Читать книгу 11 fantastische Horror-Romane zum Fest - A. F. Morland - Страница 68
29.
ОглавлениеDas Mausoleum des Oliver Grant lag in einem abgelegenen Teil des parkähnlichen Geländes, in dessen Mittelpunkt das Hauptgebäude der Mystic High School von Saint Morn stand.
Nora und Rick hätten dort wahrscheinlich sogar blind hingefunden. Aber für Brian war das alles neu.
Als er dann das Mausoleum hinter einer Hecke und hohen Büschen auftauchen sah, war er ziemlich überrascht, denn das Mausoleum, das sich Oliver Grant für die Totenruhe hatte bauen lassen, war größer als mancher Bungalow.
Es gab ein großes Säulenportal, über dem der Spruch Übles dem Übel eingraviert war.
Der Wahlspruch der Mystic High School schien bereits das Motto von Oliver Grant gewesen zu sein.
Darunter standen seine Lebensdaten: Oliver Grant, geboren am 1. August 1638 in Bristol, England – gestorben am 30. Januar 1699 in Saint Morn, Massachusetts.
Im Inneren des Gebäudes war ein Licht zu sehen.
Rick ging als erster hinein. Die anderen folgten ihm. „Keine Sorge, dieses Geblinke hat nichts mit irgendwelchen übersinnlichen Kräften zu tun.“ Er seufzte hörbar. „Wenn man auf eine Schule wie diese geht, dann ist man schon ziemlich auf die tägliche Arbeit konzentriert“, gestand er zu. „Da vermutete man dann hinter allem gleich irgendein übernatürliches Phänomen und kann sich kaum noch vorstellen, dass es auch Dinge gibt, die sich auf ganz herkömmliche Weise erklären lassen.“
„Ja, ist bei so betriebsblinden Bücherwürmern wie Alec Murphy vielleicht so“, meinte Nora etwas spitz. „Aber auf mich trifft das nicht zu.“
Brian mischte sich in das Gespräch zwischen den beiden nicht ein. Der Dauer-Zoff, der zwischen Nora und Rick herrschte, schien so etwas wie eine Konstante an der Mystic High School zu sein. Auf jeden Fall nahm er sich vor, sich in Zukunft darum zu kümmern, dass er sich besser gegen unliebsames Gedankenlesen abschirmen konnte.
Durch eine Öffnung in der Decke fiel das Mondlicht herein und traf auf den steinernen Sarkophag in der Mitte des Raumes, auf den noch einmal der Name von Oliver Grant mit seinen Lebensdaten eingraviert war.
Davon abgesehen gab es am Kopfende einen Hohlspiegel, der das einfallende Mondlicht im Raum verteilte. Er leuchtete heller, als die meisten Lampen.
„Coole Konstruktion“, meinte Brian anerkennend.
„Oliver Grant glaubte immer an den wohltuenden Einfluss des Mondes“, erläuterte Rick Sabano. „Er soll angeblich auch ein paar Abhandlungen über Mondgötter und deren Verehrung im Laufe der Geschichte verfasst haben – naja, soweit man damals schon darüber bescheid wusste.“
„Du kannst ja Alec mal fragen, was er davon hält“, meinte Nora etwas spöttisch. „So wie ich ihn kenne, wird er sie gelesen haben...“
„Wieso liest du nicht einfach seine Gedanken, um das zu erfahren?“, gab Rick etwas spitz zurück. „Oder weiß er dagegen ein paar wirksame magische Mittel?“ Rick wandte sich an Brian. „Bei Gelegenheit solltest du dich mal vertrauensvoll in dieser Angelegenheit an Alec wenden, damit er dir zeigt, wie man sich gegen diese zudringliche Person zur Wehr setzt!“
„Willst du unserem neuen Mitschüler noch unbedingt klarmachen, was für eine dumme Tussi ich bin, bevor er sich dann in einen Werwolf verwandelt oder wollen wir ihm jetzt helfen?“, giftete Nora zurück.
