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I

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Sie spürte seine Hand in ihrer Hand. Sie war warm und trotz der Kraft, die sie in sich barg, sehr weich.

Melia umfasste sie etwas fester, um sie nicht zu verlieren.

Während sie weiterlief, musste sie feststellen, dass der Weg vor ihr nicht klar zu erkennen war, sondern ein eher verschwommenes, halbdunkles Nichts darstellte. Dennoch wusste sie, dass sie das Richtige tat.

Hinter sich konnte sie seinen Atem hören. Er ging stoßweise, war gehetzt und ab und zu war ein leichtes Stöhnen zu hören.

Melia musste darüber lächeln, denn der Grund dafür war sie allein.

Nichtsahnend hatte sie ihn förmlich aus dem Schlaf gerissen, um ihn jetzt hinter sich her durch die Dunkelheit zu zerren. Aber so war das doch nun mal, wenn man eine Überraschung plante. Und genau das sollte ihm doch auch jetzt widerfahren: Eine wundervolle, wunderbare Überraschung mit der er sicher nicht gerechnet hatte. Obwohl Melia sich eingestehen musste, dass sie sich im Moment ebenfalls nicht mehr recht daran erinnern konnte, was sie vorhatte – was sie jedoch auf die momentane Hetzerei zurückführte – wusste sie, dass es etwas ganz Besonderes sein würde.

In einiger Entfernung konnte sie plötzlich ein schwaches Licht entdecken. Das war ihr Ziel.

Langsam dämmerte es ihr wieder: Sie waren in einem Tunnel, wenngleich sie eigentlich nicht damit gerechnet hatte, dass er derart lang und dunkel sein würde. Am Ende aber war Licht. Viel Licht – und auch viele Menschen.

Und sie alle würden dann auf sie herabblicken, weil Melia etwas tun würde, was die Aufmerksamkeit aller auf sie ziehen würde.

Aber was genau war es noch, dass sie tun würde? Sie konnte es nicht mit Gewissheit sagen, nur, dass es etwas sein würde, was nicht alltäglich war und sowohl ihr Leben, als auch das des Mannes hinter ihr für immer verändern würde.

Als sie an ihn dachte, spürte sie sofort wieder eine wundervolle Wärme, die sich von ihrem Herzen in ihren ganzen Körper ausbreitete und von der sie wusste, dass es dafür nur einen sinnvollen Namen geben konnte: Liebe!

Ja, sie liebte diesen Mann, den sie gerade immer weiter hinter sich herzerrte. Mehr als Worte es je sagen könnten. Melia spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, wie eine wohlige Gänsehaut über ihren Körper strich. Der Gedanke an ihn war stets erregend. Sie liebte sein Gesicht, seinen Körper, seinen Blick, seinen Geruch, den Klang seiner Stimme – ach, doch schlicht und ergreifend einfach alles an ihm.

Und er liebte sie. Das hatte er ihr schon so oft in so unendlich vielen wundervollen und besonderen Momenten gesagt und zu verstehen gegeben.

Deshalb hatte sich Melia entschlossen, hier und jetzt das zu tun, was sie gerade vorhatte: Ihr Liebesglück endlich vollkommen und ihm vor den Augen der ganzen Welt einen Heiratsantrag zu machen. Die Tatsache, dass ihr wieder eingefallen war, warum sie hier waren und der Gedanke daran, beschleunigten ihren Herzschlag nochmals deutlich.

Noch niemals in ihrem Leben, dessen war sie sich so absolut klar bewusst, hatte sie eine bessere und richtigere Entscheidung getroffen.

Nur eines gab es, dass ihr Glück noch trübte und es am Ende doch nicht so abschließend vollkommen machte, wie sie es sich gewünscht hätte: Trotz all der gemeinsamen Erlebnisse, die sie miteinander hatten, trotz all der Liebe, die sie für ihn empfand und die sie durch ihn empfing, war es ihr bisher noch nicht gelungen, seinen Namen zu erfahren.

Wenn sie jetzt nicht so aufgeregt gewesen wäre, weil das Ende des Tunnels mittlerweile in greifbare Nähe gerückt war, hätte sie sich deswegen vielleicht wieder – wie schon so oft, wenn sie allein war – gegrämt, doch war sie sich mehr als sicher, dass mit ihrer Frage nach einem gemeinsamen Leben, er ihr auch dieses letzte Geheimnis über sich offenbaren würde.

Der Gedanke daran erregte sie noch mehr und erzeugte ein offenes Lachen bei ihr. Beinahe kicherte sie, was sie zusätzlich belustigte. Ja, Melia fühlte sich fast so wie ein kleines Schulmädchen, dass gerade ihren ersten Kuss erlebt hatte.

