Читать книгу Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1 - Александр Дюма - Страница 13

1 bis 4. Bändchen
Einleitung
X.
Nicole Legay

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Gilbert hatte die ganze Zeit, welche das Verhör von Balsamo dauerte, in unaussprechlicher Angst zugebracht.

Unter das Treppengehäuse gekauert, weil er es nicht mehr wagte, zur Thüre hinaufzusteigen, um zu behorchen, was in dem rothen Zimmer gesprochen wurde, gerieth er am Ende in eine Verzweiflung, welche bei dem Charakter von Gilbert jeden Augenblick eine gewaltsame Entwicklung herbeizuführen drohte.

Diese Verzweiflung vermehrte sich durch das Gefühl seiner Schwäche und seiner untergeordneten Stellung. Balsamo war nur ein Mensch; denn Gilbert, ein starker Geist, ein Philosoph im Entstehen, glaubte nur wenig an Zauberer. Aber dieser Mensch war stark, Gilbert war schwach; dieser Mensch war muthig, Gilbert war es noch nicht. Zwanzigmal erhob sich Gilbert, um wieder die Treppe hinaufzusteigen, entschlossen, im Falle der Noth dem Baron Stand zu halten. Zwanzigmal bogen sich seine zitternden Beine unter ihm, und er fiel wieder auf seine Kniee.

Es kam ihm ein Gedanke; er wollte eine Leiter holen, der sich La Brie, welcher zugleich Koch, Kammerdiener und Gärtner war, bediente, um Jasmin und Geisblatt an der Mauer aufzubinden. Wenn er sie an der Gallerie der Treppe anlehnen und zu dieser hinaufsteigen würde, dürfte er nichts von dem verrathenden Geräusch verlieren, das er so glühend zu behorchen wünschte. Er erreichte das Vorzimmer, dann den Hof und lief an den Ort, wo er die Leiter zu finden wußte, welche am Fuße einer Mauer lag. Doch während er sich bückte, kam es ihm vor, als hörte er ein Streifen auf der Seite des Hauses; er wandte sich um.

Da glaubte sein weit aufgerissenes Auge in der Dunkelheit durch den schwarzen Rahmen der offenen Thüre eine menschliche Form schlüpfen zu sehen, doch so rasch, so stumm, daß sie viel mehr einem Gespenste, als einem lebendigen Wesen anzugehören schien.

Er ließ die Leiter fallen und schritt mit zitterndem Herzen auf das Schloß zu.

Gewisse Imaginationen sind nothwendig abergläubisch; es sind gewöhnlich die reichsten und überspanntesten, sie lassen weniger gern die Vernunft, als die Fabel zu; durch ihre Instinkte zum Unmöglichen, oder wenigstens zur Idealität hingezogen, finden sie das Natürliche zu gemein. Sie gerathen außer sich vor Entzücken über einen schönen, düsteren Wald, weil die dunkeln Gewölbe mit Geistern und Gespenstern bevölkert sein müssen. Die Alten, welche so große Dichter waren, träumten von diesen Dingen am hellen Tage. Nur da ihre Sonne, ein Herd glühenden Lichtes, von dem wir so zu sagen höchstens noch den Rester haben, da ihre Sonne, sagen wir, die Idee der Larven und Gespenster verbannte, hatten sie die lachenden Dryaden und die leichten Oreaden erfunden.

Gilbert, das Kind einer wolkigen Gegend, wo die Gedanken trauriger sind, wähnte eine Erscheinung zu erblicken. Trotz seiner Ungläubigkeit kam ihm diesmal wieder in den Kopf, was ihm fliehend die Frau von Balsamo gesagt habe; konnte der Zauberer nicht ein Gespenst heraufbeschworen haben, er, der selbst den Engel der Reinheit zum Bösen fortzureißen vermochte?

Gilbert hatte aber immer eine zweite Bewegung, welche schlimmer war, als die erste. Er rief alle Beweissätze starker Köpfe gegen die Geister zu Hülfe, und der Artikel Gespenst des philosophischen Wörterbuchs verlieh ihm einen gewissen Muth, indem er ihm eine größere, aber mehr gegründete Angst einjagte.

Hatte er wirklich Jemand gesehen, so mußte es eine lebendige Person sein, und diese Person mußte ein großes Interesse haben, so zu lauern.

