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Kapitel 4

Einen Teil von sich selbst dem Wind überlassen, den Fluten, dem Wasser. Abschied nehmen, sich trennen, jeden Tag ein wenig für das, was folgt.

Sarah Fröhlich

ABSCHIED

Es war ein langer Tag gewesen. Gähnend sitzt sie auf ihrem Sofa und schaut sich noch einmal genau um, saugt mit jeder Pore ein, was sie nicht loslassen mag. Sie weiß: Es ist ihr letzter Abend. Ihre Gedanken versuchen zu erfassen, was nicht zu erfassen ist.

‚Alles ist so anstrengend. Ich muss mich unglaublich konzentrieren und verstehe es dann oft nicht. Wenn ich nachfrage, wird es nur noch komplizierter. Manchmal, wenn ich denke, ich hätte es verstanden, zeigen mir die Reaktionen der anderen, dass etwas stimmt – äh, nicht stimmt. Am schlimmsten ist, dass ich gar nicht mehr weiß, ob ich es gerade verstehe oder nicht. Ich weiß dann nicht, ob ich jetzt etwas machen soll oder nicht. Ich beobachte die Gesten der Leute und verstehe selbst diese nicht. Ich bin mittendrin – und völlig isoliert. Ich will um Hilfe rufen – und weiß nicht, wie. Wie ein Vakuum, eine Käseglocke, ein gläsernes Gefängnis, aus dem ich zwar schauen kann, aber nicht heraustreten. Sie sehen und hören mich, kapieren aber nicht, was ich sage. Ich sehe sie und realisiere, dass wir uns unterhalten, aber nichts passt zusammen. Da ist dieses Vakuum, das alles schluckt und mich mit. Dann plötzlich ist es wieder weg. Puh, da bin ich jedes Mal so froh. Aber auch dann bin ich immer noch nicht die Alte – werde es wohl nicht mehr werden. Oh je, bei allem muss ich mich konzentrieren, es ist so unglaublich anstrengend.

Gut, dass Stephan alle offenen Fragen mit dem Heim klären konnte. Ich bin so froh, dass er das alles für mich macht. So froh. Er bemüht sich immer, es genauso zu machen, wie ich es gerne hätte.

Ist er unsicher, fragt er nach. Nein, ich habe schon tolle Kinder, klagen darf ich nicht. Alle sind sie auf ihre Weise da. Jeder auf seine Weise.

Wenn Almut nicht das mit dem Heim losgetreten hätte, sozusagen gerade noch rechtzeitig … Alles ging jetzt so schnell. Sicherlich ist das gut so. Auch wenn ich wünschte, sie hätte es nicht getan. Aber ich weiß ja, da gibt es so einen Dirigenten, der das alles dirigiert. Der macht das schon. Der weiß auch all das, was wir nicht wissen. Kurz und schmerzlos. Ja so mache ich das jetzt.‘

Wehmütig schaut sie sich um.

‚Oh je, schmerzlos? Ich werde dich vermissen, du liebes Zuhause. Bist du nun also meine letzte Wohnung gewesen?

Schön war’s! Danke! Du warst genau die richtige für mich.

Heute ist also meine letzte Nacht hier.

Nein! Nicht! Nicht weinen! Abschied nehmen, das habe ich doch jetzt gelernt in meinem Leben. Das ist doch wirklich nicht mehr neu. Ja, ich weiß, es gehört dazu, dennoch ist es … Oh Gott!‘

Sie wird von einem Weinkrampf geschüttelt.

‚Wie gerne, wie, wie, wie gerne würde ich hierbleiben. Oh, ihr wisst gar nicht, wie gerne ich hierbleiben würde. Nicht nur in dieser Wohnung, nein!, auch in meinem Kopf! Oh Gott …‘, heftig schüttelt es sie. Sie kann gar nicht anders, als sich ihrem Schmerz hinzugeben. Nur langsam ebbt er ab.

‚Wenn ich meine Kinder nicht hätte, ich weiß gar nicht – ah‘, sie putzt sich die Nase, ‚ja, ahhhh, ich kann ihnen vertrauen, meinen Kindern. Sie werden das schon richtig machen. Oh je, ehhhhh, warum kann ich nicht bei einem von ihnen wohnen? Nein halt, stopp! Gar nicht erst da lang. Vertrauen! Ja, ich vertraue! So ist es jetzt gekommen und so wird es nun gehen. Ich schaffe das schon. Schluss jetzt! Das ist also meine letzte Nacht hier. Genug geweint, wenn es dort dann bloß hoffentlich nicht mehr allzu lange geht. Die Menschen werden heute ja oft so alt …, oh nein! Bitte nicht! Ich bin bereit.‘

Langsam steht sie auf, streicht liebevoll ein letztes Mal über ihr Sofa, seufzt und atmet ganz tief ein, so, als könnte sie auf diese Art alles mitnehmen, was ihr lieb ist.

Nachdem sie im Bad fertig ist, geht sie ins Bett. Auch dort schaut sie sich noch einmal um. Alles ist ihr so vertraut. Ihr Blick streift über die Bilder an der Wand und bleibt schließlich bei dem Foto ihres Mannes hängen. Liebevoll strahlt dieser sie an.