Ein durchringender, stöhnender Laut beendete den Dauerstreit zwischen den beiden erstmal. „Ich soll euch in Ruhe lassen und darf mir noch nicht einmal den Spaß erlauben, euren Unterricht etwas Interessanter zu gestalten, aber umgekehrt darf jeder dahergelaufene Kerl meine Totenruhe stören!“
Rick Sabano blickte sehr angestrengt auf den Sarkophag, aber für Brian und Nora war da nichts zu sehen. „Mister Grant, ich würde vorschlagen, dass Sie sich sichtbar machen, das erleichtert für uns alle etwas die Unterhaltung, Sir.“
„Und wer sagt euch, dass ich mich überhaupt mit euch unterhalten will?“, antwortete die Stimme.
Brian versuchte schon die ganze Zeit, deren Ursprung zu finden, aber das schien unmöglich zu sein – schon deswegen, weil das Mausoleum eine ganz besondere Akustik hatte, in der jedes Wort mehrfach nachhallte.
„Mister Grant... Ich kann Sie doch sowieso sehen! Also, was soll dieses Versteckspiel? Wenn Sie schon Ihre Stimme für alle hörbar machen, dann können Sie doch auch...“
Rick sprach nicht weiter.
In diesem Moment wurde eine Gestalt sichtbar, die mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Sarkophag platz genommen hatte. Es war unverkennbar der Geist von Oliver Grant, so sie Brian ihn bei seinem letzten Erscheinen gesehen hatte. Grant spielte mit dem silbernen Griff seines Stocks herum und sein Gesicht wirkte ziemlich missmutig.
Er streckte einen seiner dürren Finger in Ricks Richtung aus und meinte dann: „Heute Morgen hast du noch nichts über mich gewusst, als du deine Geistersehergabe dazu missbraucht hast, einen harmlosen Geist wie mich an den gegenwärtigen Schulleiter zu verraten. Und jetzt posaunst du hier bestens informiert alle möglichen Einzelheiten über mein Leben heraus!“, gab sich Grant mit einer Mischung aus Empörung und Verwunderung.
„Ein paar Klicks im Internet und ich wusste über Sie Bescheid, Mister Grant.“
„Was bitte?“
„Sowas Ähnliches wie eine Bibliothek, nur... Ach, was soll's, das erkläre ich Ihnen ein anderes Mal. Wir haben hier ein drängendes Problem, dessentwegen wir Sie ansprechen.“
„Und ausgerechnet ich soll dabei helfen?“
„Ja, denn Sie haben doch während der Werwolf-Plage von 1685 so ihre Erfahrungen gemacht und...“
„Erstens ist das eine sehr persönliche Sache, über die ich ausgesprochen ungern spreche und zweitens: Wie kommst ausgerechnet du Geisterstörenfried darauf, dass ich bereit wäre, dir zu helfen! Jahrhundertelang konnte ich hier ungestört herumspuken und hin und wieder meinen Spaß mit den Lehrern haben, die so im Laufe der Zeit hier ihr Unwesen getrieben haben und dann kommt jemand wie du daher, vor dem sich Geister anscheinend nur sehr schwer verbergen können, und schlägt gleich Krach, wenn man sich mal ein bisschen die Zeit vertreibt!“
„Sir, das tut mit leid – aber andererseits ist es auch eine Unverschämtheit von Ihnen gewesen, aus dem Verborgenen heraus Schabernack mit den Lebenden zu treiben! Und was die Werwolf-Plage angeht: Ich weiß, dass Sie damals Ihren Sohn verloren haben und Sie deswegen persönlich von dieser Sache sehr angegriffen sind. Aber jetzt haben wir hier in Saint Morn ein ähnliches Problem. Brian ist von Werwölfen verletzt worden und beginnt sich zu verwandeln. Und jetzt suchen wir eine Möglichkeit, diesen Prozess aufzuhalten.“
„Sie müssen uns mit Ihrem Wissen helfen, Mister Grant!“, mischte sich nun Nora Baily ein. „Ich mag diesen eingebildeten Typen, der sie vor dem Schulleiter bloßgestellt hat auch nicht, aber er versucht auch nur Brian zu helfen – und damit uns allen...“
Mister Grant rutschte vom Sarkophag herunter. Seine Gestalt wirkte etwas durchscheinend. Man konnte den Strahl des Mondlichts, der durch die Decke in den Hohlspiegel auf den Sarkophag traf, durch ihn hindurch schimmern sehen.
