Читать книгу Perlen der Demenz - Almut Pfriem - Страница 9

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Kapitel 2

Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean.

Isaac Newton

KEIN ZUCKERSCHLECKEN

Autobahn. Ich befinde mich mal wieder auf der Autobahn.

Eine Stunde habe ich schon. Wenn ich ganz viel Glück habe, dann bin ich in anderthalb Stunden da. Wenn ich Pech habe, dauert es länger. Zwei Stunden wird es wohl noch dauern. Es ist immer wieder eine Herausforderung.

Wie das Leben.

Ich rase mit hoher Geschwindigkeit und habe trotzdem das Gefühl, nicht anzukommen.

Es dauert.

Monotonie.

Ich fahre schnell, muss sehr achtsam sein.

Alle Antennen sind ausgefahren, gleichzeitig kämpfe ich gegen die Langeweile, den scheinbaren Stillstand.

Ich freue mich. Ich verlasse mal wieder mein gewohntes Umfeld. Reisefieber. Ich lasse meinen Alltag hinter mir und gehe bereits in Kontakt mit dem Ziel, dem ich entgegenfahre.

Ich bin noch nicht weg, noch nicht da.

In Gedanken bin ich noch beim Abschiedskuss, bei meinem Mann und bin doch schon bei meiner Mutter, meiner Schwester und meinem Bruder in meiner Heimatstadt.

Wo aber bin ich wirklich?

Ich bin auf der Autobahn. Dazwischen. Auf dem Weg. Alleine.

Da bin ich jetzt. Wie gut!

Ich genieße diesen Zwischenraum. Die Ruhe.

Sie hilft mir, mich zu sortieren.

Ich beginne mich der Autobahn hinzugeben, die Dauer der Fahrt anzunehmen.

Ich komme an bei mir.

Im Jetzt.

Gut.

Da taucht Jan auf vor meinem inneren Auge.

Er fehlt mir so, mein Sohn. Plötzlich war unsere Zeit um. Auf einmal ging es dann viel zu schnell. Oh Mann, was wissen wir schon … „Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean.“ Wie wahr. So ist es.

Mama hat Demenz.

Das zumindest wissen wir jetzt.

Und?

Was heißt das?

Was wissen wir jetzt?

Nichts!

Puh, nie hätte ich gedacht, dass Mama Demenz bekommt, nie!

Wie kann das sein? Sie war doch immer geistig aktiv, hat so viele Bücher gelesen. Unentwegt, bis heute bemüht sie sich, die Welt zu verstehen. In die Tiefe zu tauchen, um die Höhen zu durchschauen. Bis vor Kurzem hat sie doch noch Vorträge gehalten!

Wie kann das sein, dass ausgerechnet sie Demenz bekommt?

Ich versteh das nicht.

Es regt mich auf!

Muss das sein?

Muss sie das wirklich auch noch erleben?

Hat sie nicht schon genug erduldet?

Jetzt das auch noch?

Und was heißt das eigentlich für uns?

Oh je! – Ja, wir wissen es nicht!

Wissen nichts!

Keine Ahnung, was jetzt kommt.

Ruhig, ganz ruhig, bisher haben wir es noch immer geschafft.

Bisher haben wir noch immer die Unterstützung bekommen, die wir brauchten. Aber das wird kein Zuckerschlecken! Mit Sicherheit nicht!

Mama hatte schon immer ihren eigenen Kopf, ihren eigenen Willen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, stoppt sie keiner.

Wie soll das werden?

Respekt!

Respekt vor all dem, was da kommt.

‚Oh Gott, hilf uns! Papa, du bitte auch! Wir brauchen dich jetzt – und vor allem Mama wird dich brauchen.‘

‚Du weißt, dass ich da bin.‘

‚Ja, Gott sei Dank! Ich weiß es. Danke, Papa, dass du da bist!‘

‚Mach dir keine Sorgen, Almut. Einfach wird es wohl nicht, aber du kennst sie ja. Sie macht das. Und Ihr werdet es gut machen, da bin ich mir sicher.‘

‚Weißt du, wie gut mir das tut?‘

‚Oh ja, Almut! Ich weiß das.‘

‚Ich sehe dich schmunzeln.‘

‚Ja! Unsere Liebe löst Freude in mir aus.‘

‚Oh Papa. Ich glaube, wir müssen uns um einen Platz im Altersheim kümmern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das schaffen würde, sie zu versorgen.‘

Nein, ich wohl sicher nicht!

Da kämen all die alten Sachen wieder hoch. Das geht nicht. Nein, das ist viel zu riskant. Das geht wirklich nicht, das mag ich auch nicht. Boah, geht das überhaupt? Kann ich das einfach „nicht mögen“ und fertig?

‚Ja, das geht, ist sogar klug.‘

‚Wirklich?‘

‚Ja.‘

Und ich glaube, dass eigentlich auch kein anderer es schaffen würde, weiß ich’s?

‚Ja, wir müssen schauen, dass wir uns auf die Warteliste für ein Altersheim setzen lassen. Wenn dann ein Platz frei ist, können wir ja immer noch schauen. Abgesagt ist schnell. Einen Platz zu bekommen ist das Problem. Oh je! Das hat wohl keiner von uns erwartet oder gewollt.

