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Strassenbau ohne nationale Koordination
ОглавлениеItalien und Deutschland waren die Pioniere im europäischen Autobahnbau ab 1950. In Deutschland wuchs das Autobahnnetz zwischen 1960 und 1980 von 2700 Kilometer Länge auf 9200, in Italien von 1000 Kilometer Länge auf 5900.23 Preisgünstige Automodelle wie der Fiat 500, der VW Käfer oder der Citroën 2CV wurden zu Symbolen der Massenmotorisierung. Im Jahr 1950 unterzeichneten fünf Staaten eine Erklärung zum Bau eines europäischen Fernverkehr-Strassennetzes. Sieben weitere Länder schlossen sich an, doch die Schweiz blieb abseits – der Strassenbau war Sache der Kantone. Die Schweizer Debatte war geprägt von regionalen und kantonalen Interessen.
«Gotthard offen» titelte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zu Ostern 1954.24 Die Schneefräse «Peter» habe sich mit ihren 160 Pferdestärken zum Pass hochgearbeitet. Die Gotthardstrasse sei nun durchwegs sechs Meter breit: «Ihre Oberfläche besteht zum Teil aus Granitpflaster und in den zuletzt vollendeten Stücken zum Teil aus Beton. Sogar auf dieser Höhe hat sich der Beton bewährt. Der Ausbau der Straße zwischen Airolo und der Urner Grenze kostete etwa sieben Millionen Franken, wovon 65 bis 70 Prozent als Alpenstraßenbeitrag vom Bund getragen wurden.» Der Bau eines ganzjährig offenen Strassentunnels sei aber noch Zukunftsmusik. «Der regionale Wettbewerb um die Sicherstellung der ganzjährigen Nord-Süd-Verbindung auf der Straße ist in voller Entwicklung begriffen. […] Freilich wird über kurz oder lang eine ordnende Hand dem Ausbruch einer helvetischen Konfusion vorbeugen müssen, und es wird erforderlich sein, von höherer Warte die Anwartschaften zu wägen und Entscheide zu treffen.»
In Italien beschloss das Parlament mit deutlicher Mehrheit den Bau des Mont-Blanc-Strassentunnels. Ein grosser Teil des europäischen Tourismus werde damit von der Schweiz abgeleitet, befürchtete Die Tat25, das sei eine Gefahr für Wirtschaft und Fremdenverkehr: «Allerdings, diese Gefahr besteht auch ohne den Mont Blanc-Tunnel. Die Schuld daran trägt zur Hauptsache unser mangelndes Straßensystem. Zwar sind wir naiverweise oft stolz darauf, daß in der Schweiz auch die Nebenstraßen gut und sauber ausgebaut sind. Wir übersehen dabei, daß wir das schlechteste Netz von Hauptdurchgangsstraßen haben, welches wohl in Europa zu finden ist. Zum Ausbau unseres Hauptstraßennetzes gehört neben einer Ost-West-Achse eine großzügige Nord-Süd-Achse. Diese ist ohne einen Durchstich durch die Alpenkette nicht denkbar.»
Während die NZZ und Die Tat eine übergeordnete Strassenplanung anmahnten, prangerte Die Weltwoche im Juni 1954 die Strassenbaupolitik am Gotthard an: «ein europäischer Verkehrsskandal».26 Der Schweiz drohe die internationale Verkehrsisolierung. Am schlimmsten seien die Verhältnisse am Gotthardpass. Zu Ostern, wenn die Passstrasse noch Wintersperre habe, betrage die Wartezeit an den Rampen zum Autoverlad sechs bis zehn Stunden. Jeder elfte Schweizer besitze ein Motorfahrzeug, rechnete Die Weltwoche vor, die Schweiz sei das am stärksten motorisierte Land Europas. Dazu kämen 1,3 Millionen ausländische Fahrzeuge, die pro Jahr in die Schweiz führen. «Ganz allgemein stehen wir mit dem Ausbau unseres Hauptstrassennetzes im Rückstand. Unsere Nachbarstaaten, namentlich Frankreich, Deutschland und Italien verfügen über ein vorzüglich ausgebautes Netz von Hauptstrassen und von Autobahnen. Bei uns dagegen herrscht im Strassenwesen ein ausgesprochenes Chaos. Die auf diesem Gebiet souveränen Kantone bauen weitgehend ohne gegenseitige Koordination.»
Am 30. Juni 1954 verfassten elf kantonale Baudirektoren eine Resolution: «Die in Luzern versammelten kantonalen und kommunalen Vertreter der zentralschweizerischen Kantone und des Kantons Tessin sind angesichts der ausländischen Bestrebungen auf Umfahrung der Schweiz der einhelligen Auffassung, dass die Schaffung einer ganzjährig befahrbaren Gotthardstrasse in absehbarer Zeit ein unbedingtes und im Interesse des ganzen Landes liegendes Erfordernis darstellt.» 200 000 Stimmbürger unterschrieben 1956 dann die Volksinitiative «Für die Verbesserung des Strassennetzes» – eine vor der Einführung des Frauenstimmrechts sensationelle Zahl. Lanciert worden war die Initiative vom Automobil Club und vom Touring Club der Schweiz.27 Der Bundesrat nahm das Anliegen in einem Gegenvorschlag auf: Bau von Autobahnen von Ost nach West und von Nord nach Süd. Zuständig sei der Bund. Alle Parteien und wichtigen Organisationen gaben die Ja-Parole aus. Am 6. Juli 1958 wurde die Volksinitiative angenommen. 85 Prozent betrug der nationale Ja-Stimmenanteil, 94 Prozent waren es im Tessin, 80 Prozent im Kanton Uri.
Die Schweiz als (noch) autoverkehrsarme Insel zwischen Italien, Frankreich und Deutschland, 1965.