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III

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Melia erhob sich mit einem gequälten Stöhnen. Sie verspürte überall an ihrem Körper Schmerzen. Während sie hustend auf die Beine kam, sah sie Chalek neben sich aufstehen. Auch der Junge hustete, doch war er, bis auf einige, kleine Abschürfungen und Prellungen, unverletzt, wenngleich ihn eine ziemlich dicke Staubschicht bedeckte, die er gerade abschüttelte.

Melia tat es ihm gleich und schaute sich dabei um. Vor ihnen versperrte die steinerne Rutsche die gesamte Breite des Ganges, hinter ihnen schloss sich ein langer Gang an, der vielleicht zwei Meter breit und ebenso hoch war und nach etwa fünf Metern Sichtweite in die Dunkelheit führte.

Unschlüssig atmete Melia einige Male tief durch, um sich zu beruhigen und zu überlegen, was sie jetzt tun sollten. Am Ende war sie entschlossen, über die Rampe wieder nach oben zu klettern. Doch gerade, als sie sich umdrehen wollte, spürte sie einen frischen Luftzug vom anderen Ende des Tunnels, der ihr eine Gänsehaut brachte.

Sie verharrte in ihrer Bewegung und überlegte, ob es sinnvoll und gut wäre, wenn sie den Gang jetzt hier allein erkunden würden. Ihr Verstand sagte eher nein, doch ihre Neugier überwog. Als sie Chalek anschaute, erkannte sie, dass auch der Junge nicht umkehren wollte.

Und so machten sie sich auf den Weg, um die Quelle des Luftzuges zu erkunden.

Sie mochten vielleicht eine Minute unterwegs gewesen sein, da machte der Gang einen sanften Knick nach rechts und nach wenigen Metern weitete er sich in eine Halle von etwa zehn Metern Durchmessern.

Melia blieb überrascht und fasziniert stehen. In der Halle gab es unzähligen Leuchtkristalle, die im Gegensatz zu denen bei Kalipos jedoch ein angenehmes gelbes Licht abgaben und ihre Umgebung so ausreichend ausleuchteten, dass Melia viele Einzelheiten ausmachen konnte. Zumindest gut genug, um schnell zu erkennen, dass hier Menschen am Werk gewesen waren, denn die Felswände waren viel zu glatt und wiesen vielfach deutliche Spuren auf, dass sie behauen worden waren. Auch konnte sie viele Nischen in den Wänden erkennen, die rechteckig und viel zu gleichförmig waren, als das hier ausschließlich die Natur gearbeitet haben sollte.

Nein, diese Höhle mochte natürlichen Ursprungs sein, ihr Aussehen aber war nachträglich bearbeitet worden. Zu welchem Zweck konnte Melia allerdings nicht sagen.

Dafür aber wurde sie von einer Art Flimmern oder Flackern am anderen Ende der Halle angezogen. Fast wirkte es so wie die Lichtspiegelungen auf einer Wasseroberfläche. Ein unterirdischer See war sicherlich auch nichts Ungewöhnliches und würde diesem miserablen Tag, der ja eigentlich noch gar nicht angefangen hatte, sogar noch eine gute Note verpassen, denn in ihrem Lager gab es zwar einen Fluss, der – zumindest noch – klares und sauberes Wasser führte, doch niemand konnte sagen, wie lange das noch so bleiben würde. Neues Frischwasser war da sicherlich sehr willkommen.

Während Melia weiter auf das Flackern zuging, hoffte sie innerlich sogar, dass es ein See sein mochte, doch als sie das Ende der Halle erreicht hatte, musste sie etwas enttäuscht erkennen, dass die Lichtreflexe nicht von Wasser erzeugt wurden. Stattdessen führte die Halle in einen sehr viel kleineren, fast kreisrunden Raum mit weiteren Leuchtkristallen, an dessen rechter Seite eine steinerne Treppe hinab führte.

Hinter sich konnte sie Chalek erkennen. Der Junge war nicht minder erstaunt und fasziniert über das, was hier zu sehen war.