Hinter sich konnte sie ebenfalls ein Kichern hören und sie war so froh, dass ihr Auserwählter mittlerweile ebensolchen Spaß an dieser Sache fand, wie sie selbst.

Im nächsten Moment aber beschlich sie eine Unsicherheit, die in dem gleichen Maße anstieg, wie sie plötzlich einen Gegenzug durch seine Hand verspürte.

Melia kannte die Stimme des Mannes hinter ihr ganz genau. In all ihren Klangfarben, in all ihren Emotionen und in all ihrer Wärme. Doch das Kichern, das sie gerade vernahm, hörte sich nicht so an, wie sie es von ihm gewohnt war. Es war viel zu schrill, viel zu hart und viel zu abgehackt.

Auch konnte sie nicht verstehen, warum er jetzt so offensichtlich seinen Lauf abbremste und sich sogar gegen ein Weiterkommen stemmte, wo sie das Ende des Tunnels doch in wenigen Metern erreicht haben würden und sich die Dunkelheit um sie herum gerade begann in helles, pulsierendes Sonnenlicht zu wandeln.

Melia aber hielt an ihrem Vorhaben fest. Wahrscheinlich, nein ganz sicher sogar, bekam er kalte Füße und war unsicher und ängstlich. Doch sie war das genaue Gegenteil davon und deshalb zog sie jetzt einfach noch fester an ihm, um ihn ins Licht zu führen.

Das kostete sie beinahe ihre ganze Kraft und sie musste sich zu ihm umwenden, um nicht erfolglos zu bleiben. Während es ihr so gelang, weiter voranzukommen, hörte sie wieder dieses merkwürdige Kichern, das so gar nicht von ihm stammen konnte.

Dann aber spürte sie, wie sie ins Sonnenlicht trat. Eine Welle angenehmer Wärme erfasste sie und gab ihr neuen Mut.

Doch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann schon wurde die Wärme immer intensiver und unangenehmer. Einen Moment später war es schon sehr heiß und die Hitze schmerzte in ihrem Rücken.

Während sie gerade noch erkennen konnte, wie der Mann, den sie so sehr liebte, aus dem Schatten des Tunnels ins Licht trat und sie erneut ungeheuer fasziniert von seinem wunderschönen Gesicht war (von dem sie jedoch seit jenem schicksalhaften Tag in Ara Bandiks nicht mehr wusste, dass es sich dabei um Mavis handelte), musste sie schon herumwirbeln, um zu sehen, was hinter ihr vorging.

Und kaum hatte sie das gewaltige, furchtbare Flammenmeer und die schier unfassbare Zerstörung, die sich vor ihnen ausbreitete, erkannt, wurde sie von einer schrecklichen Panik erfasst, die ihr das Herz zusammenzudrücken schien. Statt der großen Menschenmenge, die in gespannter Erwartung auf sie herabschaute, sah sie überall nur Trümmer, Leichen und Flammen. Ein furchtbares Bild eines grausamen Krieges.

In ihrer Fassungslosigkeit überkam sie wieder dieses widerliche Gefühl der Unruhe und sie wirbelte zurück zu Mavis.

Auch in seinen Augen konnte sie pure Fassungslosigkeit erkennen.

Doch da war auch noch mehr. Da war auch...Angst und Schmerz!

Aber noch bevor sie all das wirklich realisieren konnte, erhob sich hinter seinem Rücken ein monströser Schatten mit riesigen, furchtbaren Klauen. Gleich darauf ertönte wieder dieses schrille Kichern, doch dieses Mal wurde Melia brutal bewusst, dass es kein Kichern war und sie dieses Geräusch mehr als gut kannte. Es war das Geräusch des Todes!

Mavis öffnete seinen Mund, als wolle er ihr etwas sagen, doch fast gleichzeitig bäumte sich sein Körper auf, drückte sich sein Brustkorb nach vorn und seine Augen weiteten sich in purem Entsetzen.

Melia spürte, wie sich ein furchtbarer Schrei in ihrer Kehle bildete, doch noch bevor er nach außen jagte, durchstieß die grauenhafte, rasiermesserscharfe Kralle des Monsters hinter ihm wuchtig Mavis Oberkörper. In seinen eigenen Schrei aus Verwirrung und Schmerz, mischte sich das Geräusch eines gewaltigen Blutschwalls, der wie aus einem platzenden Luftballon auf Melia zuschoss und ihr direkt ins Gesicht und auf den Oberkörper spitzte.

Und genau in diesem Moment drang ihr eigener, gellender Schrei nach außen...

Melia riss ihre Augen auf und ihr Oberkörper zuckte ruckartig in die Höhe.

