Achaimeniden anglich. Die persischen Könige waren uneingeschränkte Gebieter über Land und Leute. Obwohl sie über einen Stab von Beratern verfügten, trafen sie die Entscheidungen in letzter Instanz.71 Sie waren auch die Erben der altorientalischen Monarchien mit ihrem universalen Herrschaftsanspruch. Ihre religiöse Doktrin war der Zoroastrismus, was sie nicht daran hinderte, andere Kulte zu dulden und zu fördern.72 Ähnlich verfuhr Alexander, der sich als Protektor aller Religionen seines Herrschaftsgebietes stilisierte. Eine seiner wichtigsten politischen Maximen war die Verwirklichung einer Integrationspolitik, die allerdings in seiner makedonischen Umgebung auf Skepsis stieß. Doch bis auf wenige Ausnahmen gehorchte sie immer, wenn es ihr König verlangte.

Bereits während der ersten Phase seines kleinasiatischen Feldzuges, die mit der Einnahme der ionischen Städte einen Abschluss fand, zeichneten sich die späteren Verhaltensmuster ab. Anstatt die befreiten Städte in den Korinthischen Bund aufzunehmen, verharrten sie unter Alexanders Befehlsgewalt, so wie sie in der Vergangenheit der Souveränität des Achaimenidenkönigs überstellt worden waren. Alexander dachte nicht daran, das makedonische Staatsgebiet durch gezielte Arrondierungen zu vergrößern. Sein persönliches Regiment trat im Verlauf seiner Expeditionen noch deutlicher hervor. Die Rückkehr des Truppenaufgebotes des Korinthischen Bundes, das er in Ekbatana entließ, markierte die Wende. Ab diesem Zeitpunkt eroberte er auf eigene Rechnung den Ostteil des Perserreiches. Getrieben von unersättlichem Ehrgeiz und beispiellosem Ruhmstreben wurden die Grenzen seines Handelns nur noch von der Natur gezogen. Niemand forderte Rechenschaft von ihm. Wir erleben die Herausbildung einer individuellen Machtstellung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Ihre Grundlagen waren der gewaltige militärische Erfolg, die daraus resultierenden Ressourcen, die notgedrungene Akzeptanz seiner Herrschaft durch die Besiegten und nicht zuletzt die überaus komplexe Persönlichkeit Alexanders, die Furcht und Bewunderung zugleich hervorrief. Seine Vitalität und Energie, seine im Ertragen von Strapazen unbegrenzte Ausdauer, sowie seine genialische Improvisationsfähigkeit und Siegeszuversicht wirkten auf seine Umgebung ansteckend.

Bei aller Hochachtung vor seinen Errungenschaften darf jedoch nicht verdrängt werden, dass sie eine unübersehbare Blutspur hinterließen. Unzählige Menschenleben wurden schuldlos Opfer seiner unbezähmbaren Ambitionen. Zwar kündeten glanzvolle Siege, prächtige Bauten und ein Kranz neu entstandener Städte von seiner Wanderung bis zu den Grenzen der damaligen Welt, aber der Preis, der dafür entrichtet werden musste, war hoch. Gewalt, Zerstörung und vielerlei Zumutungen gegenüber seinen Zeitgenossen sind die Wegbegleiter der Feldzüge Alexanders. Angesichts seiner komplexen Persönlichkeitsstruktur wäre es allerdings einseitig, in ihm lediglich einen rohen Kriegsmann zu sehen.73 Er zeigte sich stets für Wissenschaft und technische Neuerungen interessiert, gab sich gegenüber fremden Lebenswelten überaus aufgeschlossen. Daneben war er ein religiös äußerst beflissener Mensch, der sämtliche Heiligtümer, die auf seinem Weg lagen, aufsuchte und ehrte. Auch ließ er regelmäßig aufwändig ausgestattete athletische, künstlerische und literarische Wettbewerbe veranstalten, bei denen sich sein Heerlager zeitweilig in eine „Kulturwerkstatt“ zu verwandeln schien.74 Alexander lässt sich nicht unter einem einzigen Etikett subsumieren. Für einige verkörperte er die militärischen Tugenden schlechthin. Andere verehrten ihn gar als gottähnliche Herrscherpersönlichkeit.75 Es gab aber auch welche, die in ihm einen blutrünstigen Autokraten erblickten: rachsüchtig, despotisch und selbstverliebt. Gerade seine brutale Kriegführung in Baktrien und Sogdien, die in Indien noch eine Steigerung erfuhr, bestätigte diese von Unerbittlichkeit und Gewalt durchtränkte dunkle Seite seines Wesens.76 Darüber darf seine nachträglich geschönte Charakteristik nicht hinwegtäuschen, wie sie uns etwa bei Plutarch begegnet und stets allgemeine Zustimmung gefunden hat.77 Gewiss lassen sich manche noblen Züge, welche die Apologeten, wie etwa Arrian, dem bewunderten Idol zuschreiben, nicht in Abrede stellen. Doch daneben brechen sich immer wieder Rachsucht, Egoismus und Grausamkeit Bahn, sowie eine stark ausgeprägte Egomanie, die ihn gelegentlich blind für die Stimmung seiner Umgebung werden ließ. Alexander ließ niemanden gleichgültig. Die Palette der Wahrnehmungen und Reaktionen, die er hervorrief, ist unüberschaubar.78