Beide gingen bis zum Ende des Raumes zu einer brusthohen Balustrade aus Holz, wobei sie überrascht feststellen mussten, dass auch der Boden hölzern klang, legten ihre Arme darauf und spähten darüber hinweg. Bis zur gegenüberliegenden Felswand war es kaum mehr als ein Meter. Der Spalt, der sich dazwischen auftat, offenbarte einen Blick auf die steinerne Treppe, die rechts von ihnen begann. Offensichtlich wand sie sich an den Felswänden als Wendeltreppe hinab. Im Innenbereich konnte Melia dicke Holzbohlen erkennen, die unter der Plattform, auf der sie im Moment standen, senkrecht in die Tiefe führten. Wie tief es dort hinunter ging, vermochte sie aus ihrer jetzigen Position jedoch nicht zu sagen.

Kurzentschlossen ging sie zu der Treppe und stieg sie langsam hinab. Chalek folgte ihr neugierig. Unterhalb der Plattform konnte sie sehen, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Die Treppe verlief an den Felswänden entlang wie eine Wendeltreppe. Während dabei rechts der Fels als Begrenzung diente, gab es links kein Geländer oder ähnliches, an dem man hätte Halt finden können. Lediglich im Abstand von rund zwei Metern befanden sich insgesamt sechs dicke, breite Holzbohlen, die senkrecht in die Tiefe führten. An den Innenseiten waren sie merkwürdig gezackt und Melia war anfangs nicht sicher, welche Funktion sie hatten. Bis sie die Zahnräder sehen konnte, die unterhalb der hölzernen Plattform angebracht waren. Dann wurde ihr bewusst, dass es eine Art Aufzug war. Die Zahnräder griffen in die Zacken der senkrechten Bohlen und sorgten dafür, dass sich die Plattform bewegen konnte. Sogleich erinnerte sie sich an einen großen Hebel auf der Plattform, den sie jedoch nicht weiter beachtet hatte, von dem sie jetzt aber annahm, dass er den Antrieb startete.

Aus einer Laune heraus beugte sie sich nach vorn, um zu sehen, wie tief es hier hinabgehen würde. Sie rechnete schon mit einer großen Höhe, deshalb war sie entsprechend vorsichtig. Doch als sie ungebremst in eine schier bodenlose Tiefe blicken konnte – Leuchtkristalle hielten das Licht innerhalb des Schachtes hell genug dafür – stieß sie einen spitzen Schrei aus. Chalek ergriff sie sofort an den Schultern und zog sie zurück zur Felswand, wo sie sich mit wild schlagendem Herzen kraftvoll dagegen drückte. Der Junge lächelte sie an, wandte sich um und schaute dann selbst in die Tiefe. Als er sich zurückdrehte, hatte er ein breites Grinsen auf den Lippen, was auch bei Melia ein Lächeln hervorbrachte, denn ihr war klar, dass das genau das Ding des Jungen war.

Für sie aber war es eine gewaltige Höhe. Doch selbst, wenn sie hätte schätzen sollen, wäre es ihr zu diesem Zeitpunkt niemals in den Sinn gekommen, dass sich der Schacht tatsächlich über eintausend Meter in die Tiefe erstreckte!

Melia fasste all ihren Mut zusammen und spähte nochmals hinab. Chalek hielt sie dabei fest. Bevor sie sich wieder zurückzog, weil sie spürte, dass sie schwindelig wurde, konnte sie sehen, dass die Treppe und auch die Bohlen scheinbar bis zum Boden reichten.