Ihr Schrei, der so wuchtig aus ihr herauszubrechen drohte, erstickte in der Bewegung, sodass nur ein schmerzhaftes Stöhnen zu hören war.

Während ihr Atem stoßweise und flach, aber rasend schnell ging, spürte sie ein widerliches Rauschen in ihren Ohren und ihren wuchtigen und hämmernden Herzschlag unter der Schädeldecke.

Das Bild vor ihren Augen war anfangs verschwommen, doch auch als es sich klärte, brachte es kaum Erkennbares hervor, denn um sie herum herrschte ziemliche Dunkelheit.

Melia lauschte, doch sie konnte kein Geräusch vernehmen, außer ihrem eigenen, hektischen Atem.

Als sie sich umblickte, sah sie ein sehr schwaches Licht, milchig-blau aus unbestimmter Quelle, einige Meter rechts von ihr, doch es war nichts und niemand dort zu erkennen.

Und so blieb sie allein in der Dunkelheit mit ihren furchtbaren und quälenden Erinnerungen, die sie schon oft heimgesucht hatten, wenn sie eingeschlafen war, nur damit sie am Ende voller Grauen und Panik aufschreckte, um zu erkennen, dass sie nur geträumt hatte.

Stets stand dabei dieser Mann im Mittelpunkt ihrer Träume. Der Mann, von dem sie wusste, dass sie ihn kannte, an den sie sich aber mit jedem neuen Tag nur noch schemenhafter erinnern konnte.

Ohne Chalek und dem Stein, den er auf wundersame Weise beeinflusst hatte, damit er ihre Erinnerungen speicherte, hätte sie ihn sicherlich schon längst vergessen.

So aber betrachtete sie ihn stets bevor sie einschlief. Am Ende konnte sie dann so unendlich intensiv von ihm träumen, dass nur die Realität klarer hätte sein können. Bis zu dem Moment, da sie, so wie gerade eben, schweißgebadet und voller Entsetzten aufschreckte.

Und während es ihr dann gelang, sich wieder zu beruhigen, war ihr klar, dass sie geträumt hatte, dass die Realität jedoch nicht viel besser war, denn konnte sie in ihren Träumen diesen Mann so klar und deutlich vor sich sehen, so war jedes Bild von ihm dahin, sobald sie die Augen geöffnet hatte.

Zurück blieb nur eine undeutliche, schemenhafte Erinnerung an ihn. Die konnte zwar sein Bild im Stein wiederauffrischen, doch der Schmerz in ihr blieb, weil sie wusste, dass sie diesen Mann einst wirklich geliebt haben musste, da Chalek nur so imstande gewesen war, sein Bild überhaupt in dem Stein zu bewahren.

Und all diese bittere Erkenntnis, all diese Machtlosigkeit ohne Hoffnung, machte sie zynisch, unruhig und zornig, weil sie erkannte, wie trostlos, erbärmlich und wertlos ihr eigenes Leben war.

Bis zu dem Moment, wo ihr die Realität des globalen Krieges, dem sie nun schon seit sieben Jahren ausgesetzt waren, wieder bewusst und ihr damit klar wurde, dass sie weder das Recht hatte, sich zu beklagen, noch die Zeit war, um Derartiges zu tun.

Frustriert, kraftlos und ohne jede Hoffnung stöhnte sie nochmals auf und atmete tief durch.

„Alles okay?“ Die Worte kamen von rechts aus dem unwirklichen Halbdunkel. Obwohl dort noch immer niemand zu sehen war, blieb Melia ruhig und gelassen, denn sie kannte die Stimme nur zu genau. Stattdessen zeigte sich ein säuerliches Grinsen auf ihren Lippen. „Nein...!“ gab sie zurück und sie lachte einmal leise verächtlich auf. …nicht wirklich!“ Sie erhob sich und ging ein paar Schritte auf das bläuliche Licht zu. Allmählich waren die dunklen Umrisse einer Person zu erkennen, die vor einer Felswand saß. Neben ihr lagen ein paar kleine Leuchtkristalle, die für das diffuse Licht sorgten. Melia trat neben die Gestalt und hockte sich nieder. Jetzt konnte sie das Gesicht des Mannes sehen, der sie ebenfalls geradeheraus anblickte. Es war Kalipos, der Anführer ihrer Gruppe, die er vor so unendlich langer Zeit hier oben auf dieses Hochplateau geführt hatte, wo sie seitdem unerkannt vor ihren Feinden und dem Krieg lebten und überlebten. Die Jahre hatten sein Gesicht deutlich geprägt. Es war kantiger, wettergegerbt, aber auch sehr viel älter geworden. Für einen Wimpernschlag trafen sich ihre Augen und Melia huschte ein ehrliches Lächeln über die Lippen, bevor es wieder verschwand und sie ihren Kopf zur Felswand drehte. Dort gab es einen etwa einen Meter langen und vielleicht zwanzig Zentimeter breiten, natürlichen und daher unregelmäßigen Spalt in dem mindestens einen Meter dicken Gestein, durch den man nach draußen schauen konnte. Melia ließ ihren Blick für einen Moment dort verweilen.

