Читать книгу Auswahlband Krimi Winter 2020 - A. F. Morland - Страница 58

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Es dämmerte schon und New York begann sich in ein Lichtermeer zu verwandeln, als wir Arlene O’Donovans Adresse aufsuchten. Gary Schmitt benutzte einen Chevy aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft. Während der Fahrt aßen wir ein Sandwich, das wir uns von einem der fliegenden Händler besorgten, die in der Ära von Bürgermeister Giuliani beinahe völlig aus der Stadt vertrieben worden wären.

Milo hatte schneller aufgegessen als ich, da er nicht am Steuer saß. Daher rief er bei Arlene O’Donovan an, um uns anzukündigen. Schließlich wollten wir den Weg durch die halbe Stadt nicht vergeblich machen.

Milo schaltete sein Mobiltelefon über die Freisprechanlage, sodass ich mithören konnte.

„Kommen Sie ruhig vorbei, Agent Tucker“, sagte Arlene O’Donovan. „Vorausgesetzt es stört Sie nicht, dass noch jemand hier ist.“

„Sie haben Besuch?“, fragte Milo.

„Mister Clinton Gorey. Er ist einer von Darrens engsten Mitarbeitern gewesen…“

„Es haben sich ein paar Aspekte ergeben, zu denen sich vielleicht ja auch Mister Gorey äußern möchte“, gab Milo zurück.

Wenig späte beendete er das Gespräch.

„An den Namen Gorey erinnere ich mich“, sagte ich. „Er stand tatsächlich auf der Liste der engeren Mitarbeiter von Hoffman. Allerdings habe ich seine Aussage als unauffällig in Erinnerung…“

„Tja, so eng scheint dann doch niemand mit ihm zusammengearbeitet zu haben.“

Wir erreichten das Cast Iron-Haus in Chelsea, in dem sich Arlene O’Donovan eingemietet hatte. Den Sportwagen stellten wir in eine Tiefgarage ab, die zu dem Gebäudekomplex gehörte. Dr. Gary Schmitt parkte den Chevy aus der Fahrbereitschaft nur ein paar Parklücken weiter.

Mit dem Aufzug ließen wir uns zu Arlene O’Donovans Wohnung tagen. Sie öffnete uns. Ein verhaltenes Lächeln erschien in ihrem Gesicht, als sie Milo und mich sah. Dr. Schmitt hingegen wurde einer eingehenden Musterung unterzogen.

Ich stellte Schmitt kurz vor.

„Er bittet darum, bei dem Gespräch dabei zu sein und Ihnen auch ein paar Fragen stellen zu dürfen“, sagte ich.

Arlene O’Donovan hob die Augenbrauen. „Ich habe nichts dagegen“, sagte sie und führte uns dann ins Wohnzimmer.

Ein Mann in abgewetzter Lederjacke saß in einem der Sessel. Er war um die dreißig. Im Gesicht wucherte etwas, das irgendwie kein richtiger Bart werden wollte und die strähnigen Haare reichten ihm fast bis in die Augen.

Clinton Gorey erkannte uns sofort wieder. Milo und ich hatten zwar nicht persönlich mit ihm gesprochen, aber wir schienen ihm trotzdem in Erinnerung geblieben zu sein.

„Sind Sie bei der Suche nach Darrens Mörder inzwischen schon ein Stück vorangekommen?“, fragte Arlene.

„Wie man’s nimmt“, erwiderte ich. „Dank der Arbeit unseres Profilers Dr. Gary Schmitt haben wir zumindest ein deutlich klareres Bild des Täters.“

„So?“

„Ich habe eine Liste der zwanzig wichtigsten Merkmale festgestellt, die wir bei dem Täter vermuten“, ergriff Schmitt das Wort und holte einen Computerausdruck hervor. „Wenn Sie Personen kennen, auf die mindestens 15 dieser Merkmale zutreffen und die mit Darren Hoffman bekannt waren, dann geben Sie uns die Namen bitte an. Es spielt dabei keine Rolle, ob Sie sich bei der betreffenden Person vorstellen können, ob sie zu so einem Delikt fähig wäre oder nicht. Und ich möchte Ihnen außerdem sagen, dass der Betreffende nicht automatisch von uns als Tatverdächtiger gesehen wird…“

Arlene O’Donovan runzelte die Stirn. Sie las sich die von Dr. Schmitt aufgelisteten Merkmale durch.

