Читать книгу 7 Kriminalromane für lange Dezember-Nächte - A. F. Morland - Страница 53

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Dunst im Unterholz, Dunst im Blätterdach des Urwaldes, Dunst im Uniformstoff, Dunst in Mund, Nase und Lungen - warmer feuchter Dunst. Das Atmen fiel schwer, das Stirntuch war klatschnass, der Schweiß kitzelte zwischen den Bartstoppeln.

Hinter sich hörte O’Brian seine Männer keuchen, Äste brachen unter ihren Stiefeln, Laub raschelte, wenn sich die Zweige des dichten Gestrüpps zur Seite bogen - gottverdammtes grünes, feuchtes Gestrüpp! Vor sich die Spitze des Stoßtrupps - drei Corporals. Schwarz vor Nässe, die Rücken ihrer Kampfanzüge unter den Gewehrkolben. Sie fluchten und hieben mit Macheten auf das mannshohe Gestrüpp ein. Gottverdammter grüner, feuchter Dschungel ...! Gottverdammte Todesfälle! Der Sergeant wusste genau, was geschehen würde.

»Leiser!«, zischte er. »Ihr macht einen höllischen Lärm! Der Vietcong pflückt schon den Begrüßungsstrauß ...!«

Er sagte immer denselben Satz - den Satz, den er auch damals gesagt hatte. Als wäre er gezwungen, sich an ein teuflisches Drehbuch zu halten. Er wollte schreien, weil er wusste, was der Teufel als Nächstes ins Drehbuch geschrieben hatte, er wollte wenigstens zwei der jungen Corporals an ihren Gewehren packen und zurückreißen. Er tat nichts davon, ging sogar weiter, schabte sich sogar die von Mückenstichen entzündete Brusthaut, spuckte aus und blickte sich um, als hätte er unendlich viel Zeit. Nicht einmal den Atem konnte er anhalten.

Es geschah langsam, nicht blitzschnell, wie damals, beim ersten Mal, als es tatsächlich geschehen war. Ganz langsam, wie in Zeitlupe. Zuerst das mörderische Krachen, Rascheln und Rauschen, dann bogen sich junge Bäume und Büsche, irgendjemand schrie, und schließlich schwebte ein Baumstamm aus dem Gestrüpp des gottverdammten Dschungels. Langsam, quälend langsam strich er drei oder vier Fuß über dem Unterholz knapp an dem Sergeant vorbei. An seiner Spitze eine hölzerne, senkrecht stehende Platte, armlange Holzdornen ragten aus ihr. Wie ein gigantischer Fliegentöter wischte der Stamm durch Büsche und Sträucher, fegte die drei Corporals gegen den Stamm eines Urwaldriesen. Blut spritzte, Schreie gellten durch den Dschungel, Glieder zappelten zwischen Holzplatte und Baumstamm.

Der Sergeant starrte die Aufgespießten an. Er musste sie anstarren - auch das hatte die Hölle ins Drehbuch geschrieben. Von einem seiner blutjungen Corporals sah er nur Kopf und Arme. Sie hingen, schlaff über die Kante der Stachelplatte. Keinen Mucks gab der Junge mehr von sich.

Sein Kamerad neben ihm würgte, röchelte, ruderte mit den Armen wie ein Ertrinkender und wand seinen Oberkörper hin und her. Die grausame Falle hatte seine untere Körperhälfte gegen den Stamm genagelt. Der dritte Corporal klemmte mit der linken Schulter und dem linken Arm unter der Riesenfliegenklatsche. Fr brüllte - oh Gott, wie er brüllte ...

Auch was dann folgte, kannte O’Brian: Die Panik, die Geräusche, der Schmerz hinter dem Brustbein, der Schrei - alles Hunderte Male erlebt. Er konnte nicht gegen das Höllendrehbuch handeln, alles musste er wiederholen, noch einmal empfinden, noch einmal erleben, bis in jede Einzelheit, wieder und wieder.

Beine und Hüften schienen sich mit heißem Blei zu füllen, klebriger, kalter Schweiß strömte ihm übers Gesicht, er rang nach Luft, aber der feuchtwarme Dunst staute sich in seinem aufgerissenen Mund, etwas schwoll in seinem Brustkorb, wurde größer und heißer, platzte schließlich, und endlich löste sich der Schrei aus der Kehle des Sergeants ...