Das Plateau lag fast eintausend Meter über der Ebene, die sich nach Norden hin anschloss, sodass sie jetzt einen hervorragenden Blick darauf hatte, der hinauf bis nach Guavit reichte, ihres Zeichens Hauptstadt von Tibun, wenngleich von der einstmals prachtvollen und schillernden Metropole mit ihren über zwei Millionen Einwohnern nichts zurückgeblieben war, als ein gewaltiger Trümmerhaufen und ein noch größeres, blutgetränktes Schlachtfeld mit unzähligen, grausamen Opfern, deren Fleisch längst verdaut und deren Knochen längst verfault waren.

Dennoch war das Gebiet dort weiträumig in einem sanften Grün erleuchtet. Grund hierfür war die noch immer vorherrschende Anwesenheit der Fremden, die etwa zwei Dutzend Atmosphärenwandler in und um das ehemalige Stadtgebiet aufgestellt hatten. Diese monströsen, fast eintausend Meter hohen Maschinen in der Form einer Zigarre auf vier Stelzen, taten unablässig nichts Anderes, als pures Gift in die Atmosphäre zu blasen, um sie so für die Fremden lebensfähiger zu machen.

Immer wieder gab es Angriffe der Menschen gegen diese Wandler und meist wurden sie dann auch zerstört. Doch genauso oft erschien Ersatz dafür aus den Rüsseln der Anomalien und wenig später gab es neue Wandler, die sich in die Höhe drückten und ihre teuflische Arbeit fortsetzten.

Am Ende würden diese Maschinen ihnen allen den Tod bringen, doch, dessen war sich Melia sich mittlerweile ziemlich sicher, würde es soweit wohl gar nicht mehr kommen. Denn mehr als deutlich und auch für sie als Laien klar ersichtlich, hatte sich dieser Planet - ihre Heimat - durch all das Gift, das in seine Atmosphäre gepumpt worden war, aber auch durch die in unzähligen, sieglosen Schlachten eingesetzten Waffen, verändert. So sehr, dass sein Sterben immer schneller und immer deutlicher von allein voranschritt und durch nichts und niemanden mehr aufzuhalten war.

In ihrem Versuch, die fremden Aggressoren wieder von diesem Planeten zu eliminieren, hatten die Menschen Dinge getan und Waffen eingesetzt, die sie ihrem Ziel vielleicht nähergebracht haben mochten, ihnen aber trotzdem den Planeten nicht mehr zurückbringen konnten, da sie ihn unweigerlich und unwiderruflich zerstört hatten.

Vielleicht konnten sie den Feind doch noch besiegen, doch sterben würden sie dennoch alle, denn der Preis hierfür wäre der Planet selbst.

Und die Auswirkungen waren immer deutlicher und immer drastischer zu sehen und zu spüren. Der Himmel verdunkelte sich von Tag zu Tag immer mehr. Die Luft stank und war ohne Atemschutz schon lange nicht mehr dauerhaft zu atmen, ohne eine Gesundheitsschädigung zu riskieren. Von Tag zu Tag wurde es schwieriger, Nahrung zu finden. Pflanzen verdorrten unter der Hitze oder wurden durch den sauren Regen zerstört. Die Tiere wurden krank, ihr Fleisch immer seltener genießbar.

Hinzu kamen gewaltige Gewitterstürme, die gnadenlos über sie hinwegfegten, sowie in der letzten Zeit immer häufiger Erdstöße, die den Boden erbärmlich zum Erzittern brachten.

Nein, für Melia war klar, dass es nicht mehr lange dauern und ihr aller Ende kommen würde. Nicht der Feind würde sie alle ausrotten, Santara selbst würde es tun und diese Teufel dabei gleich mitreißen.

Niemand würde in diesem Krieg mehr der Sieger sein, doch Melia war sich natürlich bewusst, dass diese Bestien von einem fremden Planeten den Tod erst zu ihnen gebracht hatten. Und deshalb war der Hass auf sie noch größer, als die Furcht vor dem Ende aller Tage. Als eine der Führungspersonen ihrer Gruppe, zu dem sie sich mittlerweile gemausert hatte, durfte sie solche Gefühle allerdings nicht offen zeigen. Also konzentrierte sie sich darauf, das tägliche Überleben zu sichern und den Feind so genau wie möglich im Auge zu behalten.