Seine Angst nannte ihm Herrn von Taverney, sein Gewissen blies ihm einen andern Namen ein.

Er schaute nach dem zweiten Stocke des Pavillon. Das Licht von Nicole war, wie gesagt, erloschen und ihre Scheiben verriethen kein Leben.

Kein Hauch, kein Geräusch, kein Schimmer im ganzen Hause, ausgenommen im Zimmer des Fremden. Er schaute, er horchte, und als er nichts mehr sah und nichts mehr hörte, nahm er wieder seine Leiter, nunmehr überzeugt, es sei eine Täuschung seiner Augen gewesen, wie dies bei einem Menschen vorkommt, dessen Herz zu schnell schlägt, und er müsse diese Vision eher als einen Nachlaß seiner Sehkraft bezeichnen, wie man technisch sagen kann, denn als einen Erfolg der Uebung seiner Fähigkeiten.

Als er seine Leiter angelegt hatte und den Fuß auf die erste Sprosse setzte, öffnete und schloß sich die Thüre von Balsamo, der Andrée hinausgehen ließ, welche ohne Licht und ohne Geräusch hinabstieg, als ob sie von einer übernatürlichen Macht geleitet und unterstützt würde.

So gelangte Andrée auf den Ruheplatz der Treppe, ging an Gilbert vorüber, an welchem sie im Schatten mit ihrem Kleide anstreifte, und setzte ihren Weg fort.

Herr von Taverney war eingeschlafen, La Brie lag im Bette, Nicole befand sich im andern Pavillon, die Thüre von Balsamo hatte sich wieder geschlossen, und so sah sich der junge Mann gegen jede Ueberraschung geschützt.

Er machte eine heftige Anstrengung gegen sich selbst und folgte Andrée, seinen Gang nach dem ihrigen richtend.

Andrée durchschritt das Vorzimmer und trat in den Salon.

Gilbert folgte ihr mit zerrissenem Herzen. Er stand jedoch stille, obgleich die Thüre offen geblieben war. Andrée setzte sich auf das Tabouret vor dem Klavier, auf welchem die Kerze immer noch brannte.

Gilbert zerfleischte sich die Brust mit seinen krampfhaften Nägeln. An derselben Stelle hatte er eine halbe Stunde zuvor das Kleid und die Hand dieser Frau geküßt, ohne daß sie sich ärgerte; hier hatte er gehofft, war er glücklich gewesen! Ohne Zweifel rührte die Nachsicht des Mädchens von einer jener tiefen Verdorbenheiten her, wie sie Gilbert in den Romanen gefunden hatte, welche, den Grund der Bibliothek des Barons bildeten, oder von einer jener Verräthereien der Sinne, wie er sie in gewissen physiologischen Abhandlungen hatte auseinandersetzen sehen.

»Nun!« murmelte er, von einer dieser Ideen zur andern schwankend, »wenn dem so ist, so werde ich wie die Andern diese Verdorbenheit benützen, oder aus dieser Ueberraschung der Sinne Vortheil ziehen. Und da der Engel sein Unschuldskleid dem Winde überantwortet, so mögen mir einige Fetzen ihrer Keuschheit zufallen.«

Der Entschluß von Gilbert war diesmal gefaßt, er stürzte nach dem Salon.

Doch als er die Schwelle überschreiten wollte, griff eine kräftige Hand aus dem Schatten hervor und packte ihn beim Arme.

Gilbert wandte sich erschrocken um, und es kam ihm vor, als verrückte sich sein Herz in seiner Brust.

»Ah! diesmal habe ich Dich, Unvorsichtiger,« flüsterte ihm eine zornige Stimme in das Ohr, »versuche es noch einmal zu leugnen, Du habest Rendezvous mit ihr, versuche es zu leugnen, Du liebest sie  . . .«

Gilbert hatte nicht einmal die Kraft, den Arm zu schütteln, um sich der pressenden Hand, die ihn zurückhielt, zu entziehen.

Der Druck war indessen nicht so groß, daß er ihn nicht hätte brechen können. Der Schraubstock war ganz einfach die Faust eines jungen Mädchens. Kurz, es war Nicole Legay, welche Gilbert gefangen hielt.

»Sprechen Sie, was wollen Sie denn?« fragte er ganz leise und voll Ungeduld.

