Читать книгу Eine Kompanie Soldaten - In der Hölle von Verdun - Alfred Hein - Страница 9
4.
ОглавлениеIn vier Tagen ist Ostern. Und Frühling wurde über Deutschland. Alles wollte so gerne leben. Doch selbst die Blumen am Waldrand standen im Schatten des Todes. Und das Jubilieren der Vögel klang ein wenig gezwungen wie das sich einen Augenblick nur betäubende Lachen der Menschen.
Soldaten fuhren an die Front. Mit gütiger Langsamkeit, aber unerbittlich vorwärts trottet der Zug durchs Gelände. Zum ersten Male kommt Lutz nach Westdeutschland, in wenigen Stunden wird er den Rhein sehen, der so oft seine Reisesehnsucht als Knabe gelockt hatte, dort fern in dem oberschlesischen Industriewinkel, wo er zu Hause war. Da lagen die bunten Städtchen Thüringens zu Füssen — alles aber, selbst die so treu geliebten Waldberge, die denen im schlesischen Land ganz ähnlich sahen, alles war gespensterhaft, und die Traurigkeit, die der Krieg über die Welt gebracht hatte, hing schwer an allen Zweigen, äugte müde aus den Fenstern — Deutschland war krank. Der Tod ging um.
Nichts regte sich in der Brust: O mein Vaterland! nichts von Verteidigungswillen, bloss ein wehmütiges Lächeln fiel aus dem Herzen: Wenn nur einmal noch im Frieden diese Landschaft mir vorüberglitte —
So fuhr Lindolf, der Feldgraue (welch tiefsinnig ödes, eintöniges Wort — —) durch Deutschland zur Front. Franken kam mit Marburg, der hangverwunschenen, hochgetürmten Stadt am stillen Fluss, und dann aus einem Wärterhaus winkte ein Mädchen, und er dachte an Adelheid, aber seltsam, er war nicht recht bei Sinnen, schien es, er dachte ganz gefühllos an sie. Vernebelte die Angst vor dem Tode alles? Er hatte nicht einmal Angst vor dem Tode. Er lebte wie eine Fliege an der Wand. So klebte er auf seinem Platz im Soldatenzug. Die drei anderen Kameraden im gleichen Abteil spielten Skat, ihn liess man träumen. Sie neckten ihn eine Weile, den Kleinen, das Muttersöhnchen — als er sie aber mit seinen grossen Augen tief ansah, schwiegen sie, und der rüde Pechtler, der zum vierten Male an die Front ging, schenkte ihm einen Apfel. „Nimm, du warst gestern ganz allein, von meiner Braut —“
Da nahm Lutz den Apfel und spürte, wie instinktiv zwischen ihnen jetzt das Echte und Einzigartige, das Fronterlebnis erwachte: die Kameradschaft.
Ja, aus Kameradschaft fuhr er an die Front. Warum sie den Heldentod auf dem Felde der Ehre sterben sollten, das wusste er nicht, patriotisch konnte man wohl zu Kaisers Geburtstag im Frieden sein. Aber je näher dem Schuss, umsomehr war nur die Tatsache, dass Menschen auf Menschen aus rätselhaften Ursachen, die die Vaterländer der Welt schufen, losgingen, das die Seele unbegreiflich Ergreifende.
„Will einer noch von euch siegreich Frankreich schlagen?“ fragte Lutz die Drei.