Warum sie bisher hier von Angriffen verschont geblieben waren und noch immer unentdeckt leben konnten, wusste sie nicht zu sagen, doch war es so. Dabei war der Feind direkt vor ihnen. Und damit waren nicht diejenigen gemeint, die mit ihren Flugstaffeln in Guavit stationiert waren, sondern die furchtbaren Insektenbestien, die südwestlich der Stadt eine Art Nest in den dort befindlichen Stollen und Tunneln aufgebaut hatten.

Und Melia betrachtete jetzt nur kurz die zerstörte Stadt und die Atmosphärenwandler, dann glitt ihr Blick hinüber zu dem unscheinbaren Eingang zu dieser Höllenbrut, wo ständig Bewegung zu verzeichnen war, gerade so, als solle verhindert werden, dass sich die Sinne beim Beobachten entspannen konnten.

Dennoch war sich Melia sehr sicher, dass man sie hier noch nicht entdeckt hatte, denn sonst wären sie alle längst abgeschlachtet worden.

Damit ihr Glück auch anhielt, hatten sie sich, als sie mehr zufällig diese Höhle und die Felsspalte darin entdeckt hatten, dazu entschlossen, permanente Wachtposten dort aufzustellen, um die Aktivitäten ihrer Feinde stets im Auge behalten und wenn nötig frühzeitig reagieren zu können.

„Ist alles ruhig?“ fragte Melia, obwohl sie selbst im Moment nichts Außergewöhnliches sehen konnte.

Kalipos nickte. „Alles easy. Kein Grund zur Sorge!“

Melia wandte ihren Blick wieder zu ihm und schaute ihn einen Moment ausdruckslos an. Dabei war sie erneut beeindruckt, wie ruhig und stark dieser Mann war und ihr jetzt mit wenigen Worten und seiner Anwesenheit Sicherheit gab. Dass es innerlich ganz anders in ihm aussah, wussten nur wenige. Doch Melia mochte auch diesen schwachen, zweifelnden und verletzbaren Menschen, wenngleich sie niemals tiefere Gefühle füreinander gehegt hatten. Kalipos hatte hier eine Partnerin gefunden, Melia war allein geblieben. Dennoch mochte sie Kalipos sehr und war sich mehr als sicher, dass diese Gruppe keinen besseren Anführer als ihn hätte bekommen können.

Im nächsten Moment aber dachte sie zurück an ihren Traum und eine Welle der Unzufriedenheit überkam sie. „Warum hast du mich schlafen lassen?“ raunte sie mit ernstem Gesicht.

Kalipos lächelte dünn. „Weil du eingeschlafen bist!?“ Es war offensichtlich, dass er ihre Frage nicht ganz verstand.

„Aber ich wollte nicht schlafen!“ erwiderte Melia.

„Dir sind die Augen doch förmlich zugefallen!“ entgegnete Kalipos und in seiner Stimme zeigte sich ein wenig Verärgerung. „Du warst hundemüde, hör mal. Also habe ich dich machen lassen. Du hast die Ruhe wirklich mal gebraucht!“

„Aber…! Melia stockte, weil sie wusste, dass ihr Gegenüber Recht hatte. „...ich will doch nicht schlafen!“ fügte sie noch hinzu.

„Ja…!“ Kalipos Blick wurde ernst und besorgt. „...ich weiß!“

„Und da hast du es dennoch zugelassen?“ Melia schien neuen Wind in die Segel zu bekommen. „Du hast doch gesehen, was geschehen ist. Meinst du, dass das schön ist? Meinst du, dass ich jetzt entspannt bin?“

„Nein!“ Kalipos senkte den Blick. „Aber...ich weiß nicht. Du kannst doch nicht einfach immer nur wach bleiben. Niemand kann ohne Schlaf leben!“

„Besser ohne Schlaf, als mit diesen schlimmen Träumen!“ erwiderte Melia, doch ihre Stimme klang kraftlos.

„Dann zerstöre den Stein!“

„Was?“ Melia schien nicht verstanden zu haben.

„Der Stein!“ Er nickte ihr zu und schaute in ihren Schoss.

„Du weißt davon?“

Kalipos nickte. „Ja, ich weiß von ihm. Und ich weiß, was Chalek mit ihm gemacht hat. Na ja, zumindest so in etwa. Ich will es gar nicht genauer wissen!“ wehrte er sofort ab. „Ich weiß nur, dass er nicht gut für dich ist und…!“ Er zögerte, doch dann vollendete er seinen Satz. „...dich eines Tages umbringen wird!“

Melia schaute Kalipos zunächst böse an, dann ausdruckslos, schließlich schüttelte sie den Kopf und lachte einmal verächtlich auf. „Das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil. Ohne den Stein, wäre ich längst schon tot!“ Sie strich sich mit der rechten Hand fast schon liebevoll über ihre Hosentasche, in dem sie ihn deutlich spüren konnte.