»Ah! Du willst, daß ich laut rede, wie es scheint,« sagte Nicole mit der ganzen Fülle ihrer Stimme.

»Nein, nein, ich will, daß Du schweigst,« antwortete Gilbert mit den Zähnen knirschend, und zog Nicole in das Vorzimmer.

»Nun, so folge mir!«

Gilbert verlangte nichts Anderes, denn indem er Nicole folgte, entfernte er sich von Andrée.

»Es ist gut, ich folge,« sprach er.

Er ging wirklich hinter Nicole, welche ihn in den Garten führte und die Thüre hinter sich zumachte.

»Aber Fräulein Andrée wird in ihr Zimmer zurückkehren,« sagte Gilbert, »sie wird Sie rufen, damit sie ihr beim Auskleiden helfen, und Sie werden nicht da sein.«

»Wenn Sie glauben, das beschäftige mich in diesem Augenblick, so täuschen Sie sich in der That gewaltig. Was liegt mir daran, ob sie mich ruft oder nicht ruft! Ich muß Sie sprechen.«

»Sie könnten auf morgen verschieben, was Sie mir zu sagen haben, Nicole; das Fräulein ist streng, wie Sie wissen.«

»Ah! ja, Ich rathe ihr, streng zu sein, besonders gegen mich!«

»Nicole morgen, ich verspreche Ihnen  . . .«

»Du versprichst! sie sind schön, Deine Versprechungen, und man kann darauf zählen! Hattest Du mir nicht versprochen, mich in der Gegend von Maison-Rouge diesen Abend um sechs Uhr zu erwarten? Wo warst Du um diese Stunde? Auf der entgegengesetzten Seite, da Du den Reisenden hieher gebracht hast. Ich lege nun ein ebenso großes Gewicht auf Deine Versprechungen, als auf die des Gewissensrathes vom Kloster der Annonciaden, welcher einen Eid geleistet hatte, das Geheimniß der Beichte zu bewahren, und alle unsere Sünden der Superiorin meldete.«

»Nicole, bedenken Sie, daß man Sie wegschickt, wenn man bemerkt  . . .«

»Und Sie, man wird Sie nicht wegschicken, Sie, der Sie in das Fräulein verliebt sind! nein, der Herr Baron wird sich wohl Zwang anthun!«

»Bei mir,« sprach Gilbert, der sich nun zu vertheidigen suchte, »bei mir ist kein Grund vorhanden, mich wegzuschicken.«

»Wirklich! sollte er Sie bevollmächtigt haben, seiner Tochter den Hof zu machen?«

Gilbert konnte mit einem Worte Nicole beweisen, daß, wenn er auch schuldig war, wenigstens keine Mitschuld auf der Seite von Andrée obwaltete. Er durfte ihr nur erzählen, was er gesehen, und so unglaublich die Sache auch sein mochte, so hätte doch Nicole in Folge der guten Meinung, welche die Frauen von einander haben, ohne allen Zweifel geglaubt. Doch ein tieferer Gedanke hielt den jungen Mann im Augenblick der Offenbarung zurück. Das Geheimniß von Andrée gehörte zu denjenigen, welche einen Menschen bereichern, mag dieser Mensch nun ein Verlangen nach Schätzen der Liebe, oder nach materielleren und. positiveren Schätzen tragen.

Die Schätze, nach welchen Gilbert verlangte, waren Schätze der Liebe. Er berechnete, daß der Zorn von Nicole minder gefährlich, als der Besitz von Andrée wünschenswerth war, traf sogleich seine Wahl und schwieg über das seltsame Abenteuer der Nacht.

»Gut, erklären wir uns, da Sie es durchaus wollen,« sagte er.

»Oh! das wird schnell geschehen sein,« rief Nicole, deren Charakter, dem von Gilbert geradezu entgegengesetzt, sie keine von ihren Empfindungen beherrschen ließ; »doch Du hast Recht, wir sind schlecht in diesem Blumengarten; gehen wir in mein Zimmer.«

»In Ihr Zimmer!« rief Gilbert erschrocken; »unmöglich.«

»Warum?«

»Wir setzen uns der Gefahr aus, überrascht zu werden.«

»Stille doch!« versetzte Nicole mit einem verächtlichen Lächeln, »wer sollte uns überraschen? Fräulein Andrée? In der That, sie muß eifersüchtig auf diesen schönen Herrn sein! Zu ihrem Unglück sind die Leute, deren Geheimniß man weiß, nicht zu fürchten. Ah! Fräulein Andrée eifersüchtig auf Nicole; ich hätte nie an eine solche Ehre geglaubt.«

Und ein gezwungenes Gelächter, furchtbar wie das Brüllen des Sturmes, erschreckte Gilbert viel mehr, als es eine Beleidigung oder eine Drohung gethan hätte.

