Читать книгу Eine Kompanie Soldaten - In der Hölle von Verdun - Alfred Hein - Страница 22
17.
ОглавлениеIn der Nacht war das Feuer verstummt. Vielleicht sollte ein Nachtangriff kommen. Das ganze Bataillon lag in erhöhter Alarmbereitschaft. Hirschfeld mit Unteroffizier Liebetanz, der befördert werden wollte, und zwei andere auf vorgeschobenstem Horchposten.
Van Heusen schickte in die zerschossene Sappenstellung drei Maschinengewehre vor, die dann und wann zu tacken begannen, wenn es im feindlichen Graben sich regte. Drei französische Ueberläufer hatte van Heusen mit seinen Meldern nach hinten geschickt, von ihnen erfuhr man, dass der Angriff auf die Sappenstellung morgen nachmittags 6 Uhr geplant sei. Wenn es wahr ist, was sie sagen — —
Rinkel bezog Bernöckels Erdloch. Er sann vor sich hin, immer das gleiche: Auch das noch, auch das noch. O mein Gott, warum hast du mich verlassen? Vater unser, der du bist im Himmel ... Gegrüsst seist du Maria ... bitt für uns arme Sünder, jetzt und in der Stunde des Todes. Amen. Auch das noch, auch das noch. O mein Gott, warum hast du mich verlassen ... Vater unser ... Die Angst war in dem kräftigen Burschen zur Manie geworden. Als Franz Rinkel vom Acker geholt wurde, Soldat zu werden, erschrak er schon vor dem Lärm der grossen Städte, durch die er fuhr, um in die Garnison zu gelangen. In der Stille der Felder war er aufgewachsen, an den Ufern des Niederrheins, fast an der holländischen Grenze. Wochenlang sprach er mit Eltern und Geschwistern zu Hause keine zehn Worte. Das Ticken der alten Standuhr in der Diele des Bauernhauses war das Lauteste dort, und sein Ohr wurde von Lerche und Nachtigall und Amsel umsungen, jahraus, jahrein. Und dann verliebte er sich still und einfach in Johanna, die Nachbarstochter. Sie redeten nicht viel, und die Eltern redeten auch nicht viel, es hiess: Nun gut, ihr seid verlobt. Ihr wisst, was sich für ehrsame Bauernkinder schickt. Johanna hatte ihm den Rosenkranz mitgegeben, den er nun immer um seine Faust gewunden hielt. Aber diese Faust, die Pflug und Dreschflegel kräftig zu regieren verstand, zitterte. Und der grosse Friede in der Brust, den die einsame niederrheinische Ebene dahineinversenkt Jahr um Jahr, ohne schwere Erschütterung der Folge der Tage und Wochen, war geflohen. Ein Herz, das wie ein irrer Vogel im brennenden Käfig herumsprang, schlug nun in dem kräftigen Körper.
„War’s so schlimm, Rinkel?“ kroch Lindolf an das Loch des Bauern heran und blieb im Laufgang vor ihm hocken.
„Ja. Bitte doch deinen Leutnant — er soll einen andern nehmen.“
„Aber — schau doch, ich halte es aus — ich — drei von meiner Sorte kann man aus dir machen —“
„Ich weiss nicht,“ sagte Franz traurig, „ich werde verrückt in diesem Lärm. Ich bin das nicht gewohnt.“ Und er begann von seinem früheren Leben zu erzählen — — „Mai ist jetzt bald, da wächst schon das Getreide. Der Vater sitzt mit der Mutter vor der Tür. Und Johanna ist dabei.“ Er zog ein Bild hervor: „Das ist Johanna. Sie wird sterben, wenn ich sterbe.“
„Rinkel, nicht so schwarz sehen. Gar nichts denken.“ Lutz dachte nicht mehr an Adelheid. Manchmal an die Mutter. Aber auch so: bald bin ich vergessen. Alles wird überwunden.
„Waren hier auch einmal Wälder?“ fragte Franz.
„Ja. Sicher.“
„Und Felder?“
„Ja.“
„Mit wachsendem Brot?“
„Ja.“
„Mit Blumen?“
„Ja.“
„Mit Nachtigallen vielleicht, mit Amseln?“
„Ja.“
„Und Lerchen?“
„Ja. Hast du gestern früh die Lerche nicht noch über uns gehört? Sie sang, bis dies blödsinnige Geschiesse heute begann.“
„Eine Lerche ist hier über uns?“
„Ja, Franz.“
„Dann will ich leben, bis ich sie noch einmal höre.“
Lutz lächelte. Und er streichelte die dicke Faust des nach Gomorrha verschlagenen Bauernjungen.
„Herr, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun, sie zerstören die Aecker, sie zerfleischen die Erde —“
„— und die Menschen —“
„Sie tragen die Hölle in die Stille der Felder —“
„— und in unsere Seelen —“
„Wer macht das, Lindolf? Wer ist der Mörder?“ schrie Franz.
„Wer? Wir alle.“
„Ich habe mit dem Kriege nichts zu tun. Ich wusste kaum, dass es Franzosen gab, und dass sie uns berauben wollten.“
„Das wussten wir alle — kaum. Es hiess so. Wie von uns drüben dasselbe heisst. Jeder einzelne, befragt, sagt: Ich wusste es nicht, ich habe nichts gegen euch. Aber es lag in der Luft.“
„In meiner Heimat lag nur Friede in der Luft und der Duft der Felder.“
„In meiner Heimat war immer Krieg. Um die Bergwerke und Hütten lag fast die gleiche Kampflust wie hier. Nur unsichtbar. Aus den Hochöfen kroch der Krieg,“ sagte Lutz. Erst in dieser Stunde wurde ihm das offenbar.