Unbestreitbar ist, dass niemals zuvor ein Machtmensch so rasch eine derartige weltumspannende Geltung erlangen konnte. Sein Herrschaftsanspruch war universal, weil er einerseits an das Erbe des Orients anknüpfte, wo solche Gedanken zu Hause waren, und weil er andererseits einen unbändigen Willen zur Macht erkennen ließ79, der die bislang geltenden Grenzen sprengte. Letzterer manifestierte sich in seiner Beharrlichkeit und Ausstrahlung, die trotz selbstverschuldeter Rückschläge, wie die Katastrophe in der Gedrosischen Wüste, wenig darunter litt. Dennoch konnte sein Charisma nicht verhindern, dass in dem Maße, wie sein Prestige alle herkömmlichen Maßstäbe sprengte, seine institutionelle Stellung labil blieb. Ohne ihn erwies sich das Konzept der universalen Monarchie als bloße Makulatur. Die Zukunft würde vielfältige Formen der Vergegenwärtigung Alexanders erleben. Aber nicht seine politischen Projekte fanden Nachahmer. Diese erhoben vielmehr seine Taten zum Maßstab der Imitatio. Wer sich in seine Fußstapfen begab, musste es ihm gleichtun; es genügte nicht, sich in den Besitz seiner Titel und Funktionen zu bringen. Alexanders Erbe war sein unnach-ahmliches Verhalten, kein System; denn nur jenes konnte Systeme ändern oder aufbauen, wie seine antiken Nachahmer wussten. Möglicherweise hätte dies Augustus, der Erbauer der römischen Monarchie, am besten erklären können, wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, ihn danach zu fragen.80

Wagemut, der oft genug in Tollkühnheit ausschlug, penetrante Verbissenheit, die sich zur Rastlosigkeit steigerte, unkonventionelle Pläne, die in Megalomanie ausarten konnten, sowie unerhörte Siege, welche die gewöhnlichen Parameter von Erfolg sprengten, markierten sein Grenzgängertum. Letztere bildeten die Grundlagen eines unvergleichlichen politischen Werdegangs. Alexander wird zum Synonym für Sieghaftigkeit und Erfolg. Die Objekte seiner Siege – Städte, Menschen, Territorien – waren Lohn und Aufgabe zugleich. Der darin liegende Widerspruch, der den Spannungsbogen zwischen egoistischer Verfolgung selbst gestellter Ziele und sachgemäßer Verwaltung der erworbenen Länder umriss, konnte zeitweise zwar überspielt, aber nie überwunden werden. Alexanders Tod verschärfte die Situation zusätzlich. Danach trat der Charakter der Fremdherrschaft im Orient deutlicher als zuvor zum Vorschein. Primär wurde das gewaltsam akquirierte Reich durch die Armee sowie durch die nicht unproblematische Ko-operation einer dazu genötigten persisch-makedonischen Elite zusammengehalten, die ihren Standort durch ihre Nähe zum König definierte. Nicht ein gewachsenes Zusammengehörigkeitsgefühl oder eine von den meisten Teilvölkern getragene Überzeugung oder ein politisches Programm bildeten die Klammer zwischen den verschiedenen Ethnien und den divergierenden Interessen der Regionen, sondern gemeinsamer Bezugspunkt war und blieb Alexander, genauer: die in seiner Person sich verdichtende Machtfülle. Auch nicht Freiwilligkeit oder Einsicht, vielmehr Zwang und Einschüchterung bildeten die Grundlagen des heterogenen Staatsgebildes. Dies war keine langfristig tragfähige, sondern eine durchaus brüchige Basis. Ihre Konsistenz verdankte sie dem Verhalten der Führungsschichten, in letzter Instanz dem Geschick Alexanders. Alles hing von ihm ab. Ständige Präsenz vor Ort, Aktualisierung seiner Machtstellung durch neue Erfolge und Vermeidung von Erosionen an den Rändern des Vielvölkerstaates bildeten die unverzichtbaren Bedingungen für die Behauptung einer trotz allem äußerlichen Glanz doch fragilen, personalen Herrschaft.

