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Kapitel 6

Pass dich dem Schritt der Natur an: Ihr Geheimnis heißt Geduld.

Ralph Waldo Emerson

DA GIBT ES JA SO EINEN DIRIGENTEN

Ich gehe durch weiß gestrichene Flure. An den Türen kleine Postkarten auf hölzernen Briefkästen. Sie erinnern mich an die Garderobe im Kindergarten meines Sohnes. Dort hatte jedes Kind ein Tierbild unter dem Kleiderhaken und dasselbe auch an seinem Fach. Es sollte ihm helfen, sich zurechtzufinden, und wohl auch Geborgenheit vermitteln. Fühlte er sich dort etwa auch so verloren, wie ich mich jetzt hier fühle? Hoffentlich nicht! Ich fühle mich fremd. Es ist kalt in mir. Ich unterdrücke die Panik, das innere Frieren, mein Entsetzen. Ich hole tief Luft, um mir Mut zu machen.

‚Puh! Gott sei Dank hat Mama ihren Geruchssinn verloren‘, schießt es mir durch den Kopf. Es riecht nach Urin.

Ich gehe durch kalte, nichtssagende Gänge, in denen der Geruch sich in den Vordergrund drängt. Er übernimmt es auf seine Weise, die ganze Geschichte dieses Aufenthaltsortes zu erzählen.

Da, der hölzerne Postkasten mit einem Eichhörnchen und darunter der Name meiner Mutter. Ich bin total nervös. Ich öffne die Tür. Vom Flur aus geht es erst einmal in einen kleinen Vorraum, der die beiden Zimmer mit dem Bad verbindet, welches sich die jeweiligen Bewohner teilen müssen.

‚Ob es wohl immer so vernünftig ist, was Mamas Nachbarin …?‘ Tränen schießen mir in die Augen.

‚Oh, Mama‘, denke ich, während ich schon im Vorraum von ihrem Feininger empfangen werde. Das Bild erinnert mich automatisch an Papa, denn es war eines seiner Lieblingsbilder.

‚Das ist mit Sicherheit auch der Grund, warum sie es immer neben ihrer Eingangstüre hängen hat.‘

Sofort fühle ich mich zu Hause. Und just in dem Moment erklingt der Big Ben ihrer Standuhr. Schon wieder kullern die Tränen, Gott sei Dank noch im Vorraum. Ich bin tief berührt von dem heimatlichen Empfang in der Fremde. Ich warte, bis ich mich wieder gefangen habe, bevor ich anklopfe. Der Big Ben ist inzwischen verklungen. „Herein“, höre ich ihre freudige Stimme.

Ich öffne die Türe und bin überwältigt. An den Wänden hängen ihre Bilder. Ihre Kletterpflanze umspielt ihre geliebte Sixtinische Madonna, die über ihrem Schreibtisch hängt, an welchem sie sitzt und mich anstrahlt.

„Hallo, Liebes, da bist du ja!“

„Hallo, Mama.“

Meine Stimme ist noch leicht brüchig, ich ringe um Fassung.

„Schön hast du es hier. Man fühlt sich gar nicht fremd. Ganz wie bei dir zu Hause.“

„Ja, Kind, das bin ich jetzt auch. Ich bin ja jetzt hier zu Hause. Schön, dass du da bist.“

„Ja“, sage ich nur und es fehlen mir weitere Worte.

In mir tobt immer noch der Kampf, es anzunehmen. Ich schaue mich einfach erst einmal um. Schaue lange aus dem Fenster. Neben Mamas Pflanzen steht das vertraute Transparent mit dem Engel auf dem Fenstersims. Alles, was Geborgenheit vermittelt, tut meiner Seele gut.

