Читать книгу Perlen der Demenz - Almut Pfriem - Страница 8

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Kapitel 1

Die Zeit und das Wasser verändern alles.

Leonardo da Vinci

WARUM?

Das Wasser fließt, unerbittlich nimmt es seinen Lauf.

‚Schön, wie der Fluss plätschert, bis hierher kann ich ihn hören, oh, wie schön …‘

Sie sitzt an ihrem Tischchen im Wohnzimmer. Die Sonne scheint durch die Gardinen.

‚Das muss ich Gabriela gleich sagen, wenn sie nachher kommt.‘

Sie schenkt sich Tee ein und strahlt. Das gluckernde Geräusch des Tees verbindet sich mit dem Plätschern des Wassers. Sie genießt die Ruhe, den Frieden und ihre Vorfreude auf den Besuch ihrer Tochter. Sie hat Zeit und Raum für ihre Gedanken. Als ihre Kinder noch klein waren, hatte sie selten Zeit für sich.

‚Schön war’s, aber oft auch viel. Ach, und mein Garten! – Jetzt habe ich zu viel Zeit. Nun ja …‘

Mechanisch steht sie auf und geht durch den Flur.

‚Komisch, seit wann ist hier Wasser? Ist das nun … – oder etwa …?

Aber nein, meine Füße sind ganz nass!‘, sie runzelt die Stirn. ‚Oder? Oh je!‘

Sie läuft auf dem Weg zum Schuhschränkchen an der Tür zum Bad vorbei.

‚Komisch!‘

Sie sieht das Wasser unter der Tür hervorquellen und öffnet sie gegen seinen Widerstand.

‚Oh je! Oh Gott, oh Gott! Hilfe! Wo kommt denn all das Wasser her? Ich weiß einfach nicht … Es ist zum Mäusemelken: so viel Wasser! Ich weiß langsam gar nichts mehr. Oh Gott, was ist bloß los hier? Was ist los mit mir? Passiert das wirklich? Oder etwa wieder nur …?‘

Sie sinkt auf den Rand der Badewanne.

‚Ich kenne mich gar nicht mehr!‘, seufzt sie. ‚Es wird mir alles zu viel, alles fließt, fließt durcheinander. Werde ich nun tatsächlich verrückt?‘ Mit großen runden Augen schaut sie auf das Wasser, welches sich wie ein Wasserfall vom Rand des Waschbeckens aus auf den Boden ergießt.

Da beginnen ihre Augen plötzlich zu strahlen.

‚Das ist aber schön, das sieht wirklich schön aus. So ein Schauspiel – nur für mich? Schön!‘

Sie sieht die volle Gießkanne unter dem laufenden Wasserhahn stehen und beobachtet, wie sich das Wasser ins Waschbecken ergießt, das bis zum Rand gefüllt ist.

‚Wie ein See‘, denkt sie.

Die Oberfläche ist ganz ruhig. Erst am Rand des Beckens gerät das Wasser in Bewegung, fällt auf den Boden des Badezimmers und bildet dort einen Fluss.

‚Ui, meine Füße stehen in dem Bach – pitsch, patsch.‘

Ihr Gesicht verdüstert sich schlagartig.

‚Werde ich jetzt wieder gefoppt?‘

Das Wasser reicht ihr schon bis zu den Knöcheln und ihre um Hilfe suchenden Augen beginnen nun ebenfalls überzufließen.

‚Und nun? Was jetzt? Ein einziges Durcheinander! So viel Wasser! Wasser, Wasser, Wasser. Ein einziges Wasser. Kennt sich hier noch irgendwer aus?‘

Völlig überfordert beobachtet sie den Lauf der Dinge.

‚Da ist keiner. Keiner, der mir helfen kann. Ich fürchte sogar, mir ist nicht mehr zu helfen.‘

Ganz langsam kommt aus der Ferne die Erinnerung:

Sie wollte die Blumen gießen und Tee kochen. Dazu hatte sie die Kanne im Bad unter den Wasserhahn gestellt und war dann in die Küche gegangen, um den Wasserkocher einzuschalten. Sie hatte die Tasse auf den Tisch gestellt …

‚Oh Gott! ICH HAB’S VERGESSEN! Ich hab die Gießkanne vergessend!‘

Leben kehrt zurück in ihre Glieder, gepaart mit Angst. Schnell läuft sie in die Küche und holt eine Schüssel. Neben der Badewanne kniet sie sich ins Wasser und beginnt es in die Wanne zu schöpfen.

‚Gott sei Dank, jetzt kenne ich mich wieder aus. Nein, nein! Ich brauche keine Hilfe. Ich schaffe das schon! Ich schaffe das auch alleine. Ihr werdet es alle sehen. Ich kann es euch allen beweisend!‘ Sie schöpft um ihr Leben, schöpft um ihre Freiheit, schöpft um ihre Selbstständigkeit, schöpft um ihre Selbstachtung.

‚Wäre ja gelacht, ich habe schon so viel geschafft! Das muss mir erst mal einer nachmachen! Das schaffe ich jetzt auch noch!‘

Und sie schöpft.