‚Oh, du Lieber, komm mich bitte bald holen. Bald! Versprichst du mir das? Ich muss dir ja nichts erzählen, du bekommst ja alles mit. Bitte hilf mir bei diesem schweren Weg. Wer kennt mich besser als du? Du weißt, ich bin tapfer, mutig und fackle nicht lange. Sicher weißt du aber auch, dass ich im Moment große Angst habe. Ja, das weißt du. – Oh ja, danke für die Zuversicht, die du mir schickst. Danke, du Lieber!‘

In Gedanken singt sie das Lied.

„Wie die hohen Sterne kreisen ewig voller Harmonie.

Sollen unsres Lebens Weisen, unverwirret sein wie sie.

In dem Großen, in dem Kleinen will der Weltengott erscheinen.“

Ja, das haben wir an deinem Totenbett immer gesungen, seither lässt es mich nicht mehr los, habe es wohl fast jeden Tag gesungen. Das ist jetzt schon ein etwas größerer Kreis, nicht wahr? Und er will mir etwas weisen? Das kann ich nur hoffen! ‚Unverwirret sein wie sie‘ – dass ich nicht lache!, das ist jetzt aber eher zyklisch –, wirklich nicht lustig. Oh, Ernstaugust, muss ich das wirklich erleben? – Werde ich sie tatsächlich nicht mehr erkennen, wenn sie mich besuchen kommen? Mir bricht das Herz. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.‘

‚Am Samstag kommen sie alle, hat Gabriela gesagt. Oh je, da laufen sie schon wieder, die Tränen. Heute fließen sie einfach. Tja, das Leben fließt ja auch einfach ungefragt weiter. Ob ich will oder nicht. Alle kommen sie, stell dir vor, alle. Ist das nicht schön? Ja, Alexander ist der wichtigste Mann an solchen Tagen. Er ist so geschickt, so patent. Wir können so stolz auf ihn sein, auf alle unsere Kinder, auf alle. Gabriela zum Beispiel, oh je, ohne sie, ich wüsste gar nicht, wie ich es ohne sie geschafft hätte die letzte Zeit. Aber sie musste ja umziehen und wohnt jetzt am Galgenberg. Nein, nein! Nicht am Alten festhangen, mutig vorwärts! Schau, sie werden mir dort sogar Frühstück machen und es gibt jeden Tag etwas zu essen. Es hat doch auch was Gutes. Und dann direkt an der Donau, mitten in der Stadt. Das gefällt mir. Da kann ich leicht ins Theater oder ins Kino. Was meinst du, darf ich das denn dann überhaupt? Und wie komme ich dann wieder rein in das große Haus? Ob ich einen Schlüssel bekomme? Und wenn ich den dann verlier? Oh Gott, diese Fragen, viel zu viele Fragen. Die Frau aber, die ist wirklich nett. Die, die gesagt hat, dass ich das kriege, … das …, na, das Viereckige halt, wo ich reingehen kann. Die andere im Viereck daneben, na ja, das muss ich noch sehen, wie das wird. Die will ja die Bestimmerin sein.

Und so soll jetzt mein Lebensende aussehen? Mein Zuhause verlieren …, ja, das ist schwer, sehr schwer, aber das gehe ich mutig an! All das andere, das macht mir Angst. Ich weiß einfach nicht: Soll ich loslassen oder kämpfen? Mich loslassen? Ja, und dann? Was bleibt dann noch? Das geht doch nicht! Das kann doch keiner! Und außerdem war ich schon immer eine Kämpferin, wie du sehr wohl weißt. Grausam ist das, wirklich grausam. Wer hat denn so was erfunden?‘ Sie schaut erneut zu ihrem Mann.

‚Aber es ist doch schon ein Wink des Schicksals, dass wir dieses Zimmer so schnell bekommen haben. Das ist doch kein Zufall, oder? Doch genau, eben doch, es ist ein Zufall! Es ist mir zugefallen. Albert Einstein, nein, Schweitzer, ich glaube, es war Albert Schweitzer, sagt doch auch, ähm …, ja, genau: Zufall ist das …, na …, das Wort, ja, Wort, glaube ich … Also in jedem Fall nutzt Gott den Zufall, wenn er unerkannt bleiben will. Das hat mir schon immer gefallen. Also es soll wohl alles geholfen sein. Ja, da habe ich sie mal wieder überrascht, meine Kinder. Denen will nämlich auch geholfen sein …‘ Inzwischen ist es dunkel geworden und ihre Gedanken langsamer. ‚Ja, ja …, da habe ich sie … mal wieder … überrascht. Gut …, dass Stephan meine Finanzen … regelt …‘, langsam beginnt sie in den Schlaf zu gleiten. Dort sitzt sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern im Garten beim Sonntagsfrühstück.

‚Ach, es ist so schön hier. Hier bleibe ich jetzt. Immer. Und meine Blumen, ach, und wie herrlich die Vögel zwitschern …‘

Und während die letzten Vögel des Tages ihr Lied beenden, überlässt sie sich der Nacht und wandelt sicher durch ihre Träume.

Perlen der Demenz

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