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a) Die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag

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Wie schon erwähnt, hatten vor der Reform des Jahres 2001 völkerrechtliche Verträge in der nationalen Normenhierarchie den Rang der entsprechenden nationalen Umsetzungsnorm, d.h. allenfalls den Rang eines einfachen Gesetzes (die EMRK ist durch Gesetz Nr. 848 vom 4.8.1955 umgesetzt worden). Damit konnten sie, zumindest grundsätzlich, durch ein späteres einfaches Gesetz derogiert, geändert oder aufgehoben werden. Um dieses Risiko für den Schutz der Menschenrechte zu vermeiden, haben Lehre und Rechtsprechung außer den üblichen Techniken der völkerrechtsfreundlichen Auslegung (Auslegung im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen und Grundsatz der lex specialis) versucht, den nationalen Umsetzungsnormen dieser speziellen völkerrechtlichen Verträge höhere Bestandskraft einzuräumen als den Umsetzungsnormen anderer völkerrechtlicher Verträge. Alle vor der Reform des Jahres 2001 angestellten Versuche, Verträgen zum Schutz der Menschenrechte Verfassungsrang oder verfassungsähnlichen Rang beizulegen, sind jedoch vom Verfassungsgericht nicht übernommen worden oder in der Rechtsprechung vereinzelt geblieben. So lehnt die Corte costituzionale beständig die These ab, dass die EMRK und andere internationale Verträge zum Schutz der Menschenrechte in die „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts“ nach Art. 10 Abs. 1 Cost. einbezogen werden können, an die sich, wie bereits dargestellt, die italienische Rechtsordnung automatisch anpasst. Denn – so die formale Begründung – völkerrechtliche Verträge zum Schutz der Menschenrechte als solche stellten internationales Vertragsrecht dar und könnten daher in keiner Weise in den Anwendungsbereich von Art. 10 Abs. 1 Cost. fallen.[75] Auch die Auslegung von Art. 2 Cost. als „Öffnungsklausel“, die die entsprechenden in internationalen Übereinkommen niedergelegten Menschenrechte mit Verfassungs- oder mit übergesetzlichem Rang einbeziehen kann,[76] ist von der Corte costituzionale nicht übernommen worden, auch wenn sie bisweilen zur Auslegung der Grundrechte der Verfassung auf internationale Menschenrechtsverträge zurückgreift; dabei hat sie jedoch noch nie den Verfassungsrang von in internationalen Verträgen niedergelegten Menschenrechten bestätigt.[77] Ebenso hat die Corte costituzionale die von einer Minderheit in der Lehre vertretene Auffassung nicht übernommen, die unter Rückgriff auf Art. 10 Abs. 2[78] oder Art. 11[79] Cost. den Umsetzungsnormen internationaler Menschenrechtsverträge die Bedeutung einer Bezugsnorm beilegt, so dass ihre Verletzung eine indirekte Verletzung der Verfassung darstellen würde. Das Verfassungsgericht hatte seinerseits in dem Urteil Mujanovic Nr. 10 vom 19.1.1993 festgestellt, dass die nationalen Umsetzungsnormen zu Art. 6 EMRK und Art. 14 IPbürgR von nachfolgenden einfachgesetzlichen Normen nicht aufgehoben bzw. geändert werden können, „weil es sich um Normen aus einer atypischen Quelle handelt“. Diese Feststellung findet sich aber nur in einem obiter dictum der Entscheidung und ist in der Judikatur des Verfassungsgerichts gänzlich isoliert geblieben. Der Kassationshof (Corte di Cassazione) hat dagegen die These vertreten, der Vorrang der EMRK vor kollidierendem nationalen Recht sei durch die „Vergemeinschaftung“ der EMRK gemäß Art. 6 Abs. 2 EU zu rechtfertigen, da dieser die EU verpflichte, die in der EMRK niedergelegten Menschenrechte – als allgemeine europarechtliche Prinzipien – zu beachten. Damit sei die EMRK in das Gemeinschaftsrecht inkorporiert worden. Auf der Grundlage dieser These käme der EMRK, wie dem Europarecht, Vorrang vor allen nationalen Normen zu.[80] Die h.L. lehnt diese Theorie jedoch ab.[81] Die Bindung an die EMRK könne nämlich auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 EUV nur für Normen des sekundären Gemeinschaftsrechts gelten, so dass sich ein nationales Gericht bei Zweifeln an der Vereinbarkeit von Sekundärrechtsakten mit den Menschenrechten der EMRK, d.h. mit der Frage, ob Sekundärrecht die allgemeinen Prinzipien des Europarechts verletzt, im Wege der Vorabentscheidung gemäß Art. 234 lit. b EG an den EuGH wenden kann (im Fall der letztinstanzlichen Gerichte wenden muss), um die Nichtigerklärung der europarechtlichen Norm zu erreichen.

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