Dann machte sie, dass sie schnell zurück nach oben kam. Der Junge folgte ihr mit enttäuschter Miene, aber Melia hatte nicht vor, hier noch länger zu bleiben, sondern wollte auf direktem Wege zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Als sie jedoch in Chaleks Gesicht schaute, zögerte sie und schien das Für und Wider abzuwägen. Schließlich überwog doch ihre Neugier. „Na also gut!“ meinte sie. „Sehen wir mal, was passiert!“

Sie machte auf dem Absatz kehrt, betrat wieder die hölzerne Plattform, betrachtete für einen Moment den langen Hebel an der linken Seite, dann drückte sie gegen ihn. Anfangs konnte sie ihn jedoch nicht bewegen. Erst als der Junge zu Hilfe kam, gelang es ihnen und es war deutlich zu hören, wie er schließlich einrastete. Eine Sekunde lang schien nichts weiter zu geschehen und Melia befürchtete schon, dass der Mechanismus nicht mehr funktionstüchtig war, dann aber knackte und scharrte es direkt über ihnen. Als sie ihren Blick anhob, konnte sie ein halbes Dutzend weiterer Zahnräder in unterschiedlichen Größen erkennen, die hauptsächlich waagerecht unter der Decke angebracht waren und sich jetzt ächzend und stöhnend in Bewegung setzten.

Schon ging ein Ruck durch die Plattform, der Melia erneut aufstöhnen ließ, dann spürte sie, wie sich die Apparatur in die Tiefe schob.

Fasziniert von dem Mechanismus registrierte sie anfangs überhaupt nicht, dass es immer schneller abwärtsging. Schon nach wenigen Sekunden hatten sie eine Strecke von über zehn Metern zurückgelegt. Deutlich konnten sie jetzt den Luftzug um sich herum spüren. Die Wände des Schachtes jagten immer rasanter an ihnen vorbei.

Melia stieß einen Schrei aus und ihr Gesicht verlor seine Farbe, denn sie befürchtete jetzt, dass der Mechanismus nicht mehr einwandfrei funktionierte und sie unkontrolliert zu Tode stürzen würden. Blitzschnell hechtete sie zu dem Hebel, doch der Versuch, ihn in die andere Richtung zu drücken, blieb ohne Erfolg. Ein panischer Blick zu dem Jungen zeigte ihr, dass dieser sichtlich Spaß an ihrer Talfahrt hatte und keinerlei Anstalten machte, ihr zu helfen.

„Chalek, hilf mir!“ rief sie deshalb. Entsetzt blickte sie nach oben, doch die Decke des Schachtes war schon nicht mehr als ein winziger Punkt über ihr. Innerlich begann sie sich zu verfluchen, weil sie so unvorsichtig gewesen war und machte schon ihr Testament, weil sie mit ihrem Tod rechnete. Da trat der Junge zu ihr und legte ihr mit einem breiten Grinsen die Hände auf die Schultern. Sie starrte ihn beinahe fassungslos an und wollte ihn schon zurechtweisen, dass es dieses Mal absolut keinen Grund für Frohsinn gab, als ihr auffiel, dass sie jetzt scheinbar nicht mehr schneller fielen. Ja, ganz eindeutig. Ihr Weg nach unten verlief noch immer in rasantem Tempo, doch es ging nicht mehr schneller abwärts, sondern die Geschwindigkeit blieb jetzt gleich.

Über den Rand in die Tiefe zu schauen traute sie sich freilich nicht, denn die Wände und die Treppe schossen so schnell an ihr vorbei, dass sie sich unweigerlich dabei selbst verletzt hätte.

Also blieb ihr nur die Hoffnung, dass ihre Fahrt irgendwann enden würde. Zufällig schaute sie dabei zu Boden und konnte dort ein kleines Loch in den Holzbohlen erkennen. Melia ließ sich auf die Knie sinken und spähte hindurch in die Tiefe, wo sie undeutlich erkennen konnte, wie der Boden des Schachtes aus scheinbar unendlicher Entfernung immer näherkam.

Plötzlich wurde ihre Fahrt abrupt langsamer und nur eine Sekunde später verharrte die Plattform reglos. Im ersten Moment registrierte Melia diesen Umstand gar nicht, dann erst wurde ihr bewusst, dass ihre Fahrt geendet hatte.

