Читать книгу Perlen der Demenz - Almut Pfriem - Страница 10

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Kapitel 3

Egal, wie schwierig eine Situation sein mag – in dem Moment, da wir an einen Punkt gekommen sind, wo man sich entschließt, die Realität, mit der man es zu tun hat, wirklich anzuschauen, werden neue Kräfte dafür geweckt, mit der Situation umgehen zu können.

Claus Otto Scharmer

DIE ZUKUNFT GEHT INKOGNITO

„Was? Was sagst du? Habe ich dich richtig verstanden? Sag das noch mal!“

„Ja, du hast mich richtig verstanden. Mama hat den Platz haben wollen und zieht nächste Woche da ein.“

In mir hält alles die Luft an. Ich weiß nicht: Bin ich traurig oder froh? Erleichterung oder Entsetzen? Jetzt ist es so weit. Es nimmt bereits seinen Lauf. Wo ist hier die Hintertür?

Ich sehe meine Mutter im Altersheim in einem Zimmer sitzen. Letzter Bahnhof. Die sinnloseste Wartehalle, die je geschaffen wurde. Grausam einsam. Entwurzelt. Gnadenbrot. Kein Daheim. Kein Zurück mehr. Entsetzen!

All das rast in hoher Geschwindigkeit durch meinen Kopf, während ich gleichzeitig völlig bewegungslos bin, kaum ein Wort herausbringe, kaum mehr einen klaren Gedanken fassen kann.

„Almut? Bist du noch dran?“, höre ich die besorgte Stimme meiner älteren Schwester Brigitta durch den Hörer.

„Ja, bin ich. Wie kommt das? Warum geht das jetzt so schnell?“, frage ich verdattert, fast tonlos.

„Almut, mir geht es genauso. Ich war auch völlig entsetzt. Aber schau, es ist doch gut so. Das war gar nicht mehr zulässig, sie in ihrem Zustand alleine zu lassen. Es war schon regelrecht gefährlich. Jetzt wissen wir sie zumindest in ständiger Betreuung.“

Mir fällt nichts ein, also fährt sie fort:

„Und du weißt doch, wie sie ist! Einfach immer wieder für eine Überraschung gut. Warum soll sich das plötzlich ändern? Sei doch froh, dass sie uns diese Entscheidung abnimmt.“

„Ja, schon. Aber wie kommt das jetzt?“

Auf der Suche nach Antworten lasse ich die Ereignisse noch einmal Revue passieren, während meine Schwester im Hintergrund fortfährt, das Neueste zu erzählen.

‚Ich war doch erst vor einer Woche bei ihr‘, denke ich.

Erst vor einer Woche! Am Samstag hatten wir gemeinsam das Altenheim angeschaut. Am Dienstag habe ich mit dem Sonnenhof telefoniert. Zunächst kam die Frage auf, ob sie überhaupt demente Menschen aufnehmen.

„Ja, und im Moment ist ein Platz frei geworden“, lautete die Auskunft.

„In einer geschlossenen Abteilung?“, fragte ich voller Angst.

„Nein, in der Regel geht das ohne“, wurde ich beruhigt.

„Machen Sie sich keine Sorgen, das wäre nur nötig, wenn Ihre Mutter dazu neigt, fortzulaufen. Das kommt aber wirklich ganz selten vor. Möchten Sie den Platz gleich nehmen?“

„Nein, so schnell geht das nicht“, habe ich abgewehrt und meine Mutter auf die Warteliste setzen lassen. „Wir möchten ihr schon noch die Zeit geben, sich mit dem Gedanken anzufreunden.“ Dezent wurde ich darauf hingewiesen, dass es natürlich nicht wirklich planbar sei, wann wieder ein Platz frei werde. Erschrocken wurde mir klar, dass es davon abhängt, ob jemand stirbt.

„Ja, ja“, stotterte ich und behauptete, dass ich das verstünde. Ich erklärte, dass wir lieber riskierten, ein wenig warten zu müssen – wie makaber.

„Ja, weißt du“, so höre ich jetzt wieder Brigitta sagen, „das mit dem Krankenhausaufenthalt hat die Sache wohl beschleunigt. Irgendwie ist ihr da klar geworden …“

Meine Gedankengänge und Brigittas Worte laufen zweigleisig, mal höre ich, was sie sagt, mal ziehen meine eigenen Gedanken meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Ereignis jagt das andere.