»Ich fürchte mich nicht vor dem Fräulein, Nicole, sondern ich habe bange für Sie.«

»Ah! ja, das ist wahr, Sie haben mir immer gesagt, wo es keinen Scandal gebe, gebe es auch kein Uebel. Die Philosophen sind zuweilen Jesuiten; übrigens sagte mir das der Gewissensrath der Annonciaden ebenfalls, und zwar vor Ihnen: deshalb geben Sie Ihre Rendezvous dem Fräulein in der Nacht. Vorwärts, vorwärts, keine so schlechten Gründe  . . . kommen Sie in mein Zimmer, ich will es haben.«

»Nicole!« sprach Gilbert, mit den Zähnen knirschend.

»Nun!« rief das Mädchen, »was weiter?«

»Nehmen Sie sich in Acht!«

Und er machte eine drohende Geberde.

»O! ich fürchte mich nicht, Sie haben mich schon einmal geschlagen, doch weil Sie eifersüchtig waren. Sie liebten mich zu jener Zeit. Es war eine Woche nach unserem schönen Honigtage, und ich ließ mich schlagen. Aber heute soll es nicht wieder geschehen. Nein! nein! nein! denn Sie lieben mich nicht mehr und ich bin nun eifersüchtig.«

»Und was wirst Du thun?« sagte Gilbert, das Mädchen am Faustgelenke fassend.

»Oh! ich schreie so sehr, daß Fräulein Andrée Sie fragen wird, mit welchem Rechte Sie Nicole das geben, was Sie in diesem Augenblick nur ihr schuldig sind. Lassen Sie mich los, ich rathe es Ihnen.«

Gilbert ließ die Hand von Nicole los.

Dann nahm er seine Leiter, schleppte sie vorsichtig weiter und legte sie außen am Pavillon so an, daß sie beinahe das Fenster von Nicole Legay erreichte.

»Sieh da, das ist Verhängniß,« sprach diese, »die Leiter, welche wahrscheinlich dazu dienen sollte, das Fenster des Fräuleins zu erklettern, wird ganz einfach dazu dienen, von der Mansarde von Nicole Legay herabzusteigen. Sehr schmeichelhaft für mich!«

Nicole betrachtete sich als die Stärkere und beeilte sich dem zu Folge mit der Hast der Frauen zu triumphiren, die, wenn sie nicht wirklich im Guten oder Bösen überlegen sind, stets diesen ersten zu schnell verkündigten Sieg theuer bezahlen.

Gilbert fühlte das Falsche seiner Stellung, er folgte deshalb dem Mädchen, indem er alle seine Fähigkeiten zu dem Kampf, den er ahnte, zusammenzuraffen bemüht war.

Als ein vorsichtiger Mensch, versicherte er sich vor Allem zweier Dinge.

Einmal an dem Fenster vorübergehend, daß Fräulein von Taverney immer noch im Salon war.

Zweitens, daß man, ohne sich der Gefahr, den Hals zu brechen, bloszustellen, die erste Sprosse erreichen und sich von da auf den Boden hinabgleiten lassen konnte.

In Betreff der Einfachheit wich das Zimmer von Nicole nicht von den übrigen des Wohngebäudes ab.

Es war eine Art von Speicher, dessen Wand unter einer grauen Tapete mit grünen Zeichnungen verschwand. Ein Gurtbett und ein großes Geranium, das in der Nahe des Dachfensters stand, schmückten die Stube. Andrée hatte überdies Nicole eine ungeheure Schachtel von Pappendeckel geliehen, die zugleich als Commode und als Tisch diente.

Nicole setzte sich auf den Rand des Bettes, Gilbert auf die Ecke der Schachtel.

