Читать книгу Der Arztroman Koffer Oktober 2021: Arztroman Sammelband 10 Romane - A. F. Morland - Страница 11
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ОглавлениеEine Wespe löste das Malheur aus. Das Insekt flog beim offenen Wagenfenster herein und umschwirrte Gaby Lenz, die sofort anfing, wild wie um sich zu schlagen, weil sie nicht gestochen werden wollte. Sie erreichte damit aber genau das Gegenteil. Die Wespe, die sonst vielleicht wieder den Weg zurück ins Freie gefunden hätte, wurde aggressiv und stach nun erst recht zu.
Gaby verlor die Herrschaft über ihr Fahrzeug, das schon in der nächsten Sekunde von der Straße abkam, in den Graben kippte und sich mehrmals überschlug. Gabys Kopf pendelte heftig hin und her, schlug zweimal sehr hart gegen die Seitenstrebe, sie sah Sterne und fühlte eine Ohnmacht auf sich zukommen.
Doch damit nicht genug, stellte sich durch den Wespenstich auch noch ein lebensbedrohlicher anaphylaktischer Schock ein ...
Sie verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, war ein Mann bei ihr, der einen weißen Arztkittel trug. „Ich bin Dr. Ulrich Waldner“, stellte er sich vor. „Sie befinden sich in meiner Klinik.“
Sie sah ihn verwirrt an. „Was ist passiert?“
„Sie wissen es nicht?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Sie hatten einen Unfall“, sagte Dr. Seeberg.
„Einen Unfall?“
„Mit Ihrem Wagen.“
„Wieso kann ich mich nicht daran erinnern?“, fragte Gaby Lenz.
„Sie haben eine schwere Schädelprellung erlitten“, erklärte der Klinikchef. „Die Folge davon ist diese Amnesie.“
„Ich habe mein Gedächtnis verloren?“
„Nur vorübergehend. Ihr Erinnerungsvermögen wird sich bestimmt bald wiedereinstellen. Was ist das letzte, woran Sie sich erinnern?“
„Ich war mit Schwester Gudrun und Schwester Marie-Luise essen.“
„Mit Gudrun Giesecke und Marie Luise Flanitzer?“
„Ja.“ Gaby staunte. „Sie kennen die beiden?“
„Sie arbeiten in der Praxis meines Freundes Dr. Sven Kayser“, erklärte Dr. Seeberg.
„Ach, Sie sind mit Dr. Kayser befreundet. Das wusste ich nicht. Er ist mein Hausarzt.“
„Für gewöhnlich ist es bei einer Schädelprellung nicht nötig, einen Patienten stationär aufzunehmen“, sagte Ulrich Seeberg. „Ein bis zwei Tage Ruhe genügen. Ihr Fall liegt jedoch anders.“
„Wieso?“
„Wissen Sie, was ein anaphylaktischer Schock ist?“
„Nein.“
„Hierbei handelt es sich um eine akute, lebensbedrohliche allergische Allgemeinreaktion des Organismus. Die Anzeichen sind Juckreiz, Hautrötung, Hitzewallungen, Schwellungen am ganzen Körper, Atemnot und Blutdruckabfall sowie Übelkeit und Erbrechen. Es besteht die Gefahr einer Verkrampfung der glatten Muskulatur sowie Kreislaufversagen, und deshalb werden wir Sie fürs erste hierbehalten.“
„Was löst einen solchen Schock aus?“, wollte Gaby Lenz wissen.
„In Ihrem Fall war es ein Wespenstich“, antwortete der Klinikchef. „Wussten Sie, dass Sie gegen Insektenstiche allergisch sind?“
„Nein.“
„Nun hat es sich auf eine ziemlich dramatische Weise herausgestellt“, sagte Dr. Seeberg. „Was sind Sie von Beruf?“
„Ich, ich bin Journalistin.“
„Und wie heißen Sie?“
„Gaby Lenz.“
„Na also, das geht doch schon recht gut“, sagte Dr. Ulrich Seeberg zufrieden. „Gibt es jemanden, den ich für Sie benachrichtigen soll?“
Gaby nickte. „Meinen Vater. Die Nummer ist ... Die Nummer ist...“ Sie seufzte.
Dr. Seeberg lächelte. „Lassen Sie nur, ich finde sie im Telefonbuch.“
„Wir wohnen in Grünwald.“
Dr. Seeberg nickte.
„Bringen Sie es meinem Vater bitte so schonend wie möglich bei“, bat Gaby.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte der Klinikchef. „In diesen Dingen habe ich reichlich Erfahrung. Versuchen Sie jetzt ein bisschen zu schlafen.“
„Das Fenster war offen ... Die Wespe flog herein ... Ich schlug wie verrückt um mich ... Ich erinnere mich wieder, Herr Doktor! “ So etwas wie Erleichterung schwang in ihrer Stimme mit.
„Ist ja großartig“, sagte Dr. Ulrich Seeberg und verließ das Krankenzimmer.
Noch bevor Gabys Vater in der Waldner-Klinik erschien, war Dr. Kayser da. Er war hier Belegarzt, und es gehörte zu seinen Aufgaben, sich so intensiv wie möglich um seine Patienten zu kümmern. Als Sven von Gabys Unfall hörte, begab er sich unverzüglich zu ihr.