Mit einem lauten Stöhnen erhob sie sich. Bevor sie mit zittrigen Beinen von der Plattform stieg, schaute sie in die Höhe. Sofort war sie wieder entsetzt, dass die Decke des Schachtes kaum mehr auszumachen war. „Oh Mann!“ stieß sie hervor und musste kräftig durchatmen. Chalek schien weitaus weniger mitgenommen zu sein und grinste bereits wieder breit.

Sie stieg von der Plattform und war sofort sehr froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, wenngleich ihre eigene Unruhe den Felsen wirken ließ wie eine wabbelige Masse.

Chalek stützte sie und es dauerte ein paar Momente, bis sie sich wieder gefangen hatte.

Dann aber konnte sie erkennen, dass sich vor ihnen eine ähnliche Halle auftat, wie schon zu Beginn ihres Weges.

Am anderen Ende konnte sie erkennen, dass ein weiterer Gang davon abging. Da ihr bewusst war, dass sie hier ohnehin schon viel weiter vorgedrungen waren, als vertretbar war, entschloss sie sich, die Sache jetzt auch bis zum Ende durchzuziehen und schlich langsam und vorsichtig weiter.

„Hast du eine Ahnung, was das hier alles sein soll?“ fragte sie den Jungen, doch der schüttelte nur den Kopf.

Melia durchquerte die Halle und näherte sich dem Gang auf der anderen Seite. Nach einem kurzen Zögern setzte sie ihren Weg fort, während Chalek sich immer schräg hinter ihr hielt.

Sie hatten kaum zehn Meter zurückgelegt, als sich der Gang ausweitete und jetzt sicherlich gute fünf Meter breit war. Er blieb jedoch leer und führte einfach weiterhin in den Berg hinein.

Plötzlich war ein tiefes Grollen zu hören, doch noch bevor einer der beiden erkennen konnte, wo es herkam, begann auch schon der Boden zu beben.

Sogleich rieselte Staub von der Decke und kleinere Gesteinsbrocken brachen heraus. Instinktiv hechteten beide an die Felswand, um Halt zu finden.

Und dieses Mal sollten sie Glück haben. Obwohl das Beben länger und sogar etwas heftiger war, als das erste Beben an der Oberfläche, blieben sie davon verschont. Stattdessen aber brach aus dem Gang etwa zehn Meter hinter ihnen ein Teil der Seitenwand heraus und krachte mit lautem Getöse zu Boden. Melia erschrak und ihr Herzschlag beschleunigte sich wieder. Sofort danach war ein erneutes Grollen zu hören und nur wenige Meter vor ihnen schlug ein Teil der Decke zu Boden. Schließlich aber verstummte das Beben allmählich und es kehrte wieder Ruhe ein.

Als sie die Trümmer der Tunneldecke sah, wusste Melia, was sie zu tun hatten. Zwar hätten sie über sie hinwegkrabbeln und ihren Weg fortsetzen können, doch das war eindeutig viel zu gefährlich. „Okay, das wars!“ sagte sie mit einem bestimmenden Nicken. „Wir machen, dass wir hier wegkommen!“

Chalek widersprach ihr dieses Mal nicht. Melia wandte sich um und gemeinsam mit dem Jungen bahnte sie sich einen Weg um die Trümmer der Felswand herum, die fast dreiviertel der Gangbreite einnahmen.

Kaum hatten sie das geschafft, als der Boden nochmals für vielleicht zwei Sekunden erzitterte, was jedoch ohne Folgen blieb. Lediglich aus der ohnehin schon zerrissenen Felswand platzte nochmals ein größeres Stück heraus und fiel zu Boden.

Nachdem sie ihren Schreck darüber überwunden hatten, atmeten sie einmal tief durch und wollten schon ihren Weg zurück zum Aufzugsschacht fortsetzen, als Melia plötzlich stutzte, weil sie ein merkwürdiges Geräusch vernahm.

Sie hielt inne und lauschte genauer. Chalek stoppte jetzt ebenfalls ab und schaute sie mit großen Augen fragend an. Melia schüttelte den Kopf und legte ihren rechten Zeigefinger auf die Lippen, zum Zeichen, dass er still sein sollte.

