Читать книгу Eine Kompanie Soldaten - In der Hölle von Verdun - Alfred Hein - Страница 15
10.
ОглавлениеIn lockerer Marschordnung, zu zweien und dreien, zog die 12. Kompagnie R.J.R. 313 gemächlich an die Front. Das Gewehr trug jeder, wie er wollte, die Schritte gingen durcheinander — es war wirklich die berüchtigte Hammelherde des Kasernenfeldwebels, die jetzt auf den Feind losgelassen wurde. Wie lächerlich wäre es aber auch gewesen, mit Gewehr über in Gruppen rechts schwenkt marsch zu marschieren — Lindolf dachte an seinen Hauptmann Koesel, der dem Exerzieren immer vorzeitig ein Ende machte in der richtigen Erkenntnis, es hat ja alles vorne keinen Sinn. Wozu bloss dieser Schliff? Wieviel harte Herzen hat er geschaffen? Rebellen gegen die Exerzierknute. Statt die Seelen vorzubereiten, in Freiheit mutig, für den grossen Kampf. Nun mussten sich die Seelen trotz des widerlichen Kasernenballasts mit all seinen verdriesslichen Schikanen in wenigen Stunden freimachen für den grossen Gang in den Tod. Als dumme Jungens wurden sie in den Garnisonen behandelt, nun verlangte man, dass sie Männer seien.
Ja, hier schritten Männer. Auch die fast Knaben waren, schritten weise und gelassen. Aber dies geschah trotz des Garnisonexerzierens.
Leutnant Wynfrith sann vor sich hin. Bernöckel rauchte nervös eine Zigarette nach der andern. Er sah käsebleich aus und hatte sicher Fieber. Zu Hause wäre er im Bett geblieben, so schlecht fühlte er sich, abgekämpft. Doch solange man nicht wirklich umsank, sah alles wie Feigheit aus.
Sie verliessen das Dorf, die Strasse neigte sich, gerade holte man den Fesselballon ein. — „Na, ihr Etappenschweine, ihr macht Feierabend —“ rief man aus der Kompagnie den Luftschiffern zu, die sich wortlos diese Gemeinheit einsteckten. Was sollten sie viel sagen? Sie wussten, mit ihrem Ballondienst war das da vorn schwer zu vergleichen.
Nun breitete sich eine ziemlich weite Ebene mit mehreren Anmarschstrassen aus, bis die Höhen „Toter Mann“ und „304“ zu ragen begannen. Die Front murmelte bald nicht mehr, sie tobte laut. Und man hörte schon vereinzelte Einschläge, die näher kamen, heraus.
Doch Lindolf dachte: Vorläufig ein Abendspaziergang. Da ist der Friedhof — hier ein Soldatengrab — da eine zerschossene Mühle — dort ein anderes Dorf — letzter Abendsonnenschein — der Mond —
„Wann kommen wir ins Feuer? In wieviel Stunden?“ fragte Lindolf den Leutnant.
„In zwei so richtig, in einer kann es schon vereinzelten Zunder geben.“
Da trank Lutz noch einmal das Leben, das in allen Adern und Nerven so lebensstark wie nie gefühlte Leben in vollen Zügen. Alles erwachte aus der Vergangenheit: Kindheit, Studienzeit, Weihnacht, erste Liebe, Berlin, die Fahrt durch Deutschland, die letzten Tage, und Adelheid. Aber er zürnte ihr nicht. Die Stunde war gross, und eine tiefbeseelte Adelheid erschien ihm gütig in dieser Stunde, wie sie nicht lebte, aber wie er sie träumte, wie er sie brauchte in seiner grossen Not zwischen Leben und Tod. Das verklärte Finale aus der Egmont-Ouvertüre umkreiste ihn — der Schritt der Kameraden um ihn, vorwärts, vorwärts —! Wohin? In die grausigste, die Seele hochtreibendste Mannestat — er blieb stehen und liess seine Kameraden vorbeimarschieren. Er wollte ihre lebendigen Gesichter sehen. Er verbarg diese seelische Wunde mit der Frage nach nichtigen Dingen. Er, der Schweigsame, wurde gesprächig. Er horchte auf seine Stimme und liebte sie, dass sie noch so jung und schön klang in all dem Graus. Und alle waren weich im Herzen und antworteten gern.
Dann lief er wieder zur Spitze der Kompagnie an des Leutnants Seite. Gerade kam ihnen eine in Ruhestellung ziehende Kompagnie entgegen. Der Leutnant fragte den ersten Vorbeikommenden, es waren 127er — —: „Euer Leutnant?“
„Hops gegangen. Hier der Vize führt.“
„Guten Abend,“ grüsste Wynfrith. Der Feldwebel nickte.