„Ach, Mama“, sage ich, „da kannst du ja auf die Kirche schauen. Das ist ja schön! Wer hätte das gedacht, dass du hier mal so wohnst, dass du direkt aus deinem Fenster auf die …“

„Ja, Kind, das hätte wohl keiner gedacht.“

„Wie geht es dir denn hier?“

„Ach, weißt du, es hat immer alles mehrere Seiten. Es geht mir gut. Das Essen ist gut. Die Menschen bemühen sich alle, sehr nett miteinander zu sein. Sie freuen sich immer, wenn sie mich sehen. Nur, ich habe gar nichts zu tun. Nichts. Verstehst du?“

„Hm, kannst du das denn nicht genießen?“

„Nein!“, sie schüttelt den Kopf und fährt gedankenverloren fort. „Es gibt einfach nichts zu tun. Alles machen diese Schwestern, wirklich alles. Einkaufen muss ich auch nichts. Abspülen darf ich nicht. Lesen kann ich nicht mehr. Schreiben kann ich auch nicht. Nichts. Immer habe ich geschafft, was soll ich denn jetzt machen? Ach je, Kind, wie oft habe ich mir das gewünscht – und jetzt ist es eher eine Strafe. Ich bin eine Gefangene der Zeit. Schon eigenartig. – Ich geh halt immer spazieren.“

„Das ist doch schön, dass du hier so an der Donau entlanglaufen kannst“, ist alles, was mir dazu einfällt.

„Ja, ja“, sagt sie und wir schweigen eine Weile miteinander.

„Ich verstehe nicht, wie ich hier gelandet bin“, sagt sie plötzlich. „Aber Mama, weißt du das nicht mehr?“

„Nein!“

„Wir beide haben uns dieses Heim zusammen angeschaut. Dann wolltest du noch mal mit Brigitta hierher und da war doch gerade die Führung. Du hast dann direkt zugegriffen, als du gehört hast, dass das Zimmer frei ist. Wir waren alle von den Socken.“

„Ich verstehe einfach nicht, wie ich hierhergekommen bin“, wiederholt sie und ich bemerke, dass meine Worte sie nicht erreichen. „Mama, du warst es, die das entschieden hat.“

„Ich soll das gewesen sein?“

„Ja.“

„Nein, Kind, das wüsste ich. Das hätte ich nie entschieden, nie!“

Ich erschrecke und versuche weiter, ihr zu erzählen, wie es war. „Mama, für uns war es auch sehr plötzlich. Uns ging es viel zu schnell, aber du wolltest es uns wohl leichter machen.“

„Kind, rede keinen Unsinn!“

„Erinnerst du dich nicht? Es wurde doch immer schwieriger für dich, alleine zu Hause. Einmal hast du sogar vergessen, das Wasser abzustellen, welches du im Bad hast laufen lassen, um deine Gießkanne zu füllen!“

„Jetzt fängst du auch noch damit an! Nein, daran erinnere ich mich nicht. Das sagt ihr immer alle. Aber das stimmt nicht!“

„Doch, Mama, das stimmt! Wir erfinden das nicht!“

„Ach, Kind, ich verstehe es doch auch nicht. Aber das mit dem Wasser, das wüsste ich sicherlich. Wenn das einer wissen muss, dann ich. Woher habt ihr das nur? Wie kommt ihr auf eine so blöde Geschichte? Wer hat das eigentlich in die Welt gesetzt?“

Ich gebe auf, ich verstehe, dass sie sich nicht erinnern kann. In ihrem Kopf gibt es diese Verbindungen wohl nicht mehr.

Diese fehlenden Verbindungen, diese fehlenden Bezüge, sie trennen auch uns. Wie soll ich nun damit umgehen? Wie kann ich sie trösten, wie ihr helfen?

Wir schweigen.

Wir schweigen lange miteinander.

Beide bewegen wir uns zwar in derselben Geschichte und doch erlebt jeder eine andere. Wie können wir da zueinander finden?

Ich nehme ihre Hand und halte sie. Sie streicht mir mit ihrer über meine. Wie gut das tut! So sind wir doch verbunden.

Plötzlich sagt sie: „Aber weißt du, Kind, ich verstehe es nicht, ich verstehe vieles nicht mehr.“

Nach einer kleinen Weile fährt sie fort: „Aber da gibt es ja so einen Dirigenten, der das dirigiert. Ich wäre ansonsten längst schon … einfach aufgestanden und gegangen. Damals schon, als ich noch ich war.“

Perlen der Demenz

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