Das Geräusch, das sie hörte, war ein leises Schaben oder Krächzen oder etwas in dieser Art. Sie blickte sich um und musste überrascht feststellen, dass es aus der zerstörten Felswand kam.

Unsicher und zögerlich machte sie ein paar Schritte darauf zu. Ja, das Geräusch wurde eindeutig langsam lauter und kam ihr immer mehr bekannt vor.

Schließlich hatte sie die Felswand erreicht und starrte sie an. Mit einem Mal erkannte sie, dass dort ein Spalt vorhanden war. Er war vielleicht zwanzig Zentimeter lang, gezackt, dabei nur wenige Zentimeter breit und verlief fast senkrecht im Gestein.

Melia trat direkt vor ihn und war sofort wieder überrascht, als sie erkannte, dass er den Blick auf einen hinter diesem Gang liegenden zweiten Gang freigab.

Auch dort musste es Leuchtkristalle geben, denn sie konnte schemenhaft seine Umrisse und seinen Verlauf erkennen. Dabei sah sie, dass der Gang direkt vor dem neu entstandenen Spalt eine scharfe Kurve machte. Linkerhand konnte sie sehen, wie sich der Gang aufwärts wand, rechts führte er leicht abwärts ein ganzes Stück geradeaus, bevor er weiter nach rechts abknickte.

Dort schien es Melia so, als würde weitaus mehr Licht vorhanden sein, als hier und in der Tat konnte sie Schatten sehen, die sich vor dieser unsichtbaren Lichtquelle bewegten. Sie wirkten unförmig und monströs, was sofort eine Gänsehaut bei ihr erzeugte. Auch waren dort Geräusche, doch es war eher gequältes Stöhnen oder weit entfernte Schreie, die sie zu hören glaubte, was sie zusätzlich erschreckte.

Mit ängstlicher Miene zuckte ihr Kopf zurück und sie spürte, wie sich ihr Atem beschleunigte. Chalek neben ihr blieb vor dem Spalt stehen und blickte weiterhin hindurch.

Melia überlegte. Sie war nicht sicher, was sie dort sehen konnten, doch sie hatte eine schlimme Vorahnung.

Plötzlich klopfte der Junge ihr aufgeregt in die Seite. Melia erschrak sichtlich und stieß einen kurzen, spitzen Schrei aus.

Dann beugte sie sich schnell wieder nach vorn und spähte ebenfalls durch den Spalt.

Im ersten Moment konnte sie nicht erkennen, was Chalek so erregt haben mochte, dann aber sah sie aus dem Halbdunkel des Ganges zur Linken mehrere Schatten auftauchen, die sich in ihre Richtung bewegten. Gleichzeitig hörte sie ein ihr altbekanntes Geräusch, das sofort eine Eiseskälte in ihrem Herzen erzeugte. Im nächsten Moment schälten sich die monströsen Körper von mindestens sechs Insektenbestien aus dem Schatten, begleitet von ihrem charakteristischen Quieken und Kreischen.

Melia spürte, wie ihr Herz aussetzte und eine Welle der Übelkeit sie überrollte, doch noch bevor sie den Kopf wieder zurückreißen konnte, sah sie, dass einige der Bestien die blutverschmierten, teilweise verstümmelten, aber noch so erschreckend lebendig wirkenden Leiber von mehreren Menschen mit sich trugen und am Ende keine zwei Meter mehr von ihnen entfernt waren, bevor sie um die Gangbiegung schritten und sich wieder entfernten.

Fast zeitgleich mit Melia, die ihre Lippen weit nach vorn geschoben hatte, um einen Aufschrei zu unterdrücken, zuckte Chalek zurück. In seinen Augen stand tiefes Entsetzen, sein Gesicht war furchtbar ernst und dunkel. Obwohl kaum eine klare Gefühlsregung darin zu erkennen war, kroch Melia die nächste Gänsehaut über den Rücken. Sie kannte Chaleks Gesicht lachend, grinsend, verschmitzt. Dieser vollkommen andere Ausdruck ängstigte sie. Deutlich war zu erkennen, wie sehr ihn das Gesehene innerlich aufwühlte und schmerzte.