„Wissen Sie, ich sagte Ihnen ja schon, dass Darren so gut wie kein Privatleben geführt hat… Und was seine Arbeit betraf, so war da immer alles streng geheim.“ Sie lächelte. „Um so glücklicher bin ich, dass Mister Gorey den Weg zu mir gefunden hat.“

„Sie haben sich bisher nicht gekannt?“, fragte ich.

„Nur dem Namen nach“, antwortete Arlene O’Donovan. „Darren hat Mister Gorey ein paar mal erwähnt. Aber ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass er mit ihm mehr Zeit verbracht hat als ich.“ Ein mattes Lächeln glitt über ihre Lippen. „Jedenfalls tut es gut, mit jemandem zu reden, der Darren auch sehr gut kannte – wenn auch vielleicht von einer anderen Seite.“

„Das geht mir umgekehrt auch so“, sagte Gorey. „Und das ist auch der Grund, weshalb ich Miss O’Donovan aufgesucht habe. Darren hat in den Mittagspausen viel von Arlene gesprochen. Ich glaube, sie war für ihn der wichtigste Mensch.“

„Woran haben Sie zuletzt zusammen gearbeitet?“, fragte ich.

„Tut mir Leid, ich kann Ihnen gerne über alles Auskunft geben, was mit Darrens Person zusammenhängt – aber unsere Arbeit unterliegt der absoluten Geheimhaltung. Das können Sie sich doch denken und wenn Sie unseren Executive Manager kennen gelernt haben, dann werden Sie auch verstehen, dass ich mich an diese Vorgaben lieber halten möchte.“

„Aber den Namen des Kunden könnten Sie uns doch verraten.“

„Bedaure.“

„War es zufällig die Firma Reigate Electronics in Chicago?“

„Wie gesagt, dazu möchte ich mich nicht äußern.“

Ich holte ein paar Fotos hervor. Sie zeigten James Tavernier sowie die beiden Männer, die ihn zu Tode gefoltert hatten – William Curtiz und Brian Gonzales. „Kennen Sie einen dieser Männer?“

„Nein, bedaure. Diese Fotos haben mir schon Ihre Kollegen gezeigt und ich kann Ihnen gegenüber nur noch mal wiederholen, dass ich die Kerle nicht kenne.“

„Aber mit dem hier“, Arlene deutete auf Tavernier, „hatte Darren am Tag vor seinem Tod Streit, da bin ich mir ganz sicher.“ Sie wandte sich an Gorey. „Überlegen Sie doch mal…“

„Tut mir Leid“, sagte er.

„Unsere Kollegen haben Ihnen sicher gesagt, dass wir davon ausgehen, dass Darren Hoffman sensible Daten verkauft hat“, mischte sich nun Milo ein. „Und vielleicht haben Sie sich auch schon intern Gedanken darüber gemacht, wie das technisch möglich gewesen ist. Schließlich…“

„Natürlich haben wir uns darüber Gedanken gemacht!“, erwiderte Gorey ziemlich gereizt. „Um ehrlich zu sein, zerbrechen wir uns bei SuperSecure über kaum noch etwas anderes den Kopf! Sie ahnen ja nicht mal, welche Katastrophe das für uns alle sein kann!“

„Das hat mir Tamara Jordan bereits eindringlich klargemacht“, gab ich zurück.

„Ich weiß nicht, wieso Sie mich hier verhören, als ob ich ein Schwerverbrecher wäre! Denkern Sie vielleicht, ich hätte etwas damit zu tun? Glauben Sie, ich stecke in diesem Sumpf mit drin oder hätte vielleicht sogar Darren umgebracht?“

„Nun beruhigen Sie sich“, griff nun Dr. Schmitt in das Gespräch ein. „Sehen Sie sich doch bitte auch mal den Merkmalkatalog an, den ich vom Täter erarbeitet habe. Vielleicht fällt Ihnen ja jemand ein…“

„Vielleicht sollte ich mir einen Anwalt nehmen…“

„Natürlich steht Ihnen dieses Recht zu“, sagte Gary Schmitt in einem sonoren Tonfall, der gewiss schon auf zahllose Probanden seinen beruhigenden Einfluss nicht verfehlt hatte. Gorey war da keine Ausnahme. Schmitt fuhr fort: „Aber ich hielte das für übertrieben. Es beschuldigt Sie niemand… Sehen Sie sich die Liste einfach in Ruhe an. Ich weiß, es sind alle in diesem Raum angespannt. Das geht mir genauso. Anhand der Spuren, die der Täter hinterlassen hat, habe ich ein sehr klares Bild von ihm. Ich sehe in quasi vor mir – und doch kann ich im Moment nichts tun, um ihn zu stoppen.“

„Sie glauben, dass er weiter töten wird?“, fragte Arlene.