„Wie sieht’s aus, noch immer so lehmig, dass man bis in die Knie stecken bleibt?“
Der Feldwebel nickte. Die Stimme schien ihm vor Entsetzen zugefroren.
„Starke Verluste?“
Der Feldwebel liess wegwerfend die Hand zur Seite fallen. Dann zog er ohne Gruss weiter.
„Die haben die Nase voll!“ sagte Wynfrith.
Keiner der 127er antwortete auf die Zurufe aus der zur Front rückenden Kompagnie. Sie dösten geistesabwesend vor sich hin: Ruhe, nur Ruhe!
Bschirr — ing — —
Lindolf warf sich hin. Alle Neuen hatten sich, wie sie es auf dem Exerzierplatz gelernt, hingeworfen. Wynfrith sah lächelnd auf den am Boden klebenden Lindolf.
„Die ist bloss aus Versehen hierher geraten — im übrigen, entweder aufrecht gehen oder gebückt, oder kriechen — aber dies Hinschmeissen nach dem Knall, ist ja Quatsch — hättest ja den Dreck längst weg, Junge —“
Nun waren aber die Nerven der Kompagnie aufgerührt. Wie spähendes Wild näherten sie sich der Hügelkette, hinter der es schon ganz tüchtig rumorte.
Das Gelände stieg an.
„Marschordnung lockern! Aber nicht abreissen! Bernöckel, gehen Sie am Ende mit Unteroffizier Glaser! Nicht abreissen!“
Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Leuten wurden langsam verdreifacht. Die kleine Kompagnie zog eine Riesenschlange durch das nächtige Land.
Nun gab es keine ebene Strasse mehr. Rings in den Februarkämpfen zertrichterte Wiesen und Aecker. Drahtverhau lag herum. Jetzt sprang Mann für Mann über die alten Gräben, aus denen die Offensive im Februar hervorgebrochen war, und die heute friedlich dalagen, wie es schien, schon mit Moos sich bedeckten —
Jetzt — auf der Hügelkette — — zwanzig bis dreissig Leuchtkugeln in der Luft, die goldgelben der Franzosen, die weissen der Deutschen, aufblitzende Krater, zum ersten Mal deutlich zu hörendes Maschinengewehrgetacke und Gewehrgeknatter — die Front. Da, wo das grosse Feuerwerk tobte, das war die Höhe 304.
Wynfrith sagte: „Hier bin ich im März selbst vorgegangen mit meiner zwölften. Was, Striese, — du warst ja noch dabei?“
„Ja, Herr Leutnant. Und morgen wieder?“
„Ja, morgen wieder.“
„Wann wird der Dreck ein Ende haben?“
„Striese, was nutzt das Maulen.“
„Herr Leutnant, geben Sie mir eine Zigarette.“
„Hier, Alter.“
Der Tote Mann, über den die Kompagnie jetzt marschierte, hatte Granatennarben um Narben und war ein einziges Massengrab.
Wumm — ging plötzlich mit Höllenkrach und wildem, blendendem Blitz vor Lutzens Augen ein Kanonenschuss los.
„Uns’re Artillerie —“ erklärte Wynfrith, „die über unsere Köpfe hinweg die Franzosen auf 304 beschiesst. Die Front biegt hier rechtwinklig um. Diesen rechten Winkel sollen wir morgen ausplätten mit unserm Angriff.“
Ausplätten — schön gesagt — dachte Lindolf. Die Batterie machte einen Höllenlärm, die Granaten pfiffen hörbar über die Köpfe der Kompagnie weg — — bsching — tüüü — bsching —
Wynfrith duckte sich. Alles folgte seinem Beispiel. „Nicht abreissen!!“ Der Leutnant wusste, die ersten Schüsse dehnten die Kompagnie ins Endlose — „Lindolf, zurücklaufen und zählen, gleich wieder herkommen.“
Lindolf lief die geduckten, zögernd schreitenden Gestalten entlang. Alles war verstummt. Nun kam ihm seine verträumte Musterung der Gesichter vorhin — ist es erst eine Stunde her? — zugute. Er sah — ja das war Bernöckels blasses Gesicht — alle waren noch zusammen.
„Sag dem Leutnant, Gefreiter Kirsten ist verwundet. Ist bereits abgehauen. Schulterschuss.“
So, so, dachte Lindolf, einer verwundet.
Bsching — bsching — in dichter Aufeinanderfolge, wahllos hie und da, ferner und näher, sausten die Granaten in die zerspritzende Erde.