„Dann wollen wir gegen die Hochöfen marschieren“, sagte Rinkel.
„Vielleicht — geschieht das — am Ende — —“
Eine fremde Offiziersstimme: „Leutnant Wynfrith. Wo ist die 12. Kompagnie, Leutnant Wynfrith?“
Lindolf sprang auf. Ein Oberleutnant von der Artillerie. Wynfrith stand auch schon neben ihm.
„Ich möchte mir hier einen Beobachtungsstand bauen. Geben Sie mir drei Leute.“
Neben Lindolfs Erdloch erstand der Ausguck des Artillerieoffiziers in dieser Nacht. Mit Misstrauen sah Lutz zu. „Schüttet aber alte Erde über die weissen Bretter.“ Der Artillerieoffizier hatte sich zum Versteifen der Ausguck-Wände schöne gehobelte Bretter mitgebracht. „Was quatschen Sie dazwischen?“ pfiff ihn der an.
Lutz ging zu Wynfrith: „Wir kriegen Zunder hierher, wenn die Franzosen die Veränderung an der Grabenecke merken.“
Wynfrith schwieg. „Wo Bernöckel stecken mag?“ sagte er nach einer Weile. „Pechtler sagt: drüben.“
„Hm — er war der letzte in unserer Kompagnie, der den Kriegsfreiwilligensturm bei Langemarck mitgemacht hat.“
„Das war noch was — Bewegung — vorwärts —?“
„Zu schnell vorwärts, zu siegesgewiss.“
„Aber schön. Deutschland, Deutschland über alles, sangen sie noch —“
„Weil sie ahnungslos waren. Nun wissen wir, wie es ist. Wem bliebe das Lied hier nicht in der Kehle stecken?“
„Striese ist tot, Herr Leutnant.“
„So, der Alte? Hat sechs Kinder. Ich hab nur zwei —“
„Es wird für sie doch gesorgt werden.“
„Meinen Kindern würde ich fehlen wie das tägliche Brot.“
„Sie sind doch jetzt auch lange fort, Herr Leutnant.“
„Aber ich lebe. Ich bin da. Sie beten für mich. Und hoffen.“
„Sie sind sehr glücklich zu Hause?“
Wynfrith schwieg.
„Nicht?“
„Gehen wir schlafen. Hier sind hundert Mark, nehmen Sie sie morgen zum Bataillonsstab mit, Lindolf. Man soll sie an Strieses Witwe schicken.“
„Sie sind ein guter Mensch.“
„Ich? Nur einer, der selbst hilflos ist, und daher andern hilft, vielleicht, weil er sich selbst so wenig helfen kann.“
„Herr Leutnant —“
„Geh schlafen, Junge.“
„Ja. Gute Nacht.“
Mit Sonnenaufgang setzte ein Geprassel und Getöse in dem Grabenwinkel ein, wo der Artillerieausguck aufgebaut war, und als Lutz aufwachte und aufsprang, war nichts mehr zu sehen, die beiden Telefonisten der Artillerie lagen, mit grässlich aufgerissener Brust der eine, mit abgesägter Schädelplatte der andere, Lutz zu Füssen. Bsching — das ging ganz nahe nieder!
„Herr Leutnant — wir müssen raus —“
Wynfrith war schon fort. Er lagerte mit Rinkel, seinem Burschen und drei andern, die noch in der Nähe des Ausgucks lagen, im Laufgang in der Nähe des Skatklubs.
„Ach — er lebt — — er lebt —!“ schrie einer, als Lindolf angekrochen kam.
„Verfluchte Schweinerei! Wo ist denn dieser Oberleutnant?“ schimpfte Lutz.
„Der ging, wie es hell wurde. Aber seine beiden —“
Wynfrith drückte Lutz die Hand. „So was passiert alle Tage — lasst das Schimpfen —“
„Sind von uns welche auch getroffen?“
„Ja. Zwei. Schwer verwundet. Wiebe und Markwardt bringen sie nach hinten.“
Und der vierte Tag begann, und wieder ging es auf und ab, auf und ab, immer die Gräben entlang, alle vier bis fünf Minuten ganz schwer und krachend in der Nähe, kaum 10 Meter im Umkreis entfernt einschlagend — — —
Lindolf, Rinkel und der Bursche buddelten rechts und links vom Skatklub neue Löcher. Nach einer halben Stunde — jedesmal, wenn die Schüsse vorüberkamen, rief Rinkel nur noch „Jesus! Maria!“ — beten konnte er nicht mehr — dann klebte sich jeder in sein neues Erdloch hinein — wie Bienen in die Waben.
Indessen wurden ihre alten Unterschlupfe zerprasselt. Als Lutz zu van Heusen kroch, festzustellen, ob die M.G.-Kompagnie überhaupt noch da war, — wusste er nicht mehr in dem immer noch wüst aufspritzenden Schutt, von metallischen Einschlägen umsprengt, wo sein Erdloch gewesen war.