„Das war eine schlimme Zeit damals, im Jahre des Herren 1685... Massachusetts war noch nie ein Gebiet, das bei Wölfen besonders beliebt war, aber in jenem Winter kamen sie zu Dutzenden. Riesenhafte Bestien, deren Augen manchmal aufglühten. Und wen sie in ihre Fänge bekamen, den zerrissen sie, sodass nichts mehr von ihm übrig blieb, als ein paar blutige Lumpen und eine Gürtelschnalle oder ein paar Sporen, an denen wohl selbst sie sich die Zähne ausgebissen haben... Ja, aber noch schlimmer war es bei denen, die sie dazu auserkoren hatten, sich zu verwandeln und welche von ihnen zu werden... So manch einer musste hilflos mit ansehen, wie geliebte Menschen zu reißenden Bestien wurden...“
„Und es gibt kein Mittel dagegen?“, fragte Brian. „Ist es unabwendbar?“
„In den meisten Fällen schon“, sagte der Geist von Oliver Grant. „Die Willenskraft der meisten Menschen ist einfach zu schwach, um sich gegen diesen Einfluss zu wehren. Manchen gelingt es eine Weile und manchmal gelingt es auch, die Verwandlung mit übersinnlichen Mitteln etwas hinauszuzögern... Aber unter normalen Umständen hat der Betreffende keine Möglichkeit, seinem Schicksal zu entgehen. Man kann einen Werwolf nur töten, dann erlöst man den Betreffenden und er verwandelt sich zurück. Aber das ist sehr schwer... Im Grunde geht das nur, indem man ihm Wunden beibringt, die nicht so schnell verheilen können. Wenn du zielsicher genug bist, schlag ihn mit einem Säbel den Kopf ab! Aber dabei kann man natürlich selbst draufgehen. Wenn hundert Kugeln aus hundert Gewehren ihn gleichzeitig treffen, vielleicht würde das ausreichen! Aber ein einzelner Pistolen- oder Musketenschütze kann gegen einen Wolf nichts ausrichten.“
„Aber es kann ja wohl nicht die Lösung sein, ein Erschießungskommando für unseren Freund hier zu bestellen!“, meinte Nora empört. „Fällt Ihnen nicht irgend etwas anderes ein?“
„Es hängt alles von seiner Willenskraft ab“, sagte Oliver Grant. „Es gibt Einzelne, die sich zurückverwandelt haben, und dann Zeit ihres Lebens nicht zum Wolf geworden sind. Aber das ist nicht jedem gegeben. Wie heißt du?“
„Brian Hunter.“
„Du bist arm dran. Und davon abgesehen, siehst du auch noch meinem Sohn ähnlich. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich daran denke, was dir bevorsteht. Deinen Mitmenschen kann man eigentlich guten Gewissens nur raten, dich zu töten, bevor du sie tötest!“
„Und wie ist es Ihnen persönlich gelungen, diese Plage zu überleben?“, fragte Brian.
„Ich hatte einfach Glück. Anders als mein Sohn.“ Der Geist von Oliver Grant wurde etwas verschwommen. Brian sah Tränen in seinen Augen glitzern. „Kommt mal mit“, sagte er dann.
