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Kapitel 8

Je mehr wir das Glück zu greifen versuchen, umso schneller läuft es uns davon.

Unbekannt

RICHTIG GLÜCK GEHABT

Wir sitzen bei Gabriela am Frühstückstisch, die Sonne scheint und ich freue mich, dass wir endlich mal wieder in Ruhe zusammensitzen können.

„Ruf doch kurz die Mama an, damit sie Bescheid weiß. Sicher wartet sie schon“, sagt Gabriela, während sie Kaffee aufgießt.

‚Kann man vielleicht irgendwann einfach in Ruhe zusammensitzen und sich treiben lassen?‘, denke ich genervt und sage:

„Mache ich dann nachher.“

„Nein, nicht nachher, mach’s gleich. Weißt du, sie kriegt das einfach nicht mehr auf die Reihe. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft sie bei mir anruft …“

Da klingelt das Telefon.

„Das ist sie bestimmt schon.“

Tatsächlich, auf dem Display steht „Mama“.

„Hallo, Mama, guten Morgen“, sage ich.

„Was, guten Morgen. Der ist schon lange um“, sagt sie und ihr Tonfall verheißt nichts Gutes.

„Wartest du schon?“

„Ja, aber nicht mehr lange!“

„Mama, ich habe dir doch gesagt, dass wir nach dem Frühstück …“

„Frühstück ist schon lange um.“

„Bei dir vielleicht, aber wir sitzen hier noch beieinander und …“

„Ja, dann habt’s mal gut.“

„Mama! Nicht auflegen! Warte mal!“

„Was? Worauf?“

„Hast du eine Uhr, die du gerade sehen kannst?“

„Ja, habe ich.“

„Wie viel Uhr ist es