Das will, glaube ich, eigentlich keiner von uns.

Ich werde versuchen, es anzusprechen.

Wirklich?

Wenn sich die Worte finden.

Wie wird sie reagieren?

Ihre Situation hat sich schon stark verändert, seit Gabriela jetzt am Galgenberg wohnt und nicht mehr so schnell da sein kann. Sie war rundum so gut versorgt gewesen: Gabriela ganz in ihrer Nähe, Straßenbahn nicht weit und somit alle Möglichkeiten offen – Theater, Kino, Vorträge.

Wie oft werde ich sie wohl noch in der Schlösslesgasse besuchen? Wenn ich daran denke, was Gabriela erst gerade wieder erzählt hat. Gut, dass Bene da war.

Nein, so kann’s wohl nicht bleiben. Das ist letztlich zu gefährlich. Da ist er endlich, der Münsterturm.

Gleich bin ich da.

Jetzt bin ich gespannt.

„Hallo, Mama!“

„Hallo Kind, komm rein! Schön, dass du da bist. Wie war die Fahrt?“

„Ach ja, wie immer. Gott sei Dank kein Stau.“

Ich setze mich zu ihr. Sie sieht müde aus und ich kann sehen, dass sie sich Sorgen macht.

„Wie geht es dir, Mama?“

„Tja, gute Frage. Ich weiß auch nicht, Kind. Gut so weit. Ich hab ja alles, was ich brauche.“

„Wirklich?“

„Ja.“

Wir erzählen uns so dies und das und schließlich ergibt es sich tatsächlich.

„Ja weißt du, Mama, es könnte sein, dass du es dann doch nicht mehr alleine schaffst. Was dann?“

„Kind, was redest du? Was soll denn dann werden? Es muss gehen.“

„Ja, denkst du nicht, es wäre vielleicht gut, sich mal umzuschauen? Hast du dir eigentlich mal die Altersheime hier in der Umgebung angeschaut?“

Ihr Blick verdüstert sich. Sie macht eine abweisende Bewegung, wendet ihren Kopf ab. Sie signalisiert unmissverständlich: Ende der Diskussion.

Ich bleibe mutig, muss mutig bleiben.

„Weißt du, Mama, Gabriela wohnt ja jetzt nicht mehr in deiner Nähe und ist dabei, sich selbstständig zu machen. Ob sie das so weiter schafft, weiß ich nicht.“

„Hat sie sich beklagt?“

„Nein! Hat sie nicht. Hat sie wirklich nicht. Wir machen uns halt Sorgen. Wir wissen doch auch nicht, was da auf uns zukommt.“

„Wie, was soll denn da auf uns zukommen?“

„Du weißt doch, der Arzt hat gesagt, dass du Demenz hast.“

„Hat er?“

„Ja, hat er!“

„Aha.“

„Was, aha.“

„Aha.“

„Mama …“

„Zerbrich du dir nicht meinen Kopf!“

Nach einigem Schweigen sage ich: „Ich mach mir halt Gedanken. Ich wünsche mir doch einfach nur, dass es dir gut geht!“

„Mir geht es gut.“

„Mama, hast du dich mal umgesehen in den Altersheimen?“

„Ja, hab ich.“

„Und?“

„Was und? Hab ich. Ich hab mich mal umgesehen.“

„Ja, und waren welche dabei, die dir gefallen hätten?“

„Na ja, hier im Clarissenhof, da ist es nicht schlecht und das wäre auch – aber nein! Wenn, dann kommt eigentlich nur der Sonnenhof infrage.“

„Ja?“

„Ja.“

„Weißt du, ich denke halt, dann sollten wir dich dort auf die Warteliste setzen lassen. Das kann ja noch eine ganze Weile dauern. Bloß, bei Anne habe ich das gerade erst erlebt. Ihre Schwiegermutter brauchte plötzlich einen Platz und da mussten sie nehmen, was sie kriegen konnten. Da ist es doch besser, man kann wählen. Den Zeitpunkt kannst du ja dann trotzdem selbst bestimmen. Was meinst du?“

„Kann ich das?“

„Ja, Mama. So lange das geht, dass du hier bist, so lange bleibst du natürlich hier! Vielleicht finden wir ja auch eine ganz andere Lösung. Soll ich bei denen mal anrufen?“

„Wo?“

„Na, im Sonnenhof.“

„Vorher möchte ich mir den schon noch mal anschauen!“

„Sollen wir hinfahren?“

„Wann?“

„Na, jetzt. Jetzt bin ich da und habe auch Zeit. Wir können doch einfach mal hinfahren und schauen.“

„Meinst du?“

„Ja.“

„Jetzt?“

„Ja, komm, wir machen das jetzt!“

Gesagt, getan.

Beide waren wir von der Atmosphäre im Sonnenhof beeindruckt. Sie war einverstanden, dass ich mich um einen Platz auf der Warteliste bemühe. Im Eingang, erinnere ich mich, war für das Erntedankfest dekoriert.

Es war ein großer Schritt, schneller möglich geworden, als wir alle es erwartet hätten.

Erntedank – wie passend.

Perlen der Demenz

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