Sie folgten der durchscheinenden Gestalt von Oliver Grant aus dem Mausoleum. „Ich kenne die Gewohnheiten des gegenwärtigen Schulleiters einigermaßen und daher werde ich im Moment wohl relativ sicher sein können, ihm nicht zu begegnen“, brummte er vor sich hin. „Ach, es ist schon ein Kreuz, dass man über Dinge, die man vererbt hat, einfach nicht mehr verfügen kann und dass der Respekt vor den Toten meistens mit der dritten oder spätestens der vierten Generation nachlässt, weil sich dann niemand mehr an sie erinnert und sie mehr oder minder vergessen werden.“
„Durch Auftritte wie den gestern sorgen Sie ja dafür, dass man sie nicht vergisst“, meinte Brian.
„Daran liegt mir nichts mehr“, meinte er.
„Und warum sind Sie noch nicht...“
„Richtig tot? Wolltest du das sagen, Brian.“
Brian war etwas verlegen. „So habe ich es nicht gemeint.“
„Doch, du hast und es ist auch völlig in Ordnung, dass du danach fragst. Da bist du sicher nicht der Einzige, für den das ein Rätsel ist.“ Er tickte die durchscheinenden Schultern und stocherte mit seinem Geisterstock etwas in dem Kies herum, der den Weg bedeckte, der zum Mausoleum führte. Der Stock versank dabei im Boden, ohne eines der kleinen Steinchen dabei zu bewegen. „Seht ihr, das ist das Schicksal aller Totengeister: Nichts mehr bewirken können! Und davon abgesehen kann man nichts von dem ungeschehen machen, was geschehen ist, was noch schlimmer ist. Du hast mich gefragt, warum ich nicht richtig tot bin und meinen Platz im Jenseits gefunden habe. Anscheinend hält mich noch irgend etwas sehr stark hier. So stark, dass ich nicht gehen kann.“
Sie gingen noch ein Stück den Weg entlang und dann blieb Oliver Grant stehen und deutete mit seinem Silberstock zum Ostflügel des Hauptgebäudes.
„Seht ihr das Stück Zaun dort?“
Ein fünf Meter langes Stück aus gusseisernem Zaun stand dort scheinbar völlig sinnlos in der Gegend herum. Eisenspitzen ragten empor.
„Ehrlich gesagt, habe ich mich immer schon gefragt, welcher Bekloppte dafür verantwortlich ist, dass da ein Zaun steht, der nichts einzäunt und auch sonst für nichts gut ist!“, meinte Nora.
„Ich bin dieser Bekloppte, wie du dich sehr wenig damenhaft ausgedrückt hast!“
„Oh, entschuldigen Sie, ich hätte das nicht sagen sollen... Ihr Sohn, nicht wahr? Es ist wegen Ihrem Sohn, deshalb steht der Zaun noch dort....“
„Du hättest das durchaus sagen sollen, aber in einem muss ich dem Schulleiter recht geben: Es ist ungehörig, die Gedanken anderer zu lesen. Auch wenn sie nicht mehr leben!“
„Vielleicht könnte uns Nicht-Telepathen auch mal jemand aufklären“, meinte Brian.
„Mein Sohn und ich, wir waren da oben im zweiten Stock, als sein Wille sich gegen die Verwandlung zu wehren zusammenbrach. Bisher hatte er nur Haare an den Armen und im Gesicht bekommen, die zum Teil wieder verschwanden. Seine Zähne schienen zwischenzeitlich zu wachsen und er fing an zu hecheln wie ein Hund. Aber nun konnte er sich nicht mehr gegen den Drang, ein Wolf zu werden wehren. Und so verwandelte er sich vor meinen Augen und wollte sich auf mich stürzen. Ich hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt, diesen Angriff zu überleben. Er war ein so großer Wolf geworden, dass die Jagdhunde unserer nächsten Nachbarn dagegen wie kleine Welpen gewirkt hätten. Im letzten Moment konnte ich ihn abwehren und habe ihn dabei schwer verwundet. Aber dadurch war sein Verstand für einen Moment wieder klar. Ein einziger Augenblick, in dem er zwar äußerlich ein Wolf war, aber in dem sein Verstand wieder normal arbeitete und er wieder Herr seiner selbst zu sein schien. Und noch während die Wunde, die ich ihm beigebracht hatte, verheilte, entschied er sich für einem Sprung durch das Fenster – anstatt sich nochmal auf mich zu stürzen und mich zu zerfleischen oder gar zu einem von ihnen zu machen. Er landete genau auf den gusseisernen Spitzen, die ihn durchbohrten. Dabei verwandelte er sich dann zurück.“
„Oh mein Gott, das ist ja schrecklich!“, meinte Nora.