Kalipos schaute sie fasziniert an, dann jedoch überwog sein Unverständnis. Er verzog den Mund. „Na, wie du meinst!“ raunte er und schaute wieder aus der Felsspalte auf die Ebene unter ihnen.

Melia hob den Kopf und ihr Blick weichte auf. „Es tut mir leid. Ich will mich nicht mit dir streiten. Du hättest mich nur nicht schlafen lassen sollen. Du hättest doch auch gar nicht mitkommen müssen. Du kannst doch selbst Ruhe gebrauchen!“

Kalipos nickte mit einem leichten Lächeln. „Das stimmt wohl. Aber Erstens schlafe ich in der Nacht!“ Er schaute Melia an, doch deren Blick war skeptisch. Mit einem weiteren Lächeln fügte er daher hinzu. „Na ja, zumindest weitaus öfter als du! Und Zweitens ist die Regel, dass man immer einen Partner hier bei sich hat! Und nur, weil Munipol sich das Bein verletzt hat und dich heute nicht begleiten konnte, heißt das nicht, dass du allein gehen durftest!“

Damit hatte Kalipos natürlich Recht. Immer zwei Personen hielten hier Wache. Rund um die Uhr. Nach vier Stunden erfolgte eine Ablösung. Entsprechend hielten innerhalb eines Tages sechs Paare a zwei Personen Wache. Gemessen an der Gesamtstärke der Gruppe, abzüglich derer, die nicht konnten oder noch zu jung dazu waren, kam jeder von ihnen etwa alle vier Tage an die Reihe. Und Melia wusste das alles sehr genau.

„Aber...!“ begann sie dennoch.

Doch Kalipos unterbrach sie sogleich wieder. „Ich bin nur heute mitgekommen. Ihr habt mich zum Gruppenführer ernannt und ich bin deshalb von dieser Aufgabe hier ausgeklammert. Aber ich kann ja wohl mal einspringen, wenn Jemand verhindert ist, oder? Morgen haben wir den Plan umgestellt und dann brauchst du mich nicht mehr zu ertragen!“ Seine Stimme klang mürrisch, doch ihr Tonfall zeigte, dass er es nicht so ernst meinte.

„So habe ich das nicht gemeint!“ verteidigte sich Melia mit dünner Stimme.

Kalipos lächelte ihr zu. „Ich weiß!“

„Außerdem bin ich doch gar nicht allein!“ Sie grinste kurz. „Chalek ist doch bei mir!“ Sie deutete mit dem Kopf in die andere Ecke der kleinen Höhle, wo sie noch vor wenigen Minuten geschlafen hatte.

„Ja...!“ Kalipos nickte. „...der Junge ist überaus anhänglich und immer da, wo du auch bist!“

Melia nickte mit einem weiteren Lächeln.

Doch plötzlich grinste Kalipos diebisch. „Zumindest so lange es ihn nicht wieder mal auf Entdeckungstour zieht!“

„Was?“ Melia wusste sofort, was Kalipos meinte. Mit einem entsetzten Gesichtsausdruck sprang sie auf und wollte schon die Höhle durchqueren.

„Er ist weg!“ Kalipos verzog seine Mundwinkel. „Schon seit einer knappen Stunde!“

„Aber...!“ Mittlerweile war Melia so dicht an der Schlafstätte des Jungen herangekommen, dass sie die zerwühlte Decke ohne Körper darunter sehen konnte. „Warum hast du das nicht verhindert? Du weißt doch, dass er nicht herumstreichen soll!“

Kalipos grinste ohne Freude. „Erstens bin ich nicht sein Babysitter. Zweitens habe ich hier etwas Wichtigeres zu tun, als mich um den Jungen zu kümmern. Drittens könnte man ihn wahrscheinlich nicht mal davon abhalten, selbst wenn man ihn festbinden würde...!“ Er wartete, bis Melia sich wieder zu ihm herumgedreht hatte, damit er ihr direkt in die Augen schauen konnte. „Ich habe ein Auge auf ihn gehabt und war mir sicher, er würde schlafen. Als ich zu ihm geschaut habe, lag er still unter der Decke. Zwei Minuten später war er schon weg. Ich habe keine Ahnung, wie er es geschafft hat, sich an mir vorbei aus der Höhle zu schleichen!“

„Aber du hättest...!“

„Was? Ihm folgen sollen und damit meinen Posten verlassen?“ Er schüttelte den Kopf. „Katastrophen geschehen immer genau dann, wenn man sie nicht erwartet!“

