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Der Korridor für den Schwerverkehr

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Die Gemeinde Airolo schrieb im August 1979 an die Kantonsregierung in Bellinzona, in anderen Regionen habe sich gezeigt, dass die Eröffnung von Strassentunnels vorab den grossen Zentren am Ausgangspunkt der Zufahrtstrecken nütze, nicht aber den kleinen Orten in den Alpentälern.66 Der Gemeindeverband Leventina warnte vor einer massiven Verkehrszunahme und forderte gar eine Verschiebung der Tunneleröffnung.67 Die Ortsdurchfahrten zwischen Varenzo und Bellinzona waren eng und steil. Zum Gotthard-Transitverkehr hinzu kam noch der Autobahnbaustellen-Verkehr mit 400 bis 500 Lastwagenfahrten pro Tag.68 Ein Verkehrschaos drohte. Lastwagensperrzeiten am Gotthard und am San Bernardino wurden vorbereitet. Im August 1981, knapp ein Jahr nach der Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels, erreichte der Stau in der Leventina eine Länge von 24 Kilometern. An der Südrampe des Gotthards waren fünfzig Autobahnkilometer noch nicht bereit.


Zahlreiche Schaulustige, Festgäste und Medienvertreter verfolgten am 5. September 1980 die Tunneleröffnung in Göschenen und Airolo. Ein Band zum Durchschneiden gab es nicht. Dafür hoben Kinder eine riesige Schweizerfahne aus einem Korb, die daraufhin zur Tunneldecke hochgezogen wurde, wo bereits Fahnen verschiedener Schweizer Gemeinden hingen. Fast 20 000 Fahrzeuge wurden am ersten Tag im Tunnel gezählt. Im Bild: die Tunneleinfahrt in Airolo.

Ab dem 1. Januar 1993 galt in der zukünftigen Europäischen Union (EU) der Binnenmarkt ohne Grenzen, in dem Menschen, Waren und Dienstleistungen frei bewegt werden konnten. Der Lastwagentransport genoss dabei verkehrspolitischen Vorrang, stellt der Wirtschaftswissenschaftler Richard Vahrenkamp fest: «Die europäische Verkehrspolitik privilegierte den LKW-Verkehr gegenüber dem Eisenbahntransport. Sie schuf einen europäischen Binnenmarkt für LKW-Transporte, während die nationalen Eisenbahngesellschaften nur schwer zu einer Kooperation zu bewegen waren. Der Europäische Binnenmarkt ließ ab 1993 nur für den Gütertransport mit dem LKW die Grenzkontrollen wegfallen und verlagerte sie in die Administration der einzelnen Speditionen und Versender. Hingegen kontrollierte der Zoll die Güterwagen von Eisenbahnen zumindest stichprobenartig an der Grenze und hielt so den Zugtransport auf, während der LKW Grenzen ohne Halt durchfahren konnte.»69

Diese Umwälzungen konnte Bundesrat Hans Hürlimann vermutlich nicht vorhersehen, als er in seiner Rede zur Eröffnung des Strassentunnels einen Satz sagte, der seither oft als Beispiel für krasse Fehleinschätzungen zitiert wurde: «Der Tunnel ermöglicht einen flüssigen und sicheren Verkehr, spart Zeit und verkürzt die Distanzen. Aber sofort sei beigefügt: Dieser Tunnel ist kein Korridor für den Schwerverkehr. In der baulichen Gestaltung ist diese Strasse unter dem Berg nicht für den Transport von Gütern angelegt. Unsere Verkehrspolitik sieht vielmehr heute und morgen den Güterverkehr auf der Schiene.»

Im Oktober 1980 berichtete die «Samstagsrundschau» des Schweizer Radio DRS von der Lastwagenlawine im oberen Reusstal.70 Auf den Strassen herrschten fast chaotische Zustände. Der Verkehr in der Leventina sei ebenfalls unerträglich, die Leute verzweifelten. An Brücken im Kanton Uri seien Aufschriften angebracht worden: «Uri stirbt kilometerweise». Die Zufallsgäste von einst fehlten nun, viele Gastbetriebe verkauften weniger Mittagessen, und die Übernachtungszahlen sanken, schreibt Reto Moor.71 Das Urnerland sei zu einem Transitkanton geworden, dessen Tourismusgewerbe erst zehn Jahre nach der Tunneleröffnung an die früheren Übernachtungszahlen anschliessen konnte. Mit dem Autobahnbau wurden die Grossverteiler im Unterland besser erreichbar, und es beschleunigte sich das «Lädelisterben». Auch das Gewerbe profitierte nicht von der Autobahn, legt Moors Analyse weiter dar. Dafür waren die Dörfer vom Durchgangsverkehr befreit, die Lebensqualität verbesserte sich damit schlagartig.

Je grösser der Abstand zur Autobahn, desto positiver die Auswirkungen im Kanton Uri, schrieb Rolf Wespe 1981 im Tages-Anzeiger.72 Also weniger Übernachtungen in Wassen, dafür mehr in Andermatt. «Die Italienisch sprechende Schweiz hat den Autotunnel gefordert, um die Isolation zu überwinden. Nun muss sich das Tessin damit befassen, wie es mit dem Überranntwerden durch den Massentourismus fertigwerden soll.» Max Wermelinger, der Tessin-Korrespondent der NZZ, kommentierte: «Vorderhand gibt es nur eines: wegkommen vom Schwarzweissbild der Illusionen und Uebertreibungen, wonach das Tessin vorher eine Oase war und nun zur stinkenden Hölle wurde. Wer erinnert sich an die Autoschlangen, die Jahr für Jahr während der internationalen Ferienzeit die Strassen bis zu den Grenzübergängen verstopften?»73

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