‚Warum soll ich das jetzt plötzlich nicht mehr schaffen?‘

Nach einer Weile, als sie tapfer Schüssel für Schüssel geschöpft und in die Badewanne geleert hat, braucht sie eine Pause.

‚Ja, jung bin ich nicht mehr‘, denkt sie, ‚alles ist so anstrengend. Aber ein kluges Köpfchen war ich doch immer. Wo soll denn plötzlich all die Klugheit hin?‘

Sie schöpft weiter und denkt an ihren verstorbenen Mann.

‚Ach Schatz, da kannst du froh sein. Wie gerne wäre ich schon bei dir! Du fehlst mir so! Es war so schön. Endlich die Kinder aus dem Haus und du in Rente: Es war so ruhig und friedlich. Wir haben es so genossen! Musstest du wirklich so früh gehen? Gerade, als es so schön war? Und ich? Ich bin immer noch da – alleine!‘

Sie schöpft und schöpft.

‚Keiner hilft mir. Ich wollte doch vor dir gehen. Oh je, ich warte schon so lange. Nimmt das denn gar kein Ende? Ist das anstrengend! Bald kann ich nicht mehr.‘

Einen Schöpfer nach dem anderen schüttet sie in die Wanne.

‚Das kann doch gar nicht sein, ich glaube, es wird gar nicht weniger.‘

Sie nimmt all ihre Kräfte zusammen und schöpft entschlossen weiter.

‚Ich schaffe das! Ihr werdet sehen! Bis Gabriela kommt, ist alles wieder picobello: nichts mehr zu sehen!‘

Sie spürt deutlich, dass ihre Kräfte schwinden, und spricht sich selbst Mut zu.

„Schöpfer für Schöpfer, nicht aufgeben, Polly! Nicht aufgeben! Du schaffst das schon!“

Doch Angst beginnt sich ihrer wieder zu bemächtigen.

‚Vielleicht ist Benedict zu Hause? Den Teppich müssen wir auch zum Trocknen auf den Balkon hängen. Das kann ich nicht alleine. Also muss ich es doch erzählen. Was ist das nur? Das Wasser wird gar nicht weniger! Ich verstehe das Wasser nicht mehr …‘

Ihre Augen beginnen erneut zu strahlen.

‚Schön, so viel Wasser!‘

Sie hält inne, lässt ihre Finger lange versonnen durchs fallende Wasser gleiten.

Plötzlich ein Ruck.

‚Ich schaffe das! Ich, die ich immer alles gemanagt habe, ich werde wohl die Welt wegwassern können!‘

Sie schöpft wieder. Schöpft und schöpft, bis sie heulend zusammenbricht.

‚Ich kann nicht mehr, ich schaffe es nicht. Ich verstehe es einfach nicht. Oh, was für ein dusseliges Ende, ich schäme mich so! Muss das wirklich sein? Gibt’s da keinen anderen Weg? Warum nur, warum?‘

„Hol Hilfe“, hört sie eine Stimme in ihrem Innern. „Du musst jetzt Hilfe holen!“

‚Dann muss ich das wohl.‘

Sie legt die Schüssel beiseite.

Auf ihre innere Stimme konnte sie sich schon immer verlassen, das hatte sie gelernt. Ein Lachen, sie hört ein hämisches Lachen.

„Deine innere Stimme?“

Erneutes Gelächter.

„Kannst du bei all den Stimmen, die du hörst, überhaupt noch unterscheiden, welche davon deine innere Stimme ist?“

Entsetzt schlägt sie die Hände über ihrem Kopf zusammen.

Das Wasser läuft und läuft und will nicht enden. Das Leben läuft und läuft und will nicht enden. Es steht ihr bis zum Hals, beginnt ihr über den Kopf zu wachsen.

Verzweifelt greift sie zum Telefon.

„Bene? Gut, dass du da bist! Ich brauche dich.“

„Ja, Oma, Mama kommt ja nachher zu dir.“

„Nein, jetzt! Ich brauche JETZT Hilfe. SOFORT!“

„Oma, was ist denn?“

Sie ringt um Worte und bekommt keinen vernünftigen Satz mehr heraus.

„Wasser viel, komm viel! Komm bitte viel! Äh, nicht schnell. Viel!“

„Ich bin gleich da, Oma!“

Nur wenige Minuten später ist er da.

„Oma! Was machst du denn?“

Hilflos schaut sie ihn an.

„Ich weiß auch nicht, ich verstehe das Wasser nicht mehr!“

Tränen füllen ihr Herz. Benedict sieht nur ihr ausdrucksloses Gesicht. Er rennt ins Bad.

„Ich habe geschöpft und geschöpft, ich konnte nicht mehr, es wurde einfach nicht weniger, es hört nicht … – es will einfach nicht aufhören!“

Er dreht den Wasserhahn zu.

„Ja, Oma, da musst du schon den …“

Er stockt, soll er es ihr überhaupt sagen?

„Ach, Oma, ich mach das schon! Ich helfe dir jetzt, okay? Leg du dich erst mal hin, du bist ja völlig fertig!“

„Ja, ich bin ganz erschöpft. Überall Wasser. Wo kommt die Welt bloß her? Ich versteh’s nicht. Durcheinander, alles durcheinander. Warum nur? Warum?“

Perlen der Demenz

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