„Du hättest mich wecken können!“

Kalipos nickte. „Ja, hätte ich. Und was dann? Du hättest dich auf die Suche nach ihm begeben und ihn am Ende doch nur dann gefunden, wenn er es gewollt hätte!“ Er grinste kurz. „Chalek kennt sich hier besser aus, als wir alle zusammen. Es ist fast so, als könne er mit der Umgebung verschmelzen!“

Melia schaute ihr Gegenüber eine Zeitlang an. Dabei schien es, als wolle sie etwas erwidern, doch sie blieb stumm. Stattdessen wandelte sich ihr ernster Blick in weiche Erkenntnis. Schließlich nickte sie. „Wie dem auch sei. Ich kann nicht ruhig bleiben, wenn ich nicht weiß, wo er ist. Ich werde ihn jetzt suchen!“

Kalipos nickte. „Was immer du willst!“ Er schaute Melia hinterher, wie sie zum Ausgang der Höhle ging. „Aber denke daran, dass unsere Wache nur noch eine knappe Stunde andauert. Danach bin ich weg!“

Melia wandte sich nochmals zu ihm um. Im fahlen Licht der Kristalle wirkte ihr Gesicht alt und kraftlos. Sie nickte. „Wir werden rechtzeitig zurück sein!“ Dann drehte sie sich um und verließ die Höhle.

Kalipos sah ihr noch einen Moment nach. Dabei verschwand sein Lächeln und sein Blick wurde ernst und hart. „Der Stein wird dich noch umbringen!“ meinte er leise zu sich selbst. „Aber der Junge wir noch unser aller Tod sein!“ Dann wandte er sich mit einem Brummen zurück zur Felsspalte und starrte hinaus auf die Ebene.

Nachdem Melia die Höhle verlassen hatte, entfernte sie sich zunächst ein wenig vom Rand des Hochplateaus, bis sie sicher war, dass man sie aus der anderen Richtung nicht mehr sehen konnte. Erst dann huschte sie über die große, flache, leicht abfallende Felsplatte hinter eine zerklüftete, senkrecht aufragende Felswand.

Obwohl um sie herum alles dunkel war, spürte sie eine unangenehme Nervosität in sich. Ihr Blick zum Himmel zeigte gewaltige, dunkle Wolkentürme, die den Mond verdeckt hatten und bleiern und schwer herabdrückten. Am Horizont jedoch konnte sie einen ersten schwachen Streifen Licht erkennen, der den herannahenden Tag ankündigte. Während ein scharfer Wind um den Felsen pfiff, hörte sie im Hintergrund tiefen Donner. Der alltägliche Wahnsinn kannte natürlich auch nachts keine Ruhe und hielt den Planeten ständig in Bewegung.

Melia huschte weiter an der Felswand entlang und blickte dabei angestrengt um sich, doch konnte sie nirgendwo etwas ausmachen.

Nach ein paar Metern blieb sie stehen und atmete einmal tief durch. „Verdammt Chalek!“ sagte sie leise zu sich selbst und ihn ihrer Stimme schwang Verärgerung, aber auch deutliche Sorge mit.

Plötzlich erschien wie aus dem Nichts heraus eine dunkle Gestalt neben ihr. Als Melia sie erblickte, erschrak sie fürchterlich und stieß einen spitzen Schrei aus. Augenblicklich beschleunigte sich ihr Puls und ein Adrenalinstoß schoss unter ihre Schädeldecke.

Doch schon im nächsten Moment konnte sie den Jungen erkennen, der sie mit einem breiten, diebischen Grinsen und großen, funkelnden Augen anschaute.

„Chalek!“ Melia versuchte, ihren Atem einzufangen. „Großer Gott!“ Sie riss unwillkürlich ihre Hände vor die Brust. „Hast du mich erschreckt!“

Der Junge grinste noch breiter, was eigentlich kaum möglich schien und musste leise lachen. Ganz offensichtlich amüsierte er sich über sie und ihre Schreckhaftigkeit.

Melia atmete einige Male tief durch, dann schüttelte sie den Kopf. „Du hast deinen Spaß, was?“ fragte sie.

Chalek nickte.