Er fuhr hoch und schrie. Er presste sich die Bettdecke gegen das nasse Gesicht und schrie. Er schrie noch, als endlich das Licht anging und er das Kruzifix über dem Fußende seines Bettes sah.

Endlich fand er in die sogenannte Wirklichkeit zurück. Er war nicht im Dschungel - er war in seiner Wohnung in SoHo. Er war nicht im Jahre 1969 - er war im Jahre 2008. Wieder hatte ihn ein Traum neununddreißig Jahre in die Vergangenheit geworfen, zurück in den Dschungel Nordvietnams. Es war, als würde ein Teil seiner Seele noch immer zwischen Urwaldriesen und undurchdringlichem Gestrüpp zappeln ...

Die Tür seines Zimmers stand offen. Eine rotblonde Frau im Türrahmen. Zierlich und blass. Sie hatte das Licht angemacht. »Dad«, flüsterte sie, »Dad - Was ist los?«

Es war Suzy, die Tochter der Sergeants. Sie eilte ans Bett, hockte sich an die Bettkante, legte ihren Arm um seine Schultern. »Um Himmels willen, Dad ...«

Er hörte auf zu schreien. Seine Schultern hoben und senkten sich im Rhythmus seines keuchenden Atems.

»Hast du wieder vom Krieg geträumt?«

»Blödsinn!« Er stieß ihren Arm weg, schlug die Bettdecke beiseite und schob seinen dürren, ausgemergelten Körper von der Matratze. »Was für ’n Krieg überhaupt?«

Angriffslustig musterte Sergeant William O’Brian seine Tochter. Scheinbar beiläufig griff seine Rechte nach der Decke und schlug sie über das alte Schnellfeuergewehr. Als wollte er es vor den Augen seiner Tochter verbergen. Dabei ging er schon seit Jahren nicht mehr ohne das Gewehr ins Bett. Und ohne Uniformhose auch nicht. Seit die Katastrophe über seine kleine Familie hereingebrochen war.

»Hab geträumt, dass unsere Jungs von den Metro Stars schon wieder gegen Los Angeles Galaxy verloren haben ...« Seine Gelenke knackten, als er sich aufrichtete und seinen knochigen Körper streckte. »Ein verdammter Albtraum war das, so wahr ich O’Brian heiße. Drei zu null verloren, ein verdammter Albtraum - wenn das kein Grund zum Schreien ist ...«

Ein Blick auf den monströsen Messingwecker auf seinem Nachttisch. Kurz nach Mitternacht. »Wann gibt's Mittagessen?« Er warf sich auf den Boden und begann mit den Liegestützen. Drei Mal täglich dreißig Stück. O’Brians Pensum, solange Suzy zurückdenken konnte. Dazu diverse Bauchmuskelübungen und alle zwei Tage eine Stunde Joggen durch den Central Park. William O’Brian war 69 Jahre alt - aber er war fit wie ein Vierzigjähriger. Sein Körper jedenfalls war so fit.

Mit bekümmerter Miene beobachtete Suzy O’Brian den ausgemergelten Körper ihres Vaters. Die Hüftknochen standen spitz über der heruntergerutschten Uniformhose, Rippen und Schlüsselbein zeichneten sich überdeutlich unter der faltigen Haut ab. Er war nicht groß, ihr Dad, vielleicht einen Kopf größer als sie selbst. Graues Stoppelhaar bedeckte seinen kantigen Schädel.

»Es ist noch nicht Zeit zum Mittagessen«, seufzte sie. »Und für deine Morgengymnastik auch noch nicht. Es ist mitten in der Nacht.«

»Erzähl mir nichts«, keuchte er. »Wenn es mitten in der Nacht wäre, würdest du längst im Bett liegen.«

Suzy stand auf. Wortlos verließ sie das Schlafzimmer ihres Vaters. Sie hatte es längst aufgegeben, ihm zu widersprechen.

William O’Brian erhob sich halb, blieb auf den Knien hocken und blickte seiner Tochter nach. Dann sprang er leichtfüßig auf. Mt den Fingerbeeren berührte er das Kruzifix an der Wand über seinem Bett, küsste die Fingerspitzen und berührte das Kreuz ein zweites Mal. Er murmelte ein Ave Maria, während er sein Zimmer verließ.

O’Brian war gläubiger Katholik. Wie schon sein Vater und sein Großvater und dessen Vater und Großvater. Weder der Krieg noch die Katastrophe vor neun Jahren hatten ihm seinen Glauben zerstören können. Nicht einmal das heillose Chaos in seinem Kopf hatte das geschafft.

Im Wohnzimmer an der schweren Eichenkommode stand seine Tochter und telefonierte. »Ich muss jetzt Schluss machen ... Ich weiß nicht ...Vielleicht ... Ich muss Schluss machen – bye ...« Sie legte auf.

Zu hastig, um ein gutes Gewissen zu haben, fand der Sergeant - er hatte seinen Abschied von der Army als Major genommen, aber in seinem Selbstverständnis war er immer Sergeant geblieben. Der Sergeant, der Elitekämpfer durch den Dschungel von Vietnam geführt hatte, um Stützpunkte des Vietcong auszuheben.

»Mit wem hast du telefoniert, Suzy?« Sein eingefallenes Gesicht legte sich in zahllose Falten. Misstrauisch beäugte er die zierliche Gestalt seiner Tochter. Sie trug einen langen, grauen Rock aus Baumwolle und ein weites blaues Hemd darüber. Nichts, was ihre weiblichen Formen betonte, nichts, was zueinanderpasste, nichts, was auch nur ansatzweise hübsch gewesen wäre.

Nur ihr schmales, blasses Gesicht war hübsch, gerahmt von ihren dichten rotblonden Locken und beherrscht von großen, dunkelblauen Augen. Auffallend ernste Augen übrigens. Nicht nur hübsch war das Gesicht von Suzy O’Brian - schön war es, wenn man genau hinsah. Aber Suzy kleidete und gab sich auf eine Weise, die Männer in der Regel davon abhielt, genauer hinzusehen. Schon lange, schon seit neun Jahren.

»Mit wem hast du telefoniert?«, drängte O’Brian.

»Mit einer Freundin.« Sie wich seinem Blick aus, ging zu dem großen, runden Eichentisch in der Mitte des Raumes und griff nach einer Pillenschachtel und einem Glas Wasser. »Nimm eine Tablette, vielleicht kannst du dann weiterschlafen.« Sie reichte ihm das Wasserglas und zog ein Briefchen mit Dragees aus der Packung.

»Mit wem telefonierst du nach Mitternacht noch?« O’Brian sprach jetzt mit scharfer Stimme. Die Stimme eines Sergeants.

»Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, Dad.« Suzys Gestalt straffte sich. Trotzig blickte sie ihm in die wässrigen Augen. »Ich telefoniere mit wem ich will und wann ich will.«

Sie drückte ihm die Pille in die knochige Hand und verließ das Wohnzimmer. Er lauschte ihren Schritten auf der Treppe, er hörte, wie sie ihre Zimmertür abschloss. Sie schloss immer ab. Auch das Fenster.

Mit einem halben Glas Wasser spülte er die Pille hinunter. Eine von siebzehn, die er im Laufe eines lieben, langen Tages zu schlucken hatte. Er knallte das Glas auf den Tisch und ging zu der schweren Kommode, auf der das Telefon stand.

Von einem schwarz gerahmten Foto lächelte ihm eine Frau entgegen - breites Gesicht, warme Augen, heitere Züge, rotblond. O’Brians Frau und Suzys Mutter. Sie hatte die Katastrophe damals genau zwei Jahre überlebt.

»Wir sollten wissen, mit wem sie nach Mitternacht noch telefonieren muss«, murmelte O’Brian. »Das sollten wir wissen, Kathy, oder?«

Er griff nach dem Hörer und drückte die Wahlwiederholungstaste. Eine Männerstimme meldete sich, eine junge Männerstimme. »Chester Bronson - Hallo?«

O’Brian riss den Hörer vom Ohr und starrte ihn an, als hätte sich der Leibhaftige persönlich gemeldet. Dann knallte er den Hörer auf.

»Du hast diese Bestie angerufen ...!« Brüllend stürzte er aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. »Hast du keinen Funken Würde mehr im Leib?!«

Suzy schloss ihre Tür auf und öffnete. Erschrocken sah sie ihrem Dad entgegen. Der packte sie an den Schultern und schüttelte sie.

»Warum rufst du ihn an? Warum? Warum?«

Sie machte sich los und sprang die Treppe hinunter, um den Arzt anzurufen. O’Brian schlidderte über mehrere Stufen auf einmal hinter ihr her.

»Schäm dich, du Schlampe! Hast du die anderen Bestien auch angerufen, Schlampe, schamlose Schlampe ...!«


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