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b) Die Rolle der EMRK und der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs vor den Fachgerichten und der Corte costituzionale

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Die Fachgerichte und die Corte costituzionale greifen häufig auf die sog. menschenrechtsfreundliche Auslegung der nationalen Bestimmungen zurück. Das geschieht vor allem mit Bezug auf den Wortlaut der Bestimmungen der EMRK und das „lebende Recht (diritto vivente)“, also das EMRK-Recht, wie der EGMR es interpretiert, obwohl sowohl die Corte di Cassazione als auch die Corte costituzionale noch nicht eindeutig geklärt haben, ob und inwieweit die Urteile des EGMR (und vor allem die gegen Italien ausgesprochenen Urteile) eine bindende Wirkung den Nationalgerichten gegenüber besitzen[90]. In diesem Zusammenhang muss man jedoch zwei Alternativen unterscheiden: Die erste ist die menschenrechtsfreundliche Auslegung der einfachen Gesetze (oder ggf. der untergesetzlichen Normen), die ohne weiteres mit dem allgemeinen Prinzip der völkerrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts vereinbar ist und demgemäß keine besonderen theoretischen Probleme aufwirft. Die andere hingegen ist die menschenrechtsfreundliche Auslegung bzw. Ergänzung der Verfassungsbestimmungen durch die Corte costituzionale unter Rückgriff auf Bestimmungen in Menschenrechtsverträgen.[91] In diesem Fall ergeben sich eine ganze Reihe theoretischer Probleme, da die Verfassung in der nationalen Normenhierarchie einen höheren Rang einnimmt als die Umsetzungsnormen internationaler Verträge, einschließlich der Menschenrechtsverträge. Damit entsteht also die Situation, dass die Verfassung im Licht einfacher Gesetze ausgelegt (oder sogar ergänzt) wird. Dies gilt insbesondere im Fall der EMRK, eines echten verfassungsexternen Rechtssystems, das über ein Gerichtsorgan verfügt, dessen Auslegungstätigkeit letztendlich die Auslegung der Verfassungsbestimmungen beeinflussen kann. Die Auslegung der Verfassung am Maßstab einfacher, auch nach der Verfassung in Kraft getretener Gesetze, wurde jedoch ohnehin bereits weitgehend vom Verfassungsgericht praktiziert, insbesondere vor der Verfassungsreform zur Föderalisierung im Jahre 2001, um den Umfang der Zuständigkeiten der Regionen zu bestimmen.[92] Auch wenn diese Praxis überwiegend akzeptiert wurde, so hat sie doch von einem nicht unerheblichen Teil der Lehre herbe Kritik erfahren, die eine Verletzung der Bestandskraft des Verfassungstextes für unerträglich hält, weil damit eine Änderung der Abgrenzung der Zuständigkeiten ohne Anwendung des erschwerten Verfahrens der Verfassungsänderung möglich wurde.[93] An der menschenrechtsfreundlichen Auslegung der Verfassung wird eine vergleichbare Kritik dagegen nicht geübt, obwohl auch sie die Bestandskraft der Verfassung abschwächt. Wie erklärt sich diese unterschiedliche Haltung der Lehre gegenüber einem wesentlich sensibleren Teil der Verfassung als der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Staat und Regionen? Der Grund dürfte in der breiten Akzeptanz der Bedeutung der Menschenrechte in der italienischen Rechtslehre liegen, die einerseits wohl auf die große Bedeutung dieser Normen zurückzuführen ist,[94] die als Träger einer „progressiven“ Verfassungsentwicklung angesehen werden, und andererseits ihre „naturgegebene“ Begabung, die notgedrungen sehr allgemeinen Verfassungsbestimmungen über die Grundrechte zu ergänzen. Die EMRK (einschließlich des „lebenden Rechts“ der Rechtsprechung) und andere internationale Menschenrechtsverträge, die vor der Reform des Jahres 2001 keinen übergesetzlichen Rang einnahmen, sind de facto von der Verfassungsrechtsprechung und der Doktrin als integraler Bestandteil der „materiellen Verfassung“ des Staates angesehen worden, auch weil sie im Allgemeinen als eine Fortentwicklung der zumindest implizit in der Verfassung enthaltenen Prinzipien verstanden werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Auslegung der Verfassung nach Maßgabe der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR Grenzen kennt, wonach in dem (eher unwahrscheinlichen) Fall eines unüberbrückbaren Widerspruchs zwischen (Umsetzungs-)Normen der EMRK und Verfassung letzterer Vorrang zukommt. Die menschenrechtsfreundliche Auslegung kann folglich akzeptiert werden, solange sie sich darauf beschränkt, in der Verfassung allgemein niedergelegte Bestimmungen fortzuentwickeln und zu spezifizieren; sobald sie in Widerspruch zur Verfassung stünde, ist sie hingegen ausgeschlossen.

Erster Teil Offene Staatlichkeit§ 18 Offene Staatlichkeit: Italien › IV. Schlussbemerkungen

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