Doch Melia erkannte auch, dass sie hier nichts mehr zu suchen hatten. Ihr wurde klar, dass sie niemals hier hätten hinabfahren dürfen. Die ständigen Erdbeben hatten eine kleine, aber klare Verbindung zwischen ihrer Welt und dem Nest der Insektenbestien hergestellt. Das, wovor sie sich so lang gefürchtet hatte, war geschehen. Und deshalb mussten sie jetzt hier weg. Und zwar sofort. Wenn sie diesen Spalt entdeckt hatten, konnten das auch diese Monster tun. Und dann war es besser, wenn der Geruch von frischem Menschenfleisch nicht mehr in der Luft hing.

„Los!“ flüsterte sie dem Jungen zu. „Weg hier!“

Chalek schaute sie einen Moment ausdruckslos an, dann nickte er.

Ohne weitere Verzögerung machten sie sich auf den Weg.

Bei den ersten Schritten merkte Melia, dass ihre Knie zitterten. Sie hatte Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten. Einmal wäre sie fast gestürzt. Sie konnte sich gerade noch an Chalek festhalten, musste aber kurz aufstöhnen.

Danach atmete sie tief durch und dann ging es besser.

Zügig gelangten sie wieder in die große Halle vor dem Aufzugsschacht.

Es war reiner Zufall. Vielleicht aber auch Schicksal.

Auf jeden Fall aber umrundete die letzte der Bestien in der Gruppe, die Melia und Chalek gesehen hatten, die Gangbiegung, als Melia stolperte und sich mit einem Stöhnen abfangen konnte.

Dieses Geräusch drang durch den kleinen Felsspalt und gelangte schließlich auch in die Ohren dieses Monsters, das es wohl auch registrierte, im ersten Moment jedoch keinerlei sichtbare Reaktion zeigte.

Erst als es einige, weitere Schritte getan hatte, stieß es plötzlich einen überraschten und irritierten Ton aus und verharrte in seiner Bewegung. Während die anderen Bestien weiter den Gang entlangliefen, blieb es reglos stehen und schien zu überlegen.

Melia und Chalek hatten zu diesem Zeitpunkt gerade die Halle durchquert. Während die beiden versuchten, den Aufzugsmechanismus umzukehren, sodass sie auf der Plattform zurück an die Oberfläche fahren konnten, drehte sich das Monster fast wie in Zeitlupe ganz langsam herum. Wieder verharrte es reglos und starrte auf die Felswand, in der der kleine Spalt entstanden war, wobei es erneut ein irritiertes Quieken ausstieß.

Melia spürte indes, wie sie immer deutlicher zu schwitzen begann, weil sich der Hebel scheinbar nicht mehr bewegen wollte. Selbst Chaleks zusätzliche Kraft reichte offenbar dazu nicht aus. Nervosität und sogar Angst befiel sie, denn sie befürchtete, dass der Zeitpunkt, an dem die Bestien den Felsspalt ebenfalls entdecken würden, viel näher sein mochte, als sie annehmen konnten.

Wie Recht sie damit hatte, wusste sie natürlich nicht, doch Tatsache war, dass sich das Monster wiederum sehr langsam, aber stetig auf die Felswand zu bewegte, hinter der Melia und der Junge vor noch nicht einmal zwei Minuten gestanden und sie beobachtet hatten. Einen Schritt davor blieb es stehen und untersuchte den Fels sorgfältig. Dabei stieß das Monstrum sehr schnell auf den kleinen Riss. Erstaunt senkte es seinen Kopf und spähte ebenfalls hindurch auf die andere Seite. Die Tatsache, dass es dort einen weiteren Gang erkennen konnte, sorgte für ein erstauntes Krächzen.

