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Kapitel 10

Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Dort können wir einander begegnen.

Rumi

EIGENWILLIGES RÄDERWERK

Und tatsächlich, ein paar Tage später stehe ich vor dem Esslinger Krankenhaus und warte auf meine Schwester und meine Mutter. Irgendwie geht heute alles schief. Von Lydia konnte ich mich bis jetzt nicht verabschieden und Gabriela kommt und kommt nicht.

Meine Nerven sind gespannt bis zum Zerreißen. Ausgerechnet heute hat Lydia eine Untersuchung nach der anderen. Ich stehe hier und kann nicht weg und Bernie steht weiter vor ihrer Tür und wartet. Hoffentlich durfte er inzwischen zu ihr. Hier verrinnt die kostbare Zeit, die ich dort so gerne hätte.

‚Sie ist so tapfer! Bis sie begreifen wird, was da passiert ist, dauert es allerdings noch seine Zeit.‘

„Die sollen mir Tabletten geben, dass das weggeht“, sagt sie immer wieder, wenn sie bemerkt, dass sie ihren Arm und ihre Hand nicht bewegen kann. Genau umgekehrt wie bei Mami‘, denke ich. Sie meidet ja Medikamente, wo sie nur kann. Ah, da kommen sie ja endlich.‘

„Hallo, Mama, da bist du ja!“

Ich umarme sie stürmisch, sie lässt es über sich ergehen und schaut mich nur mit ganz großen Augen an.

„Hallo.“

„Hallo, Schwesterherz“, wende ich mich zu Gabriela. „War nicht leicht zu finden, oder? Irgendwo müsst ihr euch verfahren haben.“

„Hallo, ja, irgendwo auf der Schnellstraße muss ich die Abfahrt verpasst haben, ich weiß auch nicht. Ich bin so froh, dass wir endlich da sind! Erzähl, wie geht es Lydia?“

„Oh, so auf die Schnelle kann ich das kaum sagen, aber den Umständen entsprechend geht es ihr gut. Erst einmal sind wir froh und haben uns alle von dem Schock erholt. Sie ist rechtsseitig gelähmt, das Sprachzentrum ist, Gott sei Dank, nicht betroffen, allerdings spricht sie dennoch sehr verwaschen und hat auch mit dem Schlucken Schwierigkeiten.

– Oh, Mama, was machst du denn? Warum sagst du denn nichts?“ Gabriela und ich schauen ungläubig auf das Geschehen.

Mama steht hinten neben dem Auto, breitbeinig, und schaut uns nur mit großen runden Augen hilflos an, während es unter ihrem Rock plätschert. Sie sagt gar nichts. Es ist ihr sichtlich unendlich peinlich. Wir tauschen einen kurzen erschrockenen Blick. Ich schlucke und ringe um Fassung.

„Ach, Mama, entschuldige, wir plaudern da und haben ganz vergessen zu fragen, ob du aufs Klo musst. Lass mal sehen … Tja, du bist doch eine wahre Künstlerin. Das mit dem Rock hast du wunderbar hingekriegt, der ist fast ganz trocken geblieben, super!“

Ich staune über meine Worte, bin froh, dass sie mir eingefallen sind, und bin gleichzeitig total gefordert. ‚Wo gibt es denn so was‘, denke ich, ‚lässt einfach los. Warum hat sie nicht gesagt, dass sie aufs Klo muss? Na, da bin ich ja gespannt, was da jetzt auf mich zukommt. Mann, die Arme! Dieser plötzliche Urlaub in Frankreich. War das wirklich eine gute Idee oder überfordere ich sie damit?‘

Sie schaut mich nur mit Kulleraugen an wie ein kleines Kind. „Komm“, sage ich, „während ich dein Gepäck in unser Auto bringe, kannst du doch mit Gabriela im Parkhaus schnell eine neue Unterhose anziehen.“

„Ja, gute Idee!“, sagt Gabriela. „Halt, Mama! Warte bitte auf mich!“, doch Mama läuft einfach weiter. Gabrielas Worte erreichen sie nicht.

„Hier Almut, der Schlüssel“, sagt diese nur und springt hinterher.

Ich nehme ihr Gepäck und gehe damit zu unserem Auto. Als ich zurückkomme, sieht Mama deutlich erleichtert aus. Sie strahlt mir entgegen, scheint aber immer noch überfordert zu sein.