Nicole hatte, während sie die Treppe heraufstieg, Ruhe gewonnen. Herrin ihrer selbst, fühlte sie sich stark. Noch ganz zitternd von den vorhergehenden Erschütterungen, vermochte Gilbert seine Kaltblütigkeit nicht wieder zu erlangen, und der Zorn stieg bei ihm immer mehr, je mehr er durch die Kraft des Willens bei dem Mädchen zu erlöschen schien.

Es trat ein kurzes Stillschweigen ein, während dessen Nicole Gilbert mit einem glühenden Auge betrachtete.

»Sie lieben also das Fräulein und Sie hintergehen mich?« sprach sie.

»Wer sagt Ihnen, daß ich das Fräulein liebe?« entgegnete Gilbert.

»Sie haben Rendezvous mit ihr.«

»Wer sagt Ihnen, daß ich mit ihr ein Rendezvous gehabt habe?«

»Mit wem hatten Sie denn in dem Pavillon zu thun? Mit dem Zauberer?«

»Vielleicht, Sie wissen, daß ich Ehrgeiz besitze.«

»Sagen Sie Neid.«

»Das ist dasselbe Wort nach der guten und schlimmen Bedeutung erklärt.«

»Machen wir nicht aus einem Streite über Dinge einen Streit über Worte. Nicht wahr, Sie lieben mich nicht mehr?«

»Ich liebe Sie immer noch.«

»Warum entfernen Sie sich denn von mir?«

»Weil Sie, so oft Sie mir begegnen, Streit mit mir suchen.«

»Ich suche gerade Streit mit Ihnen, weil wir uns nur noch begegnen.«

»Ich war immer scheu, ich wählte immer die Einsamkeit, wie Sie wissen.«

»Ja, und man steigt mit einer Leiter zu der Einsamkeit hinauf  . . . Verzeihen Sie, ich wußte das nicht.«

Gilbert war über den ersten Punkt geschlagen.

»Vorwärts, seien Sie offenherzig, wenn es Ihnen möglich ist, Gilbert, und gestehen Sie, daß Sie mich nicht mehr lieben, oder daß Sie uns zu zwei lieben.«

»Nun! wenn dem so wäre, was würden Sie sagen?«

»Ich würde sagen, es sei eine Ungeheuerlichkeit.«

»Nein, sondern ein Irrthum.«

»Ihres Herzens?«

»Unserer Gesellschaft. Es gibt Völker, wo jeder Mann, wie Sie wissen, bis sieben oder acht Frauen hat.«

»Das sind keine Christen,« erwiederte Nicole ungeduldig.

»Es sind Philosophen,« sprach Gilbert mit stolzem Tone.

»Oh! mein Herr Philosoph, Sie würden es also gut finden, wenn ich es machte wie Sie, wenn ich einen zweiten Liebhaber nähme?«

»Ich möchte nicht gern ungerecht und tyrannisch gegen Sie sein, ich möchte nicht gern Bewegungen Ihres Herzens unterdrücken  . . . die heilige Freiheit besteht hauptsächlich darin, daß man den freien Willen achtet  . . . Wechseln Sie mit der Liebe, Nicole, ich vermöchte Sie nicht zu einer Treue zu zwingen, welche meiner Ansicht nach nicht in der Natur liegt.«

»Ah! Sie sehen wohl, daß Sie mich nicht mehr lieben,« rief Nicole.

Die Discussion war die Stärke von Gilbert, nicht als ob sein Geist scharf logisch gewesen wäre, doch er war paradox. Und dann, so wenig er auch wußte, so wußte er doch mehr als Nicole. Nicole hatte nur gelesen, was ihr unterhaltend vorkam; Gilbert las nicht nur, was ihm ergötzlich zu sein schien, sondern auch, was ihm nützlich dünkte. Gilbert gewann daher während des Streites allmälig wieder die Kaltblütigkeit, welche Nicole verlor.

»Haben Sie Gedächtniß, Herr Philosoph?« fragte Nicole mit einem ironischen Lächeln.

»Zuweilen,« antwortete Gilbert.

