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Kapitel 9

Es gibt eine Stille, in der man meint, man müsse die einzelnen Minuten hören, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen.

Adalbert Stifter

DURCHEINANDER

‚Jetzt ist Mama schon ein gutes halbes Jahr im Sonnenhof und alles in allem ist es doch ganz gut‘, denke ich und schlage das Eigelb mit dem Zucker schaumig.

‚Bin ich froh, endlich Urlaub! Endlich in La Coume! Ich liebe diesen Ort, unser neues „Zuhause“. Ja, es ist wirklich wie ein Zuhause für uns geworden. Ich fühle mich sauwohl hier und auch in der Gemeinschaft. Sie haben uns so herzlich aufgenommen. Das Frühstück gerade eben, draußen in der Sonne, der gemeinsame Austausch – alles so relaxed, das ist unendlich kostbar. Ich liebe das Rauschen dieser Birken im Wind und das Zwitschern der Vögel. Ja, das ist die pure Lebensfreude! Ab und zu ein Traktor oder Rasenmäher, okay, doch darüber hinaus ist nichts zu hören, höchstens die Kühe, die derzeit nebenan auf der Weide stehen. Ansonsten ist alles friedlich. Oh, diese Ruhe, sie tut so gut! Hier kann ich wirklich aufatmen. Der Alltag bedrängt mich nicht wie daheim. Es fühlt sich eher so an, als ob das Leben mir hier freundlich die Türe öffnet und mich einlädt, einfach nur zu sein. Dürfen statt Müssen. Ja das ist es: Hier darf ich und muss nicht. Wow, ich freu mich jetzt auf das gemeinsame Werkeln, Feiern und Gestalten. Schon toll, dass Bernie das so entschieden hat. Nun sind wir Miteigentümer von diesem alten Bauernhaus in den Vogesen, diesem wunderschönen Feriendomizil. Jetzt dürfen wir loslassen, einfach mal fort sein, die Seele baumeln lassen und sind dennoch irgendwie zu Hause – schon genial!

So, jetzt noch das Eiweiß unterheben und dann kann der Kuchen in den Ofen. Hm, er riecht schon so gut. Ich liebe diesen leicht herben Bergamottegeruch.‘

Mit diesem Geruch fliegt mein Herz jedes Mal zu Muthe, meiner Freundin aus dem Kindergarten, mit der ich bis heute verbunden bin, denn von ihr habe ich diesen Tipp. Und er ist das kleine feine i-Dipfele bei meinem allseits beliebten Käsekuchen.

‚Oi, wer poltert denn da so die Treppe herunter?‘

Bernie kommt in die Küche – blass und mit großen Augen.

„Wie siehst du denn aus? Ist was passiert?“

So habe ich ihn noch nicht gesehen. So ernst, so gefasst. Da ist Angst in seinen Augen.

„Gisela hat angerufen.“

Jetzt weiß ich: Es ist etwas passiert! Seine Schwester ruft sonst nie an. „Ja, und? Sag schon, was ist passiert?“

„Meine Mutter hatte einen Schlaganfall und liegt im Krankenhaus.“

„Was?“

Alles scheint sich in einem einzigen Nichts zu verlieren. Eine absolute Leere beginnt sich in mir auszubreiten. Selbst die Worte von Bernie verebben wie Tropfen in weiter Ferne.

„Almut? Sag etwas“, höre ich ihn leise aus dieser Ferne.

Langsam beginnen die Tropfen wieder lauter zu werden, nimmt ihr Rhythmus Fahrt auf. Ein Gewittersturm an Fragen braut sich in mir zusammen und nur wenige davon schaffe ich in Worte zu fassen. „Weißt du schon mehr? Wie und wann ist das passiert? Ist sie ansprechbar? Was weißt du? Red schon!“

„Ich weiß nur, dass es zu Hause passiert ist. Gestern Morgen, als sie aufgestanden ist. Sie konnte sich, Gott sein Dank, zur Eingangstüre robben. Dort hat Herr Berger sie gefunden und den Notarzt gerufen. Sie liegt jetzt in Esslingen im Krankenhaus.“

„Ist sie ansprechbar?“

„Weiß ich nicht.“

„Und jetzt?“

„Ja, ich glaube, wir sollten hinfahren.“

„Ja, das glaube ich auch. Sagst du den anderen Bescheid? Ich schiebe nur noch den Kuchen in den Ofen, Ursel soll ihn dann rausholen.“ Bernie geht nach draußen.

‚Ich glaube es nicht! Was für ein Start in den ersehnten Urlaub.‘ Vollkommen konzentriert schiebe ich den Kuchen in den Ofen, lasse die dreckigen Schüsseln einfach stehen und gehe nach oben, um zu packen.

Als wir längst schon auf der Autobahn sind, ist immer noch diese eigenartige Leere in mir, während gleichzeitig ein Gedankenchaos Achterbahn fährt.

„Wir fahren zuerst ins Krankenhaus, oder?“, selektiere ich Bernies Sätze aus meinen Gedankenfetzen.

„Ja, klar. Auf jeden Fall! Alles andere können wir später regeln. Wir schlafen doch in ihrer Wohnung, oder?“

Bernie antwortet nicht mehr, ist wohl auch schon wieder in seine Gedanken abgetaucht.

Wieder Ruhe.

Ich kämpfe mit meiner Enttäuschung, die lang ersehnte Erholung loslassen zu müssen.

‚Endlich im Urlaub und nun das!‘, denke ich. ‚Oh Mann, wenn ich es so genau betrachte, dann – mal ganz ehrlich? Das nervt richtig. Kaum waren die Kinder aus dem Haus, kaum hatten wir zum ersten Mal so etwas wie Zweisamkeit, da kommen jetzt die Mütter.

Erst der Riesenumzug von Lydia aus dem großen Haus in die 2-Zimmer-Wohnung, dann die Diagnose Demenz bei Mami. Schließlich ihr Umzug. Und jetzt das? Die ganze Zeit fahren wir hin und her. Hört das denn nie auf? Klar, sind wir da für unsere Mütter. Keine Frage. Alles andere wäre ja viel schrecklicher. Oh ja, viel, viel schrecklicher! Wenn das jemand weiß, dann ich. Ich bin ja froh, dass ich mit Mama wieder einen so guten Kontakt habe – haben darf. Es waren wirklich schreckliche Jahre, als das anders war und ich keinen Kontakt zur Familie mehr hatte, gar keinen Kontakt mehr. Nein, das möchte ich nie wieder erleben! Letztlich haben wir beide das so gut wieder hingekriegt. Wahnsinn, was ich, was wir schon alles so durchgemacht haben. Ja, nach dem Urlaub besuche ich Mama dann wieder. Jetzt aber geht es erst einmal nur um Lydia.

Aber halt! Stimmt! Wäre ja eine Idee! Wenn wir jetzt schon mal in Stuttgart sind, ist es nach Ulm ja auch nicht mehr weit. Da könnten wir sie doch auf dem Rückweg mit nach Frankreich nehmen! Dann käme sie mal raus aus dem Heim und hätte auch Urlaub. Gefällt mir! Die Idee gefällt mir. Da könnten wir Mama eine richtige Freude machen, ihr mal wieder ein familiäres Umfeld geben.

Langsam, langsam, erst mal abwarten! Was da wohl auf uns zukommt? Oh je! Auf gar keinen Fall werde ich ihm diese Idee jetzt unterbreiten, ist sehr wahrscheinlich sowieso eine Schnapsidee. Jetzt haben wir ganz andere Sorgen. Aber sie gefällt mir irgendwie, diese Idee. Sehr gut sogar.‘

Perlen der Demenz

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