Am Mittwoch, also einen Tag nach besagtem Telefonat, hatte ich die Nachricht bekommen: „Mama ist im Krankenhaus.“

Sie war auf der Straße gestürzt. Das war nicht das erste Mal. Dieses Mal jedoch hatten Passanten den Rettungswagen gerufen. Als mein Bruder dann dazukam, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Deutlich konnte er erkennen, dass sie sich ärgerte, dass ihr das alles peinlich war und sie es ganz und gar unnötig fand: viel zu viel Trubel wegen so einer Lappalie.

„… Und als ich am Samstag bei ihr war“, höre ich schließlich wieder die Stimme meiner Schwester, „da hat sie mir das alles erzählt.“

„Ja, aber das mit dem Schwindel hat sie doch schon lange und das wird sich auch im Altersheim nicht ändern“, gebe ich zu bedenken.

Lange schon kämpft sie mit diesem Schwindel und bisher ist noch immer alles gut gegangen. Es gab mal kleinere Blessuren, Abschürfungen oder auch blaue Flecken, doch sie hat sich noch nie etwas gebrochen – schon erstaunlich. Vielleicht kommt ihr ihre Bereitschaft, sich dem hinzugeben, was ist, zugute und löst sogar muskuläre Widerstände? Vielleicht hatten wir bis jetzt auch einfach nur Glück. Auf eigenartige Weise jedenfalls fällt sie immer elegant. Ja, wenn ich so zurückschaue, bemerke ich, wie lange wir schon mit der Risikobereitschaft unserer Mutter leben. Alle sind wir einverstanden damit, dass sie trotz ihres Schwindels all die Unternehmungen macht. Und auch wenn wir nicht einverstanden wären, so würde das nichts ändern, befürchte ich. Aber wir haben damit auch kein Problem, denn das Vertrauen in das Leben haben wir alle mit der Muttermilch eingesogen. Ich bin ehrlich gesagt sogar stolz auf meine Mutter. Mir gefällt das. Ich bin froh, dass sie ihr Leben lebt und nicht aus Angst daheim bleibt und womöglich noch depressiv wird.

„Almut, darum geht es jetzt gar nicht!“, höre ich wieder meine Schwester. „Der Schwindel ist gar nicht das Thema. Die Tatsache, dass sie gefühlt gar keine Wahl hatte, als der Rettungswagen sie mitnahm und sie ihr diese Medikamente verabreichen wollten, sogar gegen ihren Willen …“

Meine Gedanken schieben sich wieder in den Vordergrund. Nachdem sie eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus hatte bleiben müssen, war sie auf eigene Verantwortung entlassen worden.

„Weißt du“, hatte sie mir verschmitzt am Telefon gesagt, „obwohl ich, na, du weißt schon, wie heißt das noch, so dezent bin …“

„Dement?“

„Wie? Ja, genau, obwohl ich so dement bin, haben sie es nicht geschafft, mir ihre wichtigen Medikamente zu geben. Das haben sie gewollt, aber nicht geschafft.“

Ich spürte ihre Freude über ihren großen Sieg und ihren Stolz.

„ … Da ist ihr wohl bewusst geworden, wie es um sie steht“, höre ich Brigitta sagen.

„Sie hat dort beobachtet, dass sie Gefahr läuft, gar nicht mehr ernst genommen zu werden. ‚Immer haben die nur mit Alexander gesprochen, wie wenn ich gar nicht da wäre‘, hat sie mir erzählt. Sie war richtig stolz auf Alexander, als dieser geantwortet hatte: ‚Fragen sie das doch meine Mutter!‘.“

„Echt, hat er das gesagt?“, frage ich.

„Ja, hat er. Er hat mir aber auch erzählt, dass es brenzlig war. Sie haben ihm nahegelegt, sich möglichst bald um eine Vormundschaft zu bemühen.“

„Oh je, die arme Mama, das hat sie alles nicht verdient!“, stöhne ich.