„Oh —“ stöhnte einer neben Lindolf nieder. Es war also in der Nähe eingeschlagen. Lutz lief zum Leutnant. Da starb einer — er aber meldete ganz ruhig: „Kompagnie ist vollzählig. Gefreiter Kirsten verwundet. Eben einer gefallen neben mir ...“
„Ja, gut“, sagte Wynfrith. Nichts von Feuertaufe, Heldentod. Wie lächerlich solche Ausdrücke — — —
Die Kompagnie ging Schrit für Schritt vor. Das war ein Heldengang ohne Beispiel aus der Geschichte. Seit Jahr und Tag traten jede Nacht ohne Pathos und Trara Kompagnien um Kompagnien bei Freund und Feind diesen Gang durch Eisen und Tod an. Stählerne Männer. Aber nicht solche, wie sie bei Sedanfeiern gepriesen werden. Ernste Soldaten. Sehr ernste. Das war kein frischer fröhlicher Krieg. Das Morden tobte. Dennoch hielten die Herzen stand. Bis in den Tod.
Wofür? Das fragte keiner mehr. Man dachte nur: Gut, dass diese Verwüstung der Landschaft in Feindesland geschah. O ferne Heimat, lebst du noch —? Ihr wisst ja nicht. Kein Heldenlied, kein Armeebericht, keine Auszeichnung kann deutlich machen, was hier geschieht.
Unter den vorsichtigen langsamen Schritten der geduckt Vorwärtsdringenden knirschte zermürbtes Gestein.
„Wir sind gleich im Laufgraben, dies hier ist Béthincourt — gewesen,“ sagte der Leutnant.
Und nun sprang jeder in den Graben hinein. Ganz nahe Maschinengewehrgetacke. Die Kugeln pfiffen irgendwo hier vorbei. Granateneinschläge waren ringsum und schon weit hinten im durchmarschierten Gelände.
Mitten drin.
„Lindolf — zählen — dann nachkommen — oben laufen — im Graben kommen Sie nicht durch —“
Und Lindolf zählte zum zweiten Male die Kompagnie. 51, 52, 53 — abgerissen. Wo ist der nächste?
Er schrie in den Höllenlärm: „Hallo! Bernöckel!“ Da tauchte aus dem Boden ein Schipper auf und holte mit dem Spaten aus: „Wirst du die Fresse halten. Hundert Meter weiter sind die französischen Horchposten. Such doch, dummer Hund —“
Richtig setzte ein Maschinengewehr ein: Tak, tak, tak — ganz in der Nähe — doch Lindolf dachte nicht an Schüsse, er suchte nur den Kompagnierest — da — da endlich, sie hockten — ein Unteroffizier sagte: „Wir wussten nicht, wo weiter!!“
Lutz nickte: kommt nach. Und er brachte sie an den Laufgraben. Doch das von ihm vorhin geweckte Maschinengewehrfeuer traf zwei, die er kannte, darunter einen von den neuen dreissig. Ich meinte es doch gut, o Gott! schlug sein Gewissen. Aber das Toben der tausend Schüsse ringsum im engsten Kreis nahm alles logische Denken sofort weg, nur traumhafte, hellsichtige Bilder traten vor die Augen — er sollte ja oben entlang laufen, durch die Maschinengewehrgarben also — ach was — raus — er lief auf der Brustwehr, umheult und umpfiffen und umkracht — da hockte der Leutnant mit der Kompagnie — und vor ihm spritzte der Erdboden —
Lindolf nickte: Ja, Kompagnie ist zusammen.
Der Leutnant winkte ihn neben sich.
„Man weiss, dass wir kommen. Ich will aber warten. Wenn wir durch das Maschinengewehrfeuer laufen, das hier in den aufgeschossenen Gräben prasselt, kommen wir ein Drittel nur nach vorn.“
Sie warteten eine Stunde. Leuchtkugeln schwebten über ihnen. Dann und wann schlug eine Granate in der Nähe ein. Manchmal wurde durchgesagt im Flüsterton, ganz geschäftsmässig: Der verwundet, jener tot.
Endlich hörte die Schiesserei auf. „Jetzt so schnell wie möglich durch. Laufschritt — durchsagen — Lindolf — oben laufen —“
Und wieder huschte Lindolf die Kompagnie entlang: Laufschritt, Laufschritt, Laufschritt —
Sie kamen durch, fast die ganze Kompagnie. Nur den Schwanz, die Letzten, fasste das Maschinengewehrfeuer, eine Leuchtkugel hatte den Anmarsch zum Schluss verraten.
Unteroffizier Glaser, der mit Bernöckel den Schluss bildete, fiel. Drei Mann verwundet.
So langte die 12. Kompagnie, die 4. Kompagnie des I. Bataillons ablösend, schnaufend und ohne jeden greifbaren Gedanken todmüde nachts um zwei in der vordersten Stellung an.
Und morgen Sturm.