„Da kommt sie ja!“, höre ich sie erleichtert rufen.

„Ja, da bin ich. Sag, hast du alles?“

„Ich habe immer alles, mir fehlt nichts. Können wir los?“

Diese plötzlichen Stimmungswechsel erstaunen mich immer wieder. „Langsam, langsam Mama! Gabriela, gibt es noch irgendetwas, was ich wissen muss?“

„Es gibt einen Plan für die Medikamente, nach dem sollst du dich richten. Den Rest kriegst du hin. Eure Telefonnummer habe ich ja und falls du Fragen hast, ruf mich an. Wie geht das jetzt mit Lydia weiter?“

„Ganz genau weiß ich es auch noch nicht. Also im Moment bleibt sie erst einmal hier in der Klinik, bis ein Platz in der Reha frei wird. Wie es dann weitergeht, werden wir sehen. Wir haben also in jedem Fall noch ein paar Wochen, um ihr Zuhause entsprechend umzurüsten. Es sieht so aus, als ob sie es schaffen kann, wieder zu Hause zu wohnen. Wir hoffen das natürlich sehr! Und bei dir? Wie sieht es da aus?“

Sie strahlt und sagt: „Ach, lass uns in Ruhe telefonieren, wenn ihr in La Coume seid, okay?“

Sie umarmt Mama und wechselt noch ein paar Worte mit ihr. Mama hält Gabriela an den Händen fest, lässt sie nur ungern gehen. Gabriela ist im Moment einfach ihr größter Halt.

„Fahr vorsichtig, Kind, pass auf dich auf!“, höre ich sie sagen, „und danke für alles.“

Schließlich stehen wir nebeneinander am Straßenrand und winken Gabriela.

„So, und jetzt ab nach Frankreich!“, sage ich.

Sie strahlt mich an.

„Ja! Wo ist eigentlich dein Mann?“

„Der ist noch bei seiner Mama. Da drin, im Krankenhaus. Den hole ich jetzt und du kannst so lange einen Kaffee trinken.“

Sie hakt sich bei mir ein und läuft verunsichert, aber mutig mit. „Schau mal, Mama, da ist die Cafeteria und das ist doch ein schöner Platz, hier unter dem Baum. Da kannst du den Amseln zuschauen. Ich gehe nur schnell mich von Lydia verabschieden und komme dann gleich wieder. Ist das okay?“

Sie nickt nur, setzt sich und schaut sich vorsichtig um.

„Magst du Kuchen oder einen Kaffee?“

„Oh ja, gerne einen Kaffee.“

„Gut, bringe ich dir.“

Als ich am Tresen stehe, beobachte ich sie.

‚Sie sieht so verängstigt aus, so unsicher. Ist das dieselbe Frau? Ist das meine Mutter? Früher ist sie umhergereist, hat Vorträge gehalten, stand mutig vor Menschenmengen, in Whyl zum Beispiel bei der Anti-AKW-Bewegung. Ja, sie war eine richtige Kämpferin.‘

„Bitte?“

„Einen Kaffee bitte und diesen Rhabarberkuchen.“

‚Jetzt sitzt sie da so unsicher. Kann ich sie wirklich alleine lassen? Was für eine doofe Zwickmühle‘, denke ich und bringe ihr, nachdem ich bezahlt habe, Kuchen und Kaffee.

„Hier, Mama, bitte schön.“

„Oh, danke.“

„Ich geh jetzt kurz Bernie holen, bin gleich wieder da. Bitte lauf nicht weg! Wir treffen uns dann hier wieder. Warte bitte unbedingt hier, bis ich wieder da bin. Okay? Ich sage nur kurz Lydia auf Wiedersehen.“

Sie beginnt wortlos den Kuchen zu essen.

Möglichst unauffällig bitte ich ein Ehepaar am Nachbartisch, ein Auge auf Mama zu werfen, und erkläre kurz die Situation.

„Ja, selbstverständlich, das machen wir.“

‚Gott sei Dank!‘, denke ich und schaue noch mal kurz zurück. Sie nimmt keine Notiz mehr von mir, sitzt da und trinkt verloren ihren Kaffee. Ich spurte zu Lydia. Was für eine Odyssee! Da steht Bernie …,NEIN!‘, – noch immer vor der Türe.

