Читать книгу Handbuch Ius Publicum Europaeum - Adam Tomkins - Страница 155

4. Die Verfassungsnovelle des Jahres 2001 und ihre Folgen

Оглавление

37

Die Verfassungsnovelle des Jahres 2001 (Reform der Beziehungen zwischen Staat und Regionen) hat zum ersten Mal das Phänomen der europäischen Integration in der italienischen Verfassung ausdrücklich in zahlreichen Vorschriften berücksichtigt. Der neu gefasste Art. 117 Abs. 1 Cost. legt die Grenzen für die staatliche und die regionale Gesetzgebung nieder und erwähnt ausdrücklich neben der nationalen Verfassung und den sich aus internationalen Verpflichtungen ergebenden Grenzen auch die aus der Gemeinschaftsordnung folgenden Schranken („vincoli derivanti dall’ordinamento comunitario“).

38

Daraus ergibt sich zunächst folgende Frage: Kann der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. als „Europa-Artikel“ verstanden werden? Anders gewendet: Ist er eine Norm, die – wie z.B. Art. 23 GG in Deutschland – die Grundlage für weitere Übertragungen von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene (mit den damit verbundenen Verfahren und Grenzen) schafft? Die Frage ist mit einem klaren „Nein“ zu beantworten.[44] Die Vorschrift regelt die nationale Gesetzgebung und ihre Grenzen. Weitere Übertragungen von Hoheitsrechten werden durch Art. 117 Abs. 1 Cost. nicht ermöglicht. Deshalb können weitere Schritte der europäischen Integration auch zukünftig nur auf der Grundlage von Art. 11 Cost. erfolgen.[45]

39

Dies wirft die Frage nach der spezifischen Funktion des neuen Art. 117 Abs. 1 Cost. auf. Diese Frage ist nach der Verfassungsreform des Jahres 2001 von der Rechtslehre intensiv – obwohl nicht immer mit klaren Ergebnissen – diskutiert worden. Nach h.L. hat die erwähnte Verfassungsnovelle die bisherige Gesamtordnung des Verhältnisses zwischen Europarecht und nationalem Recht grundsätzlich nicht geändert, sondern nur die bisherige Rechtsprechung – d.h. den oben dargestellten „cammino comunitario“ der Corte costituzionale – bestätigt und kodifiziert.[46] Dieser Meinung kann man jedoch nicht völlig zustimmen. Wie schon oben erwähnt wurde, regelt der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. nur die Grenzen der nationalen Gesetzgebung. Deshalb kann Art. 117 Abs. 1 Cost. den gesamten „cammino comunitario“ in Fragen des Verhältnisses von Europarecht zu nationalem Recht – einschließlich des Verhältnisses von Europarecht zu nationalem Verfassungsrecht – nicht bestätigt und kodifiziert haben. Art. 117 Abs. 1 Cost. kann also nur die vom Verfassungsgericht in seinem „cammino comunitario“ erreichten Ergebnisse über das Verhältnis von Europarecht zu nationalen einfachen Gesetzen bestätigt und kodifiziert haben.[47] Der Vorrang des Europarechts vor dem Verfassungsrecht (mit der Grenze der so genannten „controlimiti“) findet deshalb immer noch seine Grundlage allein in Art. 11 Satz 2 Cost.

40

Weiterhin wird vertreten, dass die verfassungsrechtlichen Wurzeln der italienischen Mitgliedschaft in der EU infolge der Verfassungsnovelle solider geworden seien. Jetzt sei die Erforderlichkeit eines verfassungsändernden Gesetzes für den (allerdings höchst unwahrscheinlichen) Austritt Italiens aus der EU unbestreitbar.[48] Die Verpflichtung des nationalen einfachen Gesetzgebers, die sich aus dem Europarecht ergebenden Bindungen zu beachten, ist jedoch schon durch den „cammino comunitario“ des Verfassungsgerichts vor der Verfassungsnovelle erreicht worden (siehe die Urteile Frontini und Granital). Es scheint daher zutreffend, dass ein eventueller Austritt Italiens aus der EU (d.h. die Auflösung der europäischen Bindungen) schon vor der Verfassungsnovelle nicht durch ein einfaches Gesetz hätte erfolgen können, umso mehr, als Gesetze, „die darauf abzielen, die dauerhafte Beachtung der Verträge mit Bezug auf das System oder den wesentlichen Kern seiner Prinzipien zu verhindern“, zu den Gesetzen zählen, die das Verfassungsgericht, wie es festgestellt hat, selbst noch für verfassungswidrig erklären kann.[49] Es ist nicht ersichtlich, wie ein einfaches Gesetz, das auf den Austritt Italiens aus der Gemeinschaft zielte, diesem Schicksal entgehen könnte. Die Änderung von Art. 117 Abs. 1 Cost. hat also in diesem Punkt nur Klarheit geschaffen, aber nichts Neues hinzugefügt.