»Entsinnen Sie sich dessen, was Sie mir sagten, als ich vor fünf Monaten mit dem Fräulein von den Annonciaden ankam?«

»Nein, doch erinnern Sie mich daran.«

»Sie sagten mir: ,Ich bin arm!’ Es war an dem Tage, wo wir mit einander Tanzai unter einem der Gewölbe des eingefallenen Schlosses lasen.«

»Gut, fahren Sie fort.«

»Sie zitterten gewaltig an diesem Tage.«

»Das ist möglich, ich bin von einer sehr schüchternen Natur, aber ich thue, was ich kann, um diesen Fehler, wie die anderen, abzulegen.«

»Somit werden Sie, wenn Sie alle Ihre Fehler abgelegt haben, vollkommen sein.«

»Ich werde wenigstens stark sein, denn die Weisheit verleiht Kraft.«

»Wo haben Sie das gelesen, wenn es beliebt?«

»Was liegt Ihnen daran? Kommen Sie auf das zurück, was ich Ihnen unter dem Gewölbe sagte.«

Nicole fühlte, daß sie immer mehr Boden verlor.

»Nun! Sie sagten mir: ,Ich bin arm, Nicole, Niemand liebt mich, man weiß nicht, daß ich etwas hier habe.’ Und Sie schlugen an Ihr Herz.«

»Sie täuschen sich, Nicole, wenn ich an Etwas schlug, während ich dies sagte, so war es mein Kopf und nicht mein Herz; das Herz ist nur eine Druckpumpe, bestimmt das Blut nach den Extremitäten zu treiben. Lesen Sie das philosophische Wörterbuch, Artikel Herz.«

Hiebei richtete sich Gilbert voll Anmaßung auf.

Vor Balsamo gedemüthigt, spielte er den Stolzen vor Nicole.

»Sie haben Recht, Gilbert, Sie müssen in der That an Ihren Kopf geschlagen haben. Sie sagten also, während Sie an Ihren Kopf schlugen: ,Man behandelt mich hier wie einen Hofhund, und Mahon ist noch glücklicher als ich.’ Ich antwortete Ihnen sodann, man habe Unrecht, Sie nicht zu lieben, und wenn Sie mein Bruder gewesen waren, so hätte ich Sie geliebt. Es scheint mir, ich antwortete Ihnen dies mit dem Herzen und nicht mit dem Kopfe. Doch vielleicht täusche ich mich, ich habe das philosophische Wörterbuch nicht gelesen.«

»Sie haben Unrecht gehabt, Nicole.«

»Sie nahmen mich sodann in ihre Arme. ,Sie sind eine Waise, Nicole,’ sagten Sie zu mir; ,ich bin auch Waise, unsere Armuth und die schlechte Behandlung, die wir zu erfahren haben, macht uns zu mehr als Geschwistern; lieben wir einander, als ob wir es wirklich wären. Uebrigens würde uns die Gesellschaft, wenn wir es wirklich wären, verbieten, uns zu lieben, wie ich will, daß Du mich liebest.’ Hierauf umarmten Sie mich.«

»Das ist möglich.«

»Sie dachten also, was Sie sagten?«

»Ohne Zweifel denkt man beinahe immer das, was man sagt, in dem Augenblick, wo man es sagt.«

»Somit sind Sie heute  . . .«

»Heute bin ich fünf Monate älter: ich habe Dinge gelernt, die ich nicht wußte, ich ahne Dinge, welche ich noch nicht weiß. Heute denke ich anders.«

»Sie sind also falsch, lügenhaft, heuchlerisch?« rief Nicole sich erhitzend.

»Nicht mehr, als es ein Reisender ist, den man in der Tiefe eines Thales fragt, was er von der Landschaft denke, und an welchen man dieselbe Frage richtet, wenn er auf die Höhe des Berges gelangt ist, der ihm seinen Horizont abschloß. Ich umfasse eine größere Landschaft, das ist das Ganze.«

»Somit werden Sie mich nicht heirathen?«

»Ich habe Ihnen nie gesagt, ich würde Sie heirathen,« antwortete Gilbert verächtlich.