„Na, wenigstens einer von uns!“ Dann aber wurde sie ernst. „Wo zum Teufel warst du schon wieder? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht! Du sollst dich nachts nicht herumtreiben!“ schalt sie, ohne eine veränderte Reaktion bei dem Jungen zu erzeugen. „Du sollst dich überhaupt nicht herumtreiben!“

Jetzt nahm Chalek seine Hände in die Höhe und antwortete ihr in Zeichensprache. „Ach Barie! Du kennst mich doch! Ich kann nicht anders! Aber ich passe doch auch immer auf mich auf! Das weißt du!“

Melia schaute den Jungen einen Moment in seine großen, braunen Augen, dann weichte ihr Blick auf. „Ja, ich weiß, dass du auf dich aufpasst! Ich bin sogar sicher, dass niemand sich besser hier auskennt, als du! Aber trotzdem. Es ist nicht okay, dass du deinen offensichtlichen Spaß hier hast und ich mir große Sorgen machen muss!“

„Ich verspreche, mich zu bessern!“ erwiderte der Junge mit einem breiten Grinsen.

Jetzt musste auch Melia lächeln. „Hör auf, Chalek! Wir beide wissen, dass du deine Extratouren nicht lassen kannst! Es liegt dir einfach...im Blut!“ Sie streichelte ihm sanft über seine Wange, dann wartete sie, bis er sie ansah. Schließlich wurde sie wieder ernst. „Du bist alles, was mir noch geblieben ist. Riskiere nicht zu viel!“ Sie lächelte und streichelte ihn erneut. „Bitte!“

Chalek, der sein Lächeln ebenfalls für einen Moment verloren hatte, grinste wieder breit und schlang seine Arme um sie. Für einige Sekunden drückte er Melia fest, die diese Geste mit geschlossenen Augen in vollen Zügen genoss. Als sie sich wieder trennten, gab er ihr zu verstehen. „Ich liebe dich!“

Sofort strahlte Melia über beide Ohren. „Ja, ich liebe dich auch!“ Sie atmete einmal tief durch. „So, und jetzt schnell zurück zu Kalipos!“

Chalek nickte ihr zu und gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg.

Sie waren jedoch kaum ein paar Meter weit gekommen, als der Himmel über ihnen plötzlich explodieren zu wollen schien. Ein gleißend heller Blitz schoss quer über das Plateau und alles um sie herum war für einen Wimpernschlag taghell erleuchtet. Melia erschrak fürchterlich, obwohl dies keine Seltenheit mehr war. Gewitter waren an der Tagesordnung und rauschten oft ohne Vorwarnung heran. Die Veränderungen in der Atmosphäre hatten jedoch dafür gesorgt, dass alles deutlich heftiger und wuchtiger ablief, als dies üblich war. Deshalb war der Blitz sehr viel größer und greller und auch der Donner, der nur wenige Augenblicke später heranrollte, brüllte geradezu in ihren Ohren und schmerzte in den Trommelfellen, schien sie dabei vollkommen einnehmen zu wollen und brachte die Luft zum Vibrieren. Doch nicht nur das. Deutlich konnte Melia eine Erschütterung im Boden wahrnehmen, doch schon im nächsten Moment wusste sie, dass dies keine Auswirkung des Donners war, sondern eine der vielzähligen Eruptionen des Bodens, die seit einiger Zeit immer häufiger und heftiger auftraten.

Schon drohte sie ihr Gleichgewicht zu verlieren. Chalek versuchte sie zu stützen und zog sie einen Schritt nach hinten, wo sie Halt an der Felswand fanden. Im nächsten Moment aber konnten sie hören, dass von irgendwo über ihnen Gesteinsbrocken heranrauschten. Mit einer weiteren, schnellen Bewegung gelang es Chalek, sie in eine der hier vielfältig zu findenden, kleinen Höhlen zu ziehen. Doch kaum hatten sie einen Fuß dort hineingetan, schwankte der Boden urplötzlich und für einen kurzen Moment noch mehr, sodass sie beide doch den Halt verloren und mit den Knien voran hart auf den Felsboden schlugen. Der Schmerz ließ sie kurz aufschreien.

Um sie herum schien alles zerspringen und zerbrechen zu wollen. Der Fels stöhnte erbärmlich auf, als plötzlich ein lauter Knall ertönte, als wäre etwas Schweres in zwei Teile zersprungen. Melia rechnete schon damit, dass die Höhlendecke zerfetzt worden war und sie gleich unter tödlichen Trümmern zerquetscht werden würden.

Doch anstatt erschlagen zu werden, sackte plötzlich der Boden der Höhle unter ihnen ab. Aber es brach nicht ein Stück heraus und fiel herab, sondern es entstand eine Art steinerne Rutsche, auf der sie erneut den Halt verloren und gut vier Meter in die Tiefe purzelten. Dabei überschlugen sie sich mehrfach und mussten einige Male aufschreien, bevor sie schließlich von der Rutsche polterten und auf einem harten Steinboden zum Erliegen kamen, wo sie von einer Staubwolke eingehüllt, reglos liegen blieben, während die Erschütterung des Bodens allmählich endete und der Donner in der Unendlichkeit dumpf nachhallte.

Genesis IV

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