„Er hat es so gewollt“, sagte Oliver Grant. „Da bin ich mir sicher. Er hat es vorgezogen, sich selbst zu töten, anstatt mich zu töten und dann als mordgierige Bestie durch das Land zu ziehen.“
„Und deswegen steht der Zaun noch hier?“, fragte Brian.
„Das habe ich verfügt. Ursprünglich war die Gartenanlage mal kleiner und der Zaun begrenzte das Anwesen. Aber dieses Stück musste stehen gelassen werden, das habe ich testamentarisch verfügt und auch die Ritter vom Heiligen Licht sind an diese Weisung gebunden...“
Jetzt ist mir klar, weshalb der Geist von Oliver Grant noch hier bleiben muss!, ging es Brian durch den Kopf. Es musste dieses Erlebnis sein, dass Grant wohl nie verwunden hatte.
Einige Augenblicke des Schweigens folgten, ehe sich Brian noch einmal an Grant wandte. „Eine Frage, Sir...“
„Bitte!“
„Sie sprachen davon, den Werwolf verletzt zu haben.“
„Richtig.“
„Wie haben Sie das geschafft?“
„Oh, Entschuldigung, ich war so in die Gedanken an die Vergangenheit vertieft, dass ich es beinahe vergessen hätte. Als Geist hat man soviel Zeit, weil man die Hast der Lebenden nicht mehr kennt...“ Grant knöpfte seinen dunklen Rock ein Stück auf und holte etwas darunter hervor. Es war eine ziemlich altertümliche Pistole – allerdings ebenso durchscheinend wie seine ganze restliche Gestalt. „Womit ich den Werwolf, zu dem mein Sohn wurde, verletzt habe, willst du wissen? Hiermit!“
„Ich nehme an, aus diesem Grund tragen Sie die Waffe auch bei sich – ich meine, über Ihr eigentliches Leben hinaus“, vermutete Rick Sabano. „Das ist oft bei Geistern so. Dinge, die ihnen im Leben besonders wichtig waren, werden zu einem Teil ihrer Geistererscheinung – so wie es offenbar bei Ihrer Pistole der Fall ist!“
„Ja, das ist richtig. Und vielleicht kann ich deinem Freund doch helfen... Allerdings nicht endgültig. Es wäre nur ein Aufschub und ich weiß nicht, ob es überhaupt funktioniert. Schließlich ist es nur eine Geisterwaffe. Das Original wurde leider irgendwann im Laufe der Zeit entwendet und ist nicht mehr auffindbar.“
Plötzlich griff Oliver Grant in seine Tasche und holte eine Silberkugel hervor. Er spuckte zweimal auf sie. „Das bringt Glück“, war er felsenfest überzeugt.
„Mister Galway sagt, die Dinger wirken nicht!“, stellte Brian fest.