»Nun! nun! es scheint mir, daß Nicole Legay wohl einen Sebastian Gilbert werth ist!«

»Jeder Mensch ist den andern werth, nur haben die Natur oder die Erziehung in die Menschen verschiedene Vermögen und Fähigkeiten gelegt, und je nachdem diese Vermögen oder Fähigkeiten sich mehr oder weniger entwickeln, entfernen sie sich von einander.«

»Somit entfernen Sie sich von mir, weil Ihre Fähigkeiten mehr entwickelt sind, als die meinigen?«

»Natürlich; Sie schließen noch nicht, Nicole, aber Sie begreifen schon.«

»Ja, ja!« rief Nicole außer sich, »ja, ich begreife.«

»Was begreifen Sie?«

»Daß Sie ein unredlicher Mensch sind.«

»Das ist möglich. Viele werden mit schlechten Instinkten geboren, doch der Wille ist da, um sie zu verbessern. Herr Rousseau selbst wurde mit schlechten Instinkten geboren; er hat sich jedoch gebessert. Ich werde es machen wie Rousseau.«

»Oh! mein Gott! mein Gott!« sprach Nicole, »wie konnte ich einen solchen Menschen lieben?«

»Sie haben mich auch nicht geliebt, Nicole,« erwiederte Gilbert mit kaltem Tone, »ich habe Ihnen nur gefallen. Sie kamen von Nancy, wo Sie nur Seminaristen gesehen hatten, die Sie lachen machten, oder Militaire, die Ihnen Furcht einjagten. Wir waren Beide jung, Beide unschuldig, Beide begierig, diesen Stand der Dinge zu verlassen. Die Natur sprach in uns mit ihrer unwiderstehlichen Stimme. Es ist Etwas in unsern Adern, das sich entzündet, es entsteht eine Unruhe, deren Heilung man in den Büchern sucht, welche uns noch viel unruhiger machen. Während wir zusammen eines von jenen Büchern lasen, Sie erinnern sich, Nicole, gaben Sie nicht nach, denn ich verlangte nichts und Sie verweigerten mir nichts, sondern wir fanden das Wort eines unbekannten Geheimnisses. Ein bis zwei Monate lang war dieses Wort: Glück! Ein bis zwei Monate lang lebten wir, statt zu vegetiren. Ist damit, daß wir zwei Monate lang durch einander glücklich gewesen sind, gesagt, wir müssen ewig unglücklich sein? Gehen Sie, Nicole! Wenn man dadurch, daß man das Glück gäbe oder empfinge, eine solche Verbindlichkeit übernähme, so würde man auf seinen freien Willen Verzicht leisten, und das wäre albern.«

»Ist das Philosophie, was Sie da sagen?« sprach Nicole.

»Ich glaube,« antwortete Gilbert.

»Es gibt also nichts Heiliges für die Philosophen?«

»Doch wohl, die Vernunft.«

»Somit wäre ich, die ich ein ehrliches Mädchen bleiben wollte  . . .«

»Verzeihen Sie, es ist hiezu schon zu spät.«

Nicole erbleichte und erröthete, als ob ein Rad jeden Tropfen ihres Blutes den Kreislauf durch ihren Körper machen ließe.

»Ehrlich in Beziehung auf Sie,« sprach sie. »Man ist immer ehrlich verheirathet, sagten Sie, um mich zu trösten, wenn man demjenigen, welchen das Herz gewählt hat, treu bleibt. Sie erinnern sich dieser Theorie über die Heirathen.«

»Ich sagte Verbindungen, Nicole, insofern ich nie heirathen werde.«

»Sie werden nie heirathen?«

»Nein. Ich will ein Gelehrter und ein Philosoph sein. Die Wissenschaft aber befiehlt die Absonderung des Geistes und die Philosophie die des Körpers.«

»Herr Gilbert,« sprach Nicole, »Sie sind ein Elender, und ich glaube, daß ich noch mehr werth bin, als Sie.«

»Fassen wir die Sache kurz zusammen,« erwiederte Gilbert aufstehend, »denn wir verlieren unsere Zeit, Sie, indem Sie mir Beleidigungen sagen, ich, indem ich Sie anhöre. Sie haben mich geliebt, weil es Ihnen so gefiel, nicht wahr?«

»Allerdings.«

»Nun, es ist kein Grund vorhanden, mich unglücklich zu machen, weil Sie etwas gethan, was Ihnen gefiel.«

»Der Dummkopf,« rief Nicole, »er hält mich für verdorben und stellt sich, als fürchtete er mich nicht!«

»Sie fürchten, Nicole! gehen Sie doch! was vermögen Sie gegen mich? Die Eifersucht macht Sie ganz verwirrt.«