41

Nach einer weiteren Meinung stellt der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. mit den sich aus dem Europarecht ergebenden Grenzen (neben der Verfassung und den internationalen Verpflichtungen) ein „vereinendes Element“ in einer Rechtsordnung dar, die – wie die italienische – von einer starken Dezentralisierung geprägt ist:[50] Deshalb sei diese Norm im Rahmen einer Verfassungsreform eingefügt worden, die die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen der Regionen und der Gebietskörperschaften bemerkenswert ausgedehnt hat. Dieser Meinung kann man jedoch nur zum Teil zustimmen. Es ist richtig, dass der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. u.a. die europäische Rechtsordnung als vereinendes Element innerhalb der italienischen Rechtsordnung bezeichnet. Man muss aber davon ausgehen, dass sich eine derartige Funktion der aus dem Europarecht ergebenden Bindungen – auch wenn sie im Rahmen einer Rechtsordnung mit deutlich abgegrenzten Regional- und Lokalkompetenzen deutlicher wird als früher – schon vor der Verfassungsnovelle in einem System, das auch schon bedeutende Regional- und Lokalkompetenzen enthielt, durchgesetzt hatte und dass sie deshalb durch den neuen Art. 117 Abs. 1 Cost. nur bestätigt und ausdrücklich anerkannt worden ist.[51]

42

Einige Autoren interpretieren den neuen Art. 117 Abs. 1 Cost. als eine Norm, die endlich die monistische Lehre des EuGH vom Verhältnis zwischen der nationalen und der europäischen Rechtsordnung übernimmt und die bisherige dualistische Auffassung des Verfassungsgerichts überwindet.[52] Nach dieser Meinung ist es inzwischen offensichtlich, dass das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht Teile eines einzigen Rechtssystems sind, in dem ersteres Vorrang genießt. Wenn man dieser Meinung folgt, würde damit aber auch die „controlimiti“-Lehre aufgegeben, die keine Grundlage mehr in einem System hätte, das ohne Grenzen den Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht akzeptiert. Jedoch findet sich kein eindeutiger Hinweis in der neuen Fassung des Art. 117 Abs. 1 Cost., aus dem die Aufgabe der dualistischen Lehre unmissverständlich abgeleitet werden könnte.[53] Darüber hinaus setzt die Annahme der monistischen Lehre, mit dem damit verbundenen Verzicht auf die „controlimiti“-Lehre, eine sehr weitgehende Homogenität in Bezug auf den Umfang des Grundrechtsschutzes und die Inhalte der Grundprinzipien der beiden Rechtsordnungen voraus, die noch nicht ganz erreicht sein dürfte.[54] Es ist daher wahrscheinlich, dass das Fehlen eindeutiger Anhaltspunkte im Verfassungstext, der, wie erwähnt, nur die Schranken für die nationale Gesetzgebung, aber nicht das Verhältnis der Rechtsordnungen zueinander anspricht, der Corte costituzionale abermals die Möglichkeit gibt, in bewährter italienischer Weise die Rolle des Schiedsrichters bei der Festlegung der zukünftigen Beziehungen zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht zu spielen, was entweder in die monistische Richtung gehen kann, die einige Autoren schon vor der Verfassungsänderung angestrebt hatten, oder weiterhin im dualistischen System verbleibt. Wenn die dualistische Lehre also in Zukunft vom Verfassungsgericht aufgegeben werden sollte,[55] ist das nicht unbedingt als eine Folge der Verfassungsnovelle zu verstehen.

43

Im Ergebnis sind die Funktionen von Art. 11 und 117 Abs. 1 Cost. unterschiedlich. Art. 11 Cost. hat die bisherigen Beschränkungen der nationalen Souveranität ermöglicht und erlaubt weitere zukünftige Beschränkungen (natürlich nur, wenn die dort vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt werden): Die Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht werden daher auch weiterhin Teil der nationalen Rechtsordnung auf der Grundlage von Art. 11 Cost. Art. 117 Abs. 1 Cost. spielt hingegen die Rolle des Hüters dieser Verpflichtungen gegenüber der staatlichen und regionalen Gesetzgebung. Die konkrete Folge der förmlichen Anerkennung und ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Garantie der sich aus dem Europarecht ergebenden Bindungen in Art. 117 Abs. 1 Cost. liegt darin, dass Fragen der Verfassungsmäßigkeit von mit Gemeinschaftsrecht in Widerspruch stehenden Gesetzen, die noch in die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts fallen (vgl. oben, Rn. 31), nunmehr auf die Verletzung von Art. 117 Abs. 1 Cost. und nicht mehr die Verletzung von Art. 11 gestützt werden müssen.[56] Außerdem spielt der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. eine klärende Rolle in Bezug auf einige weitere Aspekte: 1) die Erforderlichkeit eines verfassungsändernden Gesetzes für den Austritt aus der EU und 2) die jetzt ausdrückliche Anerkennung der vereinenden Rolle der europäischen Verpflichtungen. Last but not least kommt dem neuen Art. 117 Abs. 1 Cost. wesentliche politische Bedeutung zu, da mit ihm zum ersten Mal ausdrücklich die Anerkennung des europäischen Integrationsprozesses in der Verfassung niederlegt ist.

Handbuch Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх