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Der große Zeiger der Uhr über der Bürotür rutschte auf die Zwölf. Zwei Uhr nachmittags. Captain Sean Perlman zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und nahm eine Kunststoffschachtel heraus. Der weiße Behälter hatte die Größe eines kleinen Koffers. Perlmans Zunge fuhr über seine Unterlippe, während er ihn öffnete. Ein genüssliches Brummen perlte aus seiner fetten Kehle. Seine braunen Äuglein wanderten über zwei gepellte Eier, zwei kalte Steaks, eine gewaltige Ladung Kartoffelsalat und eine in dünne Scheiben geschnittene Gurke.

»Mary for President«, murmelte er grinsend und holte das Besteck aus der Schublade.

Mary Perlman war natürlich seine Gattin. Ihr Bild stand neben dem Telefon auf dem Schreibtisch des Captains. Ein großes, grün gerahmtes Farbfoto. Sie hatte ähnlich runde Pausbacken wie der Captain, eine ähnlich breite Stirn und einen ähnlich dicken Hals wie er. Nur ihr hoch aufgetürmtes rotes Haar unterschied sich ganz wesentlich von seinem - der achtundvierzigjährige Perlman hatte nämlich so gut wie keine Haare mehr, und die paar grauen Strähnen, die ihm geblieben waren, klebte er morgens mit Gel in alle vier Himmelsrichtungen auf seine Glatze. Ein unsinniger Tarnversuch. Aber einer mit großem Unterhaltungswert - die Männer des 6. Reviers ließen sich immer neue Witze über die »Frisur« ihres Captains einfallen.

Perlman wusste das. Aber es störte ihn nicht. Und Mary störte sich nicht an seiner »Frisur«. Sie war keine schöne Frau. Und auch keine besonders leichtgewichtige. Sie konnte gewaltig zetern und hielt ihn im Bett ziemlich kurz. Aber sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck, und vor allem würde Perlman bei ihr niemals verhungern.

Vergnügt machte er sich über sein Mittagessen her. Durch die großen Fenster seines Office beobachtete er dabei seine Leute. Hinter dem Schaltertresen des Großraumbüros wimmelte es von Uniformierten. Schichtwechsel - die Teams der Frühschicht gaben den Stab an die Kollegen der Spätschicht weiter. Keine besonderen Vorkommnisse während der ersten Tageshälfte dieses Donnerstags. Perlman konnte die Übergabe getrost seinem ersten Stellvertreter Lieutenant Shielding überlassen.

Die Steaks waren zart und zergingen ihm auf der Zunge, der Kartoffelsalat schmeckte leicht säuerlich und nach Majoran - genau wie Perlman es liebte. Auch die Eier hatten genau die richtige Konsistenz, nicht zu hart und nicht zu weich, wie reife Pflaumen etwa, genau dreieinhalb Minuten auf dem Gasherd.

Eine kräftige Gestalt löste sich aus dem Getümmel im Revierbüro. Ein Uniformierter mit bronzefarbener Haut, schwarzem Lockenhaar und buschigem Schnauzer kam langsam auf Perlmans Bürotür zu - Chester Bronson, einer der zuverlässigsten Leute des Captains. Perlman wunderte sich, weil sich Bronson nicht wie sonst energisch und mit großen, federnden Schritten auf die Glasfront zubewegte. Sein Gang war anders, als Perlman es gewohnt war - fast hatte es den Anschein, als hätte der junge Sergeant Blei in den Knien. Perlman machte sich auf Schwierigkeiten gefasst.

Die Tür öffnete sich. Bronson blieb stehen und blickte auf den Essensbottich seines Chefs. »Sorry - ich will Sie nicht beim Essen stören, Captain.«

»Komm rein, Junge!« Mit der Gabel winkte Perlman den Sergeant zu sich. Ein Fetzen Kartoffelsalat seilte sich von der Gabel ab und klatschte auf die Schreibunterlage. Perlman merkte es nicht: »Setz dich hin und erzähl. Und stör du dich nicht dran, wenn ich einfach weiteresse. Mit leerem Magen bin ich ein miserabler Boss, musst du wissen.«

Perlman schob sich ein Stück Fleisch und eine Gabel voll Kartoffelsalat in den großen Mund. Bronson nahm ihm gegenüber auf einem Stuhl Platz. Er blieb eigenartig stumm.

»Hey, Chester!«, mampfte der Captain. »Essen und gleichzeitig Gedanken lesen - das überfordert mich zurzeit noch ein bisschen. Mach’s Maul auf und erzähl deinem Captain, wo der Schuh drückt. Dass er drückt, hab ich schon geschnallt. Also los!« Er säbelte das nächste Stück Fleisch ab.

»Ich ... also ...« Bronson zog die Mütze vom Kopf und legte sie auf den Schoß. »Ich will mich anzeigen, Captain ... Ja, eine Selbstanzeige ...« Bronson schluckte. »Deswegen komme ich zu Ihnen.«

Perlman fixierte ihn aus seinen kleinen, schmalen Augen. Er hörte nicht auf zu kauen dabei. Messer und Gabel ragten senkrecht aus seinen auf der Schreibtischplatte ruhenden Fäusten. Ein paar Sekunden lang sprach keiner von ihnen ein Wort.

Perlman schluckte Fleisch und Salat herunter. »Ich weiß, dass du kein besonders begabter Witzbold bist, Chester. Du musst jetzt deutlicher werden, damit ich weiß, worüber ich lachen oder ob ich weinen soll.«

Chester Bronson senkte den Blick. Seine Mütze kreiste zwischen seinen Fingern. Er holte tief Luft und blickte dann erneut seinen Captain an. Der säbelte schon wieder an seinem Fleisch herum. »Ich zeig mich an wegen Vergewaltigung, Sir. Oder wegen Anstiftung zur Vergewaltigung ...«

Perlman legte Messer und Gabel über die Reste von Steak und Kartoffelsalat. Die Eier hatte er schon verspeist, die Gurke noch nicht angerührt. Er ließ sich zurück gegen seine Sessellehne fallen. Sein Quadratschädel neigte sich auf die Schulter. Er beäugte seinen Lieutenant und schien sprachlos zu sein.

»Es ist neun Jahre her«, sagte Bronson mit brüchiger. Stimme. »Wir waren zu fünft. Das Mädchen hatte keine Chance ...«


7 Kriminalromane für lange Dezember-Nächte

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