„Ja, wir alle haben das nicht verdient! Als ich dann Samstag bei ihr war, wollte sie unbedingt mit mir noch mal in dieses Altersheim fahren. Es beschäftigte sie sehr, wie das alles wohl weitergehen soll. Also haben wir auf unser lieb gewonnenes Baderitual verzichtet und sind hingefahren. Und du glaubst es nicht! Just in dem Moment war eine Führung da – wie bestellt! Wir wurden durch das Haus geführt und Mama schaute sich alles genau an, hörte aufmerksam zu und als wir dann zu dem Zimmer kamen, welches im Moment frei ist, sagte sie laut und deutlich: ‚Das nehme ich!‘

‚Mami!’, habe ich gesagt.

‚Das nehme ich!‘, du kennst sie ja. Die Heimleiterin war ganz entzückt von ihr. ‚Sie bekommen es, wenn Sie das mögen‘, hat sie gesagt, ‚es ist nämlich noch frei.‘ Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie die sich handelseinig wurden.“

„Ja, wie – und dann hat sie das Zimmer bekommen?“

„Ja! Ich habe sofort gesagt, sie solle es sich doch noch mal überlegen. Darauf sie: ‚Da gibt es nichts zu überlegen, Kind, die Dinge sind, wie sie sind!‘, dann drehte sie sich zur Heimleiterin und sagte schlicht: ‚Wunderbar. Wann kann ich einziehen? Ich nehme es.‘

‚Am Mittwoch‘, hat die prompt geantwortet.“

„Ne, ich glaub das alles nicht!“

„Doch, und auf dem Heimweg meinte sie dann nur: ‚Da hat bestimmt der Papi seine Finger mit im Spiel. Der hilft uns von da oben‘.“

„Und jetzt?“, frage ich.

„Stephan wird am Montag mit der Heimleiterin telefonieren, um die Formalitäten zu besprechen. Tja, und ab Mittwoch kann sie einziehen. Es wird aber wohl Samstag werden. Am Samstag hat Alexander Zeit und Hans und ich auch. Wenn du auch Zeit hast, ist das natürlich super. Stephan versucht zu kommen und Gabriela kann aller Voraussicht nach auch. Dann könnten wir alle gemeinsam die Wohnung weitestgehend räumen.“

„Puh –“, meine Augen füllen sich mit Tränen, „das ist jetzt schon alles sehr schnell für mich. Ich bin so traurig. Ich habe gedacht, dass wir uns jetzt erst mal zusammensetzen und nach einer Lösung suchen.“

„Ja, was denkst denn du? Ich auch! Ich doch auch! Aber jetzt ist es so. Und jetzt machen wir das Beste daraus. Genau genommen will sie es uns damit einfacher machen, also dürfen wir es ihr nicht schwer machen.“

„Stimmt. Oh je, ich kann grad nicht mehr, ich muss einfach weinen.“

„Dann mach das jetzt – und nicht am Samstag! Okay? Weißt du was? Das muss ich dir jetzt auch noch erzählen, dann geht es dir sicher gleich besser. Als wir so in ihrem zukünftigen Zimmer standen, kam die Nachbarin dazu. Mit der muss sie sich das Bad teilen. ‚Hier wird g’macht, was i sag!’, hat die sofort losgepoltert. Da hat Mama geantwortet: ‚Das kommt darauf an, wer die Ältere ist.‘ Als die beiden das nicht so recht herausfinden konnten, hat die Nachbarin wiederholt: ‚Hier wird g’macht, was i sag, und baschda!‘.“

„Oh je, arme Mama!“

„… Pass auf, jetzt kommt’s! Weißt du, was Mama geantwortet hat?“, ich höre regelrecht die Freude in Brigittas Stimme.

‚Ja‘, hat sie gesagt, ‚da Sie schon länger hier wohnen, bin ich gerne damit einverstanden, solange es vernünftig ist.‘

Die Heimleiterin musste schmunzeln und war sichtlich von ihr angetan. Siehst du, das ist unsere Mama. Die macht das schon, Almut. Und was diesen Umzug angeht, so ist es dieses Mal wohl das letzte Mal.“

‚Ob es mir nun wirklich besser geht, weiß ich nicht. Aber der letzte Umzug wird es wohl tatsächlich sein‘, denke ich, nachdem ich aufgelegt habe.

Gut, dass die Zukunft inkognito geht.

Perlen der Demenz

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