»Die Eifersucht! ich eifersüchtig!« rief das Mädchen mit einem fieberhaften Gelächter; »ah! Sie täuschen sich gewaltig, wenn Sie mich für eifersüchtig halten. Und ich bitte, worauf sollte ich eifersüchtig sein? Gibt es im ganzen Canton ein hübscheres Mädchen, als ich bin? Hätte ich weiße Hände, wie das Fräulein, und ich werde sie haben an dem Tage, wo ich nicht mehr arbeite, wäre ich dann nicht so viel werth, als das Fräulein? Mein Herr, schauen Sie meine Haare an (und sie löste das Band, das dieselben hielt), meine Haare können mich vom Scheitel bis zu den Zehen umhüllen, wie ein Mantel. Ich bin groß, ich bin gut gewachsen (Nicole umspannte ihren Leib mit ihren beiden Händen), ich habe Zähne, wie Perlen (und sie betrachtete ihre Zähne in einem kleinen, über ihrem Bette hängenden Spiegel). Wenn ich Jemand zulächeln und ihn auf eine gewisse Art anschauen will, so sehe ich diesen Jemand erröthen, beben, sich unter meinem Blicke winden. Sie sind allerdings mein erster Geliebter, aber Sie sind nicht der erste Mann, mit dem ich coquette gewesen bin . . . Höre, Gilbert,« sprach das Mädchen, drohender mit ihrem abgestoßenen Gelächter, als sie es mit ihren heftigsten Drohungen gewesen war, »Du spottest. Glaube mir, zwinge mich nicht, mit Dir Krieg anzufangen; mache nicht, daß ich ganz und gar den schmalen Fußpfad verlasse, auf welchem mich noch irgend eine schwankende Erinnerung an die Rathschläge meiner Mutter, irgend eine monotone Vorschrift meiner Kindergebete zurückhält. Wenn ich mich einmal über die Grenze der Schamhaftigkeit werfe, dann nimm Dich in Acht, Gilbert, Du wirst Dir nicht allein das Unglück vorzuwerfen haben, das für Dich daraus entspringt, sondern auch das, welches für Andere daraus hervorgeht.«

»Gut,« sagte Gilbert, »Sie sind nun auf eine gewisse Höhe gelangt, und ich bin von Einem überzeugt.«

»Wovon?«

»Daß, wenn ich jetzt einwilligte, Sie zu heirathen  . . .«

»Nun?«

»Daß Sie sich weigern würden.«

Nicole dachte nach und antwortete dann, die Fäuste ballend und mit den Zähnen knirschend:

»Ich glaube, Du hast Recht, Gilbert; ich glaube, daß ich ebenfalls anfange, den Berg zu ersteigen, von dem Du vorhin sprachst; ich glaube, daß ich ebenfalls meinen Horizont sich erweitern sehe; ich glaube, daß ich auch bestimmt bin, Etwas zu werden; und es ist in der That zu wenig, die Frau eines Philosophen oder eines Gelehrten zu werden. Nun kehre zu Deiner Leiter zurück und suche den Hals nicht zu brechen, obgleich es mir allmälig vorkommt, als ob dies ein großes Glück für die Andern und besonders für Dich wäre.«

Und das Mädchen wandte Gilbert den Rücken zu und fing an sich auszukleiden, als ob er gar nicht da wäre.

Gilbert blieb einen Augenblick unbeweglich, unentschlossen, denn so von der Poesie des Zornes und der Flamme der Eifersucht aufgeregt, war Nicole ein entzückendes Geschöpf. Aber es herrschte ein fester Entschluß in dem Herzen von Gilbert vor, der Entschluß, mit Nicole zu brechen; Nicole konnte zugleich seiner Liebe und seinem Ehrgeiz Eintrag thun.

Als nach einigen Sekunden Nicole kein Geräusch mehr hinter sich hörte, wandte sie sich um; das Zimmer war leer.

»Weggegangen!« murmelte sie, »weggegangen!«

Sie schritt auf das Fenster zu, Alles war dunkel, das Licht ausgelöscht.

»Und das Fräulein!« sagte Nicole.

Hienach stieg sie auf den Fußspitzen die Treppe hinab, näherte sich der Thüre des Zimmers ihrer Gebieterin und horchte.

»Gut,« sprach sie, «sie ist allein zu Bette gegangen und schläft. Morgen! Ah! ich werde wohl erfahren, ob sie ihn liebt!«

Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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