„Warst du immer noch nicht drin?“

„Doch, vorher, aber nur kurz. Im Moment wird jetzt der Nachbar untersucht. Wo ist deine Mama?“

„Sie sitzt in der Cafeteria und mir ist gar nicht wohl dabei. Ein Ehepaar am Nachbartisch hat mir versprochen aufzupassen. Meinst du, wir müssen noch lange warten? Gibt es Neuigkeiten?“

„Nein, nicht wirklich.“

„Wie geht es ihr?“

„Gut so weit.“

„Weiß Lydia schon, dass wir wieder fahren?“

„Nein, noch nicht.“

‚Okay, dann müssen wir da nun auch noch durch‘, denke ich.

Die Türe geht auf.

„Gott sei Dank!“

Eine Schwester verlässt den Raum und macht eine abwehrende Handbewegung.

„Oh nein, Bernie“, sage ich entmutigt, „könntest du zu Mama gehen? Ich warte hier und hole dich dann, wenn wir hineinkönnen. Ich bin so unruhig und Mama freut sich sicher, dich zu sehen.“

„Ja, kann ich machen, aber weißt du, es geht sicher nicht mehr lange.“

„Also gut, wir warten noch zwei, drei Minuten, aber dann müssen wir echt nach Mama schauen.“

Er nimmt mich in die Arme.

„Beruhige dich erst einmal, du bist ja völlig durch den Wind.“

‚Oh, tut das jetzt gut, nur nicht heulen, ich könnte echt heulen!‘

„Sie dürfen jetzt rein.“

‚Oh, Gott sei Dank!‘

Lydia liegt mit leicht angestellter Kopflehne im Bett. Sie strahlt, als sie uns sieht. Nachdem ich mich ein wenig erkundigt habe, wie es ihr so geht, sage ich:

„Lydia, weißt du, wir warten schon ganz lange draußen vor deiner Türe. Jetzt haben wir gar nicht mehr viel Zeit.“

„Wie, warum?“

„Ja, wir wollen heute noch zurück nach La Coume fahren, weißt du.“

„Ach nein, bleibt doch noch ein wenig da“, nuschelt sie erschöpft. ‚Wie mir das jetzt schwerfällt! Ist das echt in Ordnung, sie hier so zurückzulassen?‘, frage ich mich. Aber dafür ist es jetzt schon zu spät. Jetzt müssen wir da durch, es hilft alles nichts.

‚Wenn Mama nicht schon da wäre, würden wir mit Sicherheit noch einen Tag dranhängen‘, denke ich und sage:

„Weißt du, wir haben noch eine so lange Fahrt vor uns.“

„Aha.“ Sie ringt mit den Tränen.

„Komm, lass dich umarmen. Sei tapfer und mach weiter so mit deiner Hand, das machst du toll. Du brauchst jetzt Geduld, aber das wird wieder besser. Du musst nur viel üben.“

Sie weint. Es ist jetzt hart – nicht nur für sie.

„Ihr könnt mich doch hier nicht alleine lassen!“

„Schau, wir lassen dich doch nicht alleine. Da sind all die netten Pfleger und Schwestern und Gisela und Rainer kommen dich auch besuchen. Tschüss, du Liebe, bis bald“, sage ich und drehe mich abrupt zu Bernie um.

„Ich gehe schon mal vor.“

Ich schaffe es gerade noch, das Zimmer zu verlassen, bevor mich ihre Tränen anstecken.

‚Armer Bernie, jetzt hat er den Schwarzen Peter, das fällt ihm sicher gar nicht leicht. Puh, Scheiiii…benkleister! Das ist echt eine bescheuerte Situation. Hätten wir nur Mama noch nicht hier. Warum ist das nur so ein doofer Tag? Das hätte alles so entspannt sein können! Wie ich diese Zerreißproben hasse!‘

Es gibt Momente im Leben, da versucht der Verstand verzweifelt die Oberhand zu gewinnen über die Brandung der Gefühle. Das ist so einer. Ich funktioniere irgendwie nur noch, während in mir die Wellen brechen. Mechanisch schaue ich auf die Uhr.

‚Heute ist es ein eigenwilliges Räderwerk‘, denke ich.

‚Jedes Rad dreht sich anders als erwartet und ich kann nur versuchen, mich irgendwie mitzudrehen, muss die Unruhe aushalten, die Angst, ein Rad zu verlieren. Hoffentlich sitzt Mama noch in der Cafeteria!‘

Perlen der Demenz

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