Eine Rückkehr in die Heimat, verbunden mit einer Wiederauflage der von Philipp II. vorgezeichneten Regeln königlicher Machtausübung, die Makedonien einst groß gemacht hatten, war für Alexander außerhalb seines mittlerweile verwandelten Politikverständnisses geraten.81 Sie wurde auch nicht ernstlich erwogen. Nur von den asiatischen Gravitationszentren Babylon, Susa und Ekbatana aus, die in Äquidistanz zu den weit gespannten Grenzen des Reiches lagen, schien dessen sinnvolle künftige Organisation und Verwaltung möglich zu sein. Wenn von den letzten Plänen Alexanders die Rede ist, so werden als Ziele Arabien und die Länder des westlichen Mittelmeerraumes genannt. Dass er seiner Jagdleidenschaft in den makedonischen Wäldern wieder frönen könnte, schien ganz unwahrscheinlich geworden zu sein. Makedonien, Ausgangspunkt und Machtbasis der politischen Existenz Alexanders, erlebte den schleichenden Verlust der einstigen Sonderstellung. Es spielte zunehmend die Rolle einer ferngesteuerten regionalen Ordnungsmacht, die sich zum Reservoir für Soldaten und Führungspersonal für den Hofstaat des weit entfernt weilenden Königs verwandelte. Das einstige Zentrum verrutschte allmählich an die Peripherie des Geschehens. Stammland und König, Makedonien und Alexander strebten immer weiter auseinander. Die makedonische Generalität der Vielvölkerarmee Alexanders empfand instinktiv diesen Dualismus als Gefährdung. Wenn von dieser Seite Kritik am Herrscher vernehmbar wurde, so geschah dies meist, um ihn daran zu erinnern, dass er sich von seinen heimatlichen Wurzeln entfernte und dabei Gefahr lief, seine Hausmacht zu verlieren. Makedonien schien zunehmend ein Modell der Vergangenheit zu werden, das seine Anziehungskraft dramatisch einzubüßen drohte.

Die letzten Entwürfe Alexanders, die ohnehin disparaten Dimensionen seines Reiches durch zusätzliche Erwerbungen zu vergrößern, mögen als unerlässliche Bausteine auf dem Weg zur Universalmonarchie oder gar als Kompensationsstrategien einer zunehmend brüchigen Herrschaft gedeutet werden: politisch gesehen waren sie kontraproduktiv. Die adligen Weggenossen Alexanders, die Philipps II. Handeln mitgetragen hatten, der Politik stets als realitätsnahe Kunst des Möglichen betrieb, hielten seinem Nachfolger mit wachsender Ungeduld mahnend den Spiegel vor. Für Alexander aber bedeutete Politik etwas anderes. Nicht die Anpassung der vorhandenen Möglichkeiten an erreichbare Ziele, sondern scheinbar unerreichbare Ziele mit den vorhandenen Möglichkeiten bewältigen – das war sein Leitsatz. Darin erwies er sich im Sinne des klassischen Begriffsverständnisses als unpolitischer Mensch. Ihm ging es vielmehr um Errungenschaften und weniger um Wirklichkeiten, er strebte primär nach unsterblichem Ruhm und weniger langfristigen Wirkungen. Dass ihn, wie bei seinem Vorbild Achilleus, der Tod auf dem Höhepunkt seiner Lebenslinie einholte, überrascht kaum. Ein alter, gebrechlicher Alexander erscheint ziemlich unvorstellbar. Er passt nicht in das Porträt des ewig jugendlichen Grenzgängers, welches sein Mythos bereits zu seinen Lebzeiten von ihm entwarf. Bei der Nachzeichnung dieser Nahtstellen vermischen sich Historie und Legende. Das Ergebnis dieser wechselseitigen Durchdringung entfacht die fortwährende Erneuerung seines Bildes, das bis in die jüngste Gegenwart seine eigentümliche Lebendigkeit bewahrt. Wie bei kaum einer anderen Gestalt der Weltgeschichte schärft gerade sein abruptes Verschwinden das Bewusstsein für seine Abwesenheit und schafft somit das Bedürfnis nach dessen Vergegenwärtigung. Dass die Welt nach Alexander das auf keine einfache Formel zu bringende Phänomen des zwischen Triumph und Scheitern wechselnden Welteroberers als Orientierungsinstanz und als Ausgangspunkt ihrer Zukunftsvisionen gebrauchte, um sich an ihm zu messen, zu reiben oder zu beweisen, bleibt einer der untrüglichen Beweise für die Aktualität seiner zwischen Mythos und Historie hin und her pendelnden Biographie.

Die Alte Welt

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