„Da hat er auch recht, sofern er Kugeln aus reinem Silber meint. Das ist Aberglaube. Das Silber dient bei dieser Kugel allerdings nur als Umhüllung für eine Substanz, die ich zusammen mit dem Alchemisten Reginald Gordon entwickelt. Sie hemmt jegliche Verwandlungsprozesse und muss eigentlich eingenommen werden. Allerdings werdet ihr sicher verstehen, dass es relativ schwierig ist, einen Werwolf dazu zu überreden, das Zeug zu sich zu nehmen....“ Er stopfte die Kugel in den Lauf der altertümlichen Pistole. Aus einer der seiner Taschen holte er eine Portion in Papier eingewickeltes Pulver hervor, mit der er die Waffe lud. „Alles sorgfältig abgewogen. Ich habe das seit dem Tod meines Sohnes stets bei mir getragen, ohne es je noch einmal anwenden zu können. Die Werwölfe zogen sich damals plötzlich zurück...“
„Der Grund dafür würde uns sehr interessieren“, sagte Brian. „Vielleicht...“
„Einen Moment!“, unterbrach Oliver Grant ihn.
Er machte einen Schritt zurück und richtete die Waffe auf Brian. Ehe dieser sich versah, drückte er ab.
Der Knall war ohrenbetäubend und obwohl die Waffe so geisterhaft war wie ihr Besitzer, roch es nach Pulverdampf.
Brian spürte, wie ihn etwas zurückriss. Die Geisterkugel war in seine Brust gedrungen und blieb dort stecken. Für Augenblicke klaffte dort eine Wunde, die von bläulichen Blutspuren umflort wurde.
Dann allerdings schloss sie sich wieder. Alls, was blieb, war ein Loch im Pullover und T-Shirt. Ungläubig betastete Brian die Stelle. „Das... das ist doch nicht möglich!“
„Oh, oh, das sieht nicht gut aus!“, meinte Oliver Grant.
„Was meinen Sie damit?“, wollte Rick wissen.
„Und was ist das überhaupt für eine grobe Rustikalbehandlung, mit der Sie vorgehen!“, empörte sich Nora.
„Also die Substanz in der Silberkugel wird den Verwandlungsprozess für eine Weile anhalten“, sagte Grant. „Aber nur für eine Weile. Niemand kann sagen, wie lange es noch gut gehen wird und dieser junge Mann nicht einen seiner Freunde nach dem anderen zerreißt! Er hat zweifellos einen starken Willen, was an sich eine gute Voraussetzung ist. Aber andererseits...“
Oliver Grant machte ein sehr bedenkliches Gesicht.
„Andererseits, was?“, bohrte Brian nach, dem der Schrecken noch in den Gliedern saß.
„Deine Wunde hat sich sehr schnell geschlossen. Das ist kein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass bei dir die Verwandlung schon weiter fortgeschritten ist, als man es dir vielleicht äußerlich anzusehen vermag. Kann sein, dass deine starke Willenskraft dafür verantwortlich ist, dass dieser Unterschied besteht. Möglich, dass auch dein Talent etwas damit zu tun hat, das kann ich nicht genau sagen.“
„Würden Sie an meiner Stelle noch mit ihm in einem Zimmer schlafen?“, fragte Rick.
„Für diese Nacht könnte es gut gehen. Danach würde ich es nicht riskieren.“ Er warf einen Blick in den Lauf der Pistole und kniff dabei ein Auge zu.
„Sage Sie uns das Rezept der Substanz!“, verlangte Brian.
„Das kann ich nicht! Reginald Gordon wollte mir das Geheimnis immer verraten, aber er starb, bevor er es aufgeschrieben hatte... Die letzte Portion dieses Stoffes ist jetzt in deinem Körper und entfaltetet dort hoffentlich seine Wirkung. Eigentlich dachte ich immer, dass ich noch irgendwo etwas davon gut versteckt habe, aber das ist so lange her...“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, es ist nur ein Aufschub. Aber mehr kann ich leider nicht für euch tun. Und jetzt muss ich mich schleunigst davonmachen.“
„Aber Mister Grant!“
Er drehte sich um und ging davon. Noch während er die ersten Schritte hinter sich brachte, verblasste er und war im nächsten Augenblick nicht mehr zu sehen.