„Vor Darren Hoffman hat er mindestens 12 Menschen umgebracht. Möglich, dass wir von weiteren Opfern noch gar nichts wissen. Ja, wenn Sie mich so fragen, dann kann ich leider nur antworten, dass dieser Mann mit Sicherheit erneut zuschlagen wird. Auch wenn ich nicht glaube, dass es noch einmal einen Mann unter den Opern geben wird…“

Gorey griff nach dem Blatt. Er wirkte nervös und kratzte sich auf der Handoberfläche.

Der Ärmel rutschte dabei etwas hoch. Es wurde sichtbar, dass offenbar der gesamte Unterarm auch zerkratzt war. Erst jetzt fiel mir auf, dass er uns weder die Hand gegeben, noch seine Hände gezeigt hatte. Mal hatte er die Arme verschränkt, mal waren die Hände beim sitzen unter die Oberschenkel geklemmt gewesen… auf jeden Fall hatte er es hinbekommen, dass ich während unseres bisherigen Gesprächs seine Hände noch nicht gesehen hatte.

„Leiden Sie unter Neurodermitis?“, fragte ich.

„Was geht Sie das an…?“ Dann blickte er auf den ausgedruckten Merkmalkatalog. „Ah, jetzt verstehe ich!“, stieß er ziemlich gereizt hervor. „Ja, ich habe Neurodermitis, ich bin nicht gerade dick – das macht mich wahrscheinlich jetzt zum Hauptverdächtigen…“ Er kratze sich etwas heftiger.

„Haben Sie das einem Arzt vorgestellt?“, fragte Dr. Schmitt.

„Ich habe alles getan, was medizinisch möglich ist!“, erwiderte Gorey. „Wenn ich meine Diät einhalte und ich keinen allzu großen Stress habe, dann geht es…“

„Aber die Diät halten Sie nicht immer ein?“

„Ich arbeite mit Maschinen, aber ich bin noch nicht selbst eine!“ Er atmete tief durch. „Ja, ich gebe zu, dass ich nicht immer darauf achte…“

„Sie tragen öfter Autofahrerhandschuhe?“, hakte Dr. Schmitt nach. „Wegen der Abdrücke auf Ihrer Hand…“

„Ich kann Sie leider nicht immer tragen, weil ich inzwischen auch gegen das Leder allergisch bin. Und gegen Schweiß…“

„Haben Sie des Öfteren in Washington DC, Philadelphia oder Chicago zu tun?“, hakte Schmitt nach.

„Nein, in letzter Zeit nicht.“

„Obwohl Sie natürlich Kunden in all diesen Städten haben“, gab ich zu bedenken. „Es ist einfach die Frage, ob wir erst Miss Jordan um Ihren Terminkalender bitten müssen oder ob Sie uns freiwillig Auskunft geben!“

„Das werden Sie wohl tun müssen, denn was Kunden angeht, werde ich von mir aus keine Auskünfte geben. Tut mir Leid.“ Er streckte den Finger aus und deutete auf den Merkmalkatalog. „Aber ich erinnere mich an einen hageren Typen, der sich ziemlich lang am Zigarettenkübel herumgedrückt hat.“

„Und vom wem sprechen Sie da?“, hakte ich nach.

„Von Mister Morane. Er ist Mitarbeiter des Steuerbüros Markham, Donelli & Partners, das für uns auch regelmäßig ein externes Controlling der Buchhaltung durchführt. Miss Jordan müsste Ihnen mehr über ihn sagen können.“

Gorey erhob sich.

„Sie wollen schon gehen?“, fragte Arlene O’Donovan.

„Ja, es war sehr schön, mit Ihnen über Darren reden zu können.“ Er wandte etwas den Kopf, sah erst Gary Schmitt und dann mich einige Augenblicke lang an. „Die Unterhaltung mit Ihnen habe ich dagegen deutlich weniger genossen…“

„Mister Gorey“, begann Schmitt.

Aber Gorey ließ den Profiler nicht ausreden. „Bin ich verhaftet, weil ich mich an den Händen kratze?“ Er streckte sie vor, so als wollte er provozieren, dass sich im nächsten Handschellen um die Gelenke schlossen. „Falls das nicht der Fall ist, entschuldigen Sie mich bitte.“

Dann ging er.

Wir hatten keinerlei Handhabe gegen ihn.

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