Читать книгу 11 fantastische Horror-Romane zum Fest - A. F. Morland - Страница 86
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Das Rad der Zeit drehte sich um weitere hundert Jahre.
Das Dorf war größer geworden. Die Dorfkneipe existierte immer noch. Und obwohl andere Menschen in diesem englischen Dorf wohnten, erzählten sie sich immer noch dieselben unheimlichen Geschichten.
In der Kneipe war im Laufe der Zeit vieles geändert worden. So zum Beispiel stand der Stammtisch nicht mehr neben der Tür, sondern rechts neben der Theke. An den Wänden klebten Tapeten, man trank aus neu angeschafften Krügen und Gläsern.
Wie gesagt – nur die schaurigen Geschichten, die man sich erzählte, waren immer noch dieselben.
Es war kurz nach Mitternacht, und der Wirt überlegte bereits, ob er die letzte Gäste, die ja doch kaum noch etwas verzehrten, vor die Tür setzten sollte. Er gähnte mehrmals demonstrativ, damit die Leute sahen, wie müde er schon war und wie gern er nun ins Bett kriechen wollte.
Zwei Männer erhoben sich, grüßten kurz und verließen die Kneipe.
Die letzten drei blieben, bis der Wirt missmutig »Sperrstunde!« rief. Dann erhoben sie sich mit ärgerlichen Blicken und machten sich schließlich ohne Eile auf den Weg.
Der Wirt schloss hinter ihnen sofort die Tür ab, damit keiner der Trunkenbolde auf die Idee kommen konnte, noch mal umzukehren.
Dann schlurfte er mit müden Schritten durch das rauchgeschwängerte Lokal.
Als er die Tür erreicht hatte, die in die Küche und in die angrenzende Wohnung führte, hämmerte jemand laut und ungestüm an die geschlossene Kneipentür.
Jeder Schlag dröhnte durch die leere Gaststube, hallte durch das ganze Haus.
Missmutig drehte sich der Wirt um.
»Nix da!«, knurrte er. »Es ist geschlossen.«
Fäuste hämmerten in scheinbar wilder Verzweiflung an die Tür.
»Verdammt noch mal, irgendwann habe auch ich ein Recht auf Ruhe!«, sagte der Wirt ärgerlich, und er war nicht gewillt, die Tür noch einmal aufzuschließen. »Morgen ist auch noch ein Tag. Der Whisky kostet morgen dasselbe Geld. Also, geht jetzt nach Hause und kommt morgen wieder!«
Die Schläge wurden verzweifelter.
Ein Gurgeln erschreckte den Wirt plötzlich. Er kniff die Augen zusammen.
Hört sich verdammt danach an, als ob jemand Hilfe braucht, überlegte der Mann.
Er schüttelte unwillig den Kopf.
»Nix da! Ich mache nicht mehr auf. Das gibt bestimmt Ärger, und wenn es etwas Ernstes ist, komme ich womöglich überhaupt nicht mehr ins Bett in dieser Nacht.«
Die Schläge wurden mühsamer.
Ein Stöhnen drang durch die Tür. Ein Röcheln folgte. Dann glaubte der Wirt zu hören, wie dort draußen jemand umfiel.
»Mist!«, ärgerte er sich. Aber er war schon auf dem Weg zur Tür. Immerhin war er kein Unmensch. Und wenn dort draußen jemand war, der seine Hilfe brauchte, dann war es seine Pflicht, zu helfen. Das wusste der Wirt, und er handelte danach, wenn er auch schimpfte.
Mit schnellen Schritten durchquerte er den Gastraum. Er fasste nach dem Schlüssel. Draußen röchelte und stöhnte jemand nun ganz deutlich.
»H-ilfe! H-ilfe!«
Bestürzt drehte der Wirt den Schlüssel herum. Er zog auch den schweren Eisenriegel zur Seite, den er im vergangenen Jahr sicherheitshalber hatte anbringen lassen, denn es war im Dorf verschiedentlich eingebrochen worden.
Schnell riss er nun die Tür nach innen auf.
Da lag etwas auf dem Boden.
Ein blutgetränktes Fetzenbündel. Ein blutgetränktes menschliches Fetzenbündel!
Menschlich war eigentlich kaum noch die richtige Bezeichnung. Was da vor der Kneipentür auf dem Boden lag, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen. Die Person war nicht mehr zu identifizieren, und es grenzte an ein Wunder, dass es dieser Mensch geschafft hatte, sich bis hierher zuschleppen, egal, woher er kam.
Zuckend lag der fürchterlich zugerichtete Körper vor den Füßen des ratlosen Wirtes. Er wusste nicht, wie er helfen sollte. Jeder helfende Griff konnte den Tod dieses Mannes zur Folge haben.
Schrecklich sah der Bedauernswerte aus. Er blutete aus unzähligen tiefen Wunden, die ihm die Krallen vieler Raubtiere zugefügt zu haben schienen.
Der Mann hob das verstümmelte Gesicht.
Er wollte mit seinen aufgerissenen, zerfetzten Lippen etwas sagen.
Der Wirt beugte sich zu dem Sterbenden hinunter, der ihm mit letzter Kraft noch etwas anvertrauen wollte.
»Ruhig! Ruhig!«, keuchte der Wirt voller Mitleid.
Ein Zittern durchlief den Körper des gefolterten Mannes.
»Hexen!«
»Wie?«
»Hexen!«
»Hexen?«
»Ja. Galgenbaum... Sie sind ... über ... mich hergefallen ... Wilde ... Jagd! ...«
Kaum zu verstehen waren die Worte, die die zerfleischten Lippen bildeten.
Trotzdem begriff der Wirt sofort, was diesem Mann beim Galgenbaum widerfahren war.
Es war ihm genauso ergangen wie Farr, Holt, Kollo und Jones. Der Wirt kannte die Geschichte, die man sich von diesen Unglücklichen erzählte.
Nun hatten die verfluchten Hexen wieder zugeschlagen.
Nach hundert Jahren.
Noch einmal versuchte sich der schwer gepeinigte Mann noch aufzurichten. Ein entsetzlicher Seufzer entrang sich seiner Brust, deren Rippen gebrochen waren.
Dann sackte er zusammen. Er hatte ausgelitten.