Endlich. Mit allerletzter Kraft und bereits schwindenden Mut, bewegte sich der Hebel endlich doch, schwang auf die andere Seite, rastete ein und nach einem kurzen Moment der Ruhe, setzte sich die Bodenplatte langsam in Bewegung. Melia holte tief Luft und stöhnte erledigt auf. Kraftlos ließ sie sich zu Boden sinken. „Na endlich!“ Das war auch schon alles, was sie sagen konnte, bevor sie weiter nach Atem ringen musste.

Der Anblick des Ganges hinter der kleinen Felsspalte überraschte das Monster, doch der Geruch, der ihm von dort entgegenwehte, machte es augenblicklich nervös. Wenngleich kaum wahrnehmbar, so war es sich sofort sicher, dass es der Geruch von Menschenfleisch war, der ihn augenblicklich verzückte. Sofort schrie es wild und hektisch auf, es stemmte sich auf seine Hinterläufe, riss seine Vorderläufe in die Höhe, nur um sie wuchtig gegen den Felsen zu donnern. Doch der erhoffte Erfolg blieb aus, das Gestein war zu hart und zu beständig, als dass es etwas dagegen hätte ausrichten können. Außer Schmerzen, die es lautstark hinausschrie, blieb nichts zurück. Doch das Untier gab nicht auf und versuchte noch einmal, mit seinen gewaltigen, rasiermesserscharfen Krallen, den Felsen weiter zu öffnen, jedoch wieder ohne Erfolg. Mit einem wütenden, verächtlichen Brummen ließ es davon ab.

Melia stöhnte zufrieden und erleichtert auf. Bei der Abwärtsfahrt noch voller Angst, ob der hohen Geschwindigkeit, mit der sich der Aufzug in dem Schacht bewegte, konnte es ihr auf dem Rückweg natürlich nicht schnell genug gehen. Doch auch in Chaleks Gesicht konnte sie sehen, dass der Junge einfach nur schnell von hier wegwollte. Die Angst, den Feind dennoch auf sich aufmerksam gemacht zu haben, blieb jedoch und schmeckte sehr bitter.

Das Monster verschnaufte und starrte dabei wieder durch den Riss auf die andere Seite. Es schien, als würde es überlegen. Schließlich richtete es sich mit einem wütenden Brüllen zu seiner vollen Größe auf, stieß ein hasserfülltes Zischen aus, wirbelte auf der Stelle herum und rannte mit hoher Geschwindigkeit hinter den anderen Monstern her, die jedoch bereits weit außer Sichtweite waren, wobei es in regelmäßigen Abständen brüllte, als wolle es seine Artgenossen rufen.

Der Aufzug wurde schlagartig langsamer, hielt schließlich gänzlich an und irgendwo in der Mechanik ertönte ein dumpfes Knacken, geradeso, als wäre ein Riegel eingerastet.

Melia und Chalek traten sofort von der Plattform, doch während der Junge weiterrennen wollte, wandte sich Melia zur Treppe und lief ein paar Stufen hinab, bis sie unterhalb der Plattform zum Stehen kam. Dort verharrte sie atemlos und reglos und lauschte in die Tiefe, ob sie ein verdächtiges Geräusch ausmachen konnte.

Nach ein paar Sekunden trat Chalek mit einem irritierten Gesichtsausruck neben sie, doch als sie ihm zu verstehen gab, absolut ruhig zu sein, wusste er, was sie vorhatte und tat es ihr gleich.

Wie lange sie letztlich so standen, konnten sie am Ende nicht mehr sagen, doch erst als sie sicher waren, keine fremdartigen Geräusche vom Boden des Schachtes zu vernehmen, setzten sie sich wieder in Bewegung, rannten die Treppe hinauf, durch die Halle in den angrenzenden Gang.

Wenig später hatten sie die steinerne Rutsche erreicht. Chalek wollte sie erklimmen, doch Melia hielt ihn zurück. „Warte!“ rief sie.

Der Junge drehte sich zu ihr um und erstarrte, als er ihr ernstes, finsteres Gesicht sah.