„Ich möchte nur eines“, sagte Pechtler wild, „die Hunde, die diesen Schlamassel angerührt haben, antreten lassen und in die Fresse hauen. Es will bloss keiner gewesen sein.“
„Nun sind wir drinne. Quatsch nicht so laut, es nützt ja doch nichts“, sagte Töz, der Dicke. „Wir fahren jetzt durch meine Heimat, aber ich seh nicht raus, weil ich dann doch vielleicht raus springe — los, spiel weiter —“
Wittke, der dritte Skatspieler, sah nur finster drein. Sein Bruder war in der vorigen Woche bei den 24ern vor Douaumont gefallen, berichtete ein Brief der Mutter. Er käme nach dem Osten, hatte er gestern, damit die Mutter nicht erneut erschrickt, nach Hause geschrieben, in die Etappe. Wittke spielte mit derbem Schlag seinen Trumpf aus. „Ist ja alles ganz egal!“
Lutz fühlte, wie er mit diesen fremden derben Gesellen zusammenwuchs und wie ihre rauhe Herzlichkeit ihn umfing. Diese seelische Tuchfühlung, die jetzt begann, sie schuf tief in ihm den Begriff: Volk. Einen namenlosen echten Klang, der mit goldenem Ring sie zusammenhielt, einem Ring, der in die trostlose Fahrt aus den Sternen fiel — — Wir Volk, fühlte Lindolf, wir verlassen uns nicht. Wir halten treu zusammen.
Das war die richtige Treue. Alle Dichter haben sie falsch besungen, was heisst hier: Mit Gott für König und Vaterland — das Volk marschiert, ihr Herren. Bereitet ihm den Weg zum wirklich grossen und reinen Sieg, zu einem andern Sieg als ihr denkt, sonst wird es über eure Marschallstäbe und Geldsäcke hinwegmarschieren.
Lutz fühlte, wie dieser Zug in die Zukunft fuhr. Nicht nur zur Front, auch hinan zu den Gestirnen.
Wenn Deutschland, die Nation, der Kaiser, die Regierung, der Generalstab — merkwürdig, wie hohl und fremd diese Begriffe klangen — wenn diese Kräfte alle wirklich der Freiheit des Volkes dienen wollen, dann wird trotz aller Uebermacht das Deutsche als das Reine und Selbstlose in der Welt siegen.
Wenn aber Deutschland, dieses amtliche und geldstolze Deutschland, anders will, dann wird das Volk zerbrechen an der Ziellosigkeit seines Kampfes.
Noch glaubte Lutz an die Uebermacht der guten Kräfte in der Führerschaft des Volkes, obwohl auch in seinem kleinen Lebenskreis als Feldgrauer ihm Ehrgeiz und Geldgier unter dem patriotischen Mäntelchen oft genug und immer öfter begegneten.
In Limburg an der Lahn gab es Mittagbrot. Graupen mit Rindfleisch, Schrapnällches, wie Szimkat, der Ostpreusse, sagte.
Da ragte auf sanftem Berg der stille Dom vor einsamer Waldeshöhe, und eine Stadt im Tal, schön wie Dehmels Gedicht:
Liegt eine Stadt im Tale,
Ein blasser Tag vergeht.
Es wird nicht lange dauern mehr,
Bis weder Mond noch Sterne,
Nur Nacht am Himmel steht.
Lutz schlich sich mit seinem Picknapf voll Graupen vom Bahngelände fort den Domberg hinauf. Eine Buche, die leise zu grünen begann, wartete auf ihn. Hier ist gut sein. Hier — immer — so — bleiben — — Wie Hiob am Wege — Spottet nur — Gott sendet den Frühling, der Sommer kommt — — nur hier bleiben dürfen — in Frieden — — —
Es wird nicht lange dauern mehr — — — nur Nacht am Himmel steht — — — begannen die Verse von neuem zu singen.
Wenn er jetzt landeinwärts ginge, bis etwas geschah, und statt morgen in der Hölle, vielleicht im Himmel sein, ein Mädchen treffen, das einen liebte und das einen verbarg — —
Doch da war die Kameradschaft, die Volkstreue, und heilig stand dies Gefühl in der Brust auf und liess ihn zurückgehen, sich einzureihen in das feldgraue Heer.
Langsam setzte er Schritt vor Schritt, den Domberg hinab. Die goldenen Kreuze der Türme funkelten in der Frühlingssonne. Noch sangen Lerchen. Noch glitt der Wind über die unverletzte Haut. Noch sahen die Augen vom Kampf unverwüstetes deutsches Land.