„Liebe Güte, was machen Sie denn für Sachen, Gaby?“, sagte der Grünwalder Arzt. „Gudrun Giesecke und Marie-Luise Flanitzer haben das Mittagessen noch nicht einmal völlig verdaut, dass Sie ihnen spendiert haben, da liegen Sie schon im Krankenhaus.“
„Schuld war diese verflixte Wespe“, seufzte die junge Journalistin leise auf.
„Man wird das Ausmaß Ihrer Allergie hier gründlich untersuchen und Ihnen anhand des Ergebnisses sagen, welches Medikament für Sie als sofortige Gegenmaßnahme am geeignetsten ist, falls Sie wieder einmal von einer Wespe gestochen werden“, erklärte Dr. Kayser. „Sie sollten dieses Medikament dann immer bei sich tragen und im Bedarfsfall gleich einnehmen, damit es zu keiner so heftigen Reaktion mehr kommen kann.“
„Ich verstehe das nicht“, sagte Gaby Lenz und schüttelte vorsichtig den Kopf. „Ich meine, ich bin doch nicht erst seit gestern auf der Welt, und ich bin in meinem Leben schon des Öfteren von Wespen gestochen worden, ohne darauf gleich mit einem anaphylaktischen Schock zu reagieren. Wieso tue ich es auf einmal? Befindet sich etwa mein Immunsystem derzeit im Keller? Oder war das Gift dieser Wespe besonders stark?“
„Beides ist möglich“, antwortete Dr. Kayser. „Die Tests werden zeigen, wieso Sie so sehr überreagiert haben.“
Der Grünwalder Arzt warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er musste noch zwei Patienten besuchen und dann in seine Praxis zurückkehren. Er verabschiedete sich von Gaby, wünschte ihr eine rasche Genesung und ging.
Zehn Minuten später erschien Gabys Vater, ein schlanker, gutaussehender Mann, der im kommenden Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag feiern würde.
„Kindchen, Kindchen“, stöhnte Hasso Lenz. „Ich habe auf dem Weg hierher deinen Wagen gesehen. Das muss ja ein grauenvoller Unfall gewesen sein! Kaum zu glauben, dass er so glimpflich abging, wenn man das Wrack sieht. Wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Wie lange musst du in dieser Klinik bleiben?“
„Ich denke, dass ich in längstens drei Tagen wieder zu Hause bin“, antwortete Gaby. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Papa, ich befinde mich auf dem Wege der Besserung.“
„Dr. Seeberg sagte ...“
„Er hat dich hoffentlich sehr schonend informiert“, fiel Gaby ihrem Vater ins Wort.
„O ja, das hat er.“ Hasso Lenz nickte. „Er brachte mir wirklich sehr behutsam bei, was passiert ist. Dennoch war’s ein Schock für mich.“ Er wiegte den Kopf. „Du gehst aus dem Haus, bist bester Dinge und ein paar Stunden später werde ich angerufen und muss erfahren, dass du dich mit deinem Wagen überschlagen hast.“
„Ich bin eine schlimme Tochter. Ich sollte dich nicht so aufregen.“
Hasso Lenz lächelte. „Wenn du eine brave Tochter sein möchtest, sieh zu, dass du so bald wie möglich nach Hause kommst.“
„Ich werde mein Bestes tun“, versprach Gaby. „Du hast übrigens Dr. Kayser knapp verpasst.“
„Er war hier?“
Gaby nickte. „Vor wenigen Minuten.“
„Ein sehr sympathischer Mensch“, stellte Hasso fest.
„Aber in seiner Praxis lässt du dich nicht blicken.“
Hasso Lenz hob die Schultern. „Was soll ich denn da? Ich stehle dem guten Mann doch nicht seine Zeit.“
„Ich habe dir ausgerichtet, was er gesagt hat.“
„Dass ich ihn mal wieder was verdienen lassen soll?“
„Richtig“, sagte Gaby.
„Ich habe das als Scherz aufgefasst.“
„Wenn diese Worte auch mit Sicherheit ein Witz waren – Dr. Kayser würde dich gerne mal untersuchen.“
„Mir geht es gut“, behauptete Gabys Vater.
„Und deine permanente Abgeschlagenheit?“
Hasso Lenz winkte ab. „Das hat sich in den letzten Tagen stark gebessert.“ Gaby kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Machst du dir da auch ganz bestimmt nichts vor?“
„Ich fühle mich großartig“, versicherte der Mann. „Ich könnte Bäume ausreißen.“
„Aber nur ganz junge, frisch gepflanzte.“
Hasso Lenz hob die Hand. „Verdrehe hier nicht die Tatsachen, meine Liebe. Wer von uns beiden liegt in einem Krankenbett? Du oder ich? Wer von uns beiden wird ärztlich betreut? Ich oder du?“
„Wir werden uns sehr ernsthaft darüber unterhalten, sobald ich wieder zu Hause bin“, erklärte Gaby, die sich von ihrem Vater nicht täuschen ließ. Vielleicht fühlte er sich im Augenblick wirklich recht gut, aber das konnte schon morgen wieder ganz anders sein. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Das vermochte seine ganze Schönfärberei nicht zu übertünchen.