Sie schaute ihm einen Moment tief in die Augen, bevor sie begann. „Kein Wort über das, was hier geschehen ist. Zu niemandem!“

Chalek nickte zögerlich, aber voller Erkenntnis.

„Und kein Wort über diesen Gang, die Halle oder den Aufzug! Wir müssen überlegen, was wir weiter damit tun. Vorher muss niemand davon erfahren!“

Jetzt nickte der Junge sofort und gab ihr zu verstehen. „Natürlich! Ich weiß, was du befürchtest! Ich werde schweigen!“

Melia schien zufrieden und nickte ebenfalls. „Dann los jetzt! Ich brauche Luft!“ Gemeinsam mit Chalek lief sie die steinerne Rampe hinauf. „Auch, wenn sie zum Kotzen schmeckt!“ fügte sie dabei säuerlich noch hinzu.

Ein paar Momente später traten sie auch schon aus dem Höhlengang ins Freie. Der Wind hatte merklich aufgefrischt und es war spürbar wärmer geworden. Das Gewitter war über sie hinweggezogen und tobte jetzt einige Meilen weiter östlich. Der säuerliche Geruch von Regen lag in der Luft, doch musste sich der Schauer bereits verzogen haben, denn Melia konnte keine Regentropfen auf ihrer Haut spüren.

Kaum war sie ins Freie getreten, hielt sie inne, stützte ihre Hände auf ihre Oberschenkel, ließ den Oberkörper vornüber klappen und atmete mehrmals tief durch. Obwohl die Luft längst nicht frisch war und einen stumpfen, faden Geschmack nach Schwermetall hatte, war sie dennoch besser, als das, was in der Höhle vorhanden war.

„Barie! Chalek!“ Die Stimme kam von Kalipos, der nur einen Moment später direkt vor ihnen stand und sie überrascht mit großen Augen ansah.

Melia erhob sich und war ebenso überrascht. „Kalipos!“

„Wo zum Teufel wart ihr denn?“

„Ich...!“ Melia sammelte sich. „...habe etwas länger gebraucht, um den Jungen zu finden!“ log sie.

„Wo hast du dich dazu rumgetrieben?“

„Wieso?“ Ihr Blick verfinsterte sich.

„Ihr seht aus, wie aus dem Wasser gezogen. Durchgeschwitzt, gehetzt und dreckig bis unters Dach!“

„Ach...!“ Melia lachte auf, um ihre Angst zu verbergen. „Wir hatten uns nur zu spät vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht und haben Bekanntschaft mit einer besonders großen und widerlichen Schlammpfütze gemacht, bevor wir hier...!“ Sie deutete in den Höhlengang hinter sich. „...endlich Unterschlupf gefunden hatten!“

Kalipos nickte, doch zeigte sein Gesichtsausdruck, dass er große Zweifel an dem Wahrheitsgehalt ihrer Ausführungen hatte. „Alles klar! Aber ich merke es, wenn mich Jemand verarschen will!“

„Ja?“

Kalipos nickte. „Ich habe dann immer ein Piepen im Ohr!“

„Und?“

„Jetzt kreischt es wie bei Fliegeralarm!“

Melia schaute ihn zunächst mit großen Augen an, dann lachte sie scheinbar offen und ehrlich. „Komm!“ Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. „Lass uns nachhause gehen. Ich kriege langsam Hunger!“ Sie lächelte ihn breit an und Kalipos nickte. Erst als sie nebeneinander gingen und er ihr nicht mehr ins Gesicht schauen konnte, verschwand es und als sie gleich darauf Chaleks besorgten Blick erhaschen konnte, verzog sie säuerlich die Mundwinkel.

Sie hatten Glück, dass Kalipos nicht nachhakte, doch, wenn sie an ihr Erlebnis in der letzten Stunde dachte, überkam sie wieder das furchtbare Gefühl, dass die Zeit der Ruhe für sie alle hier sehr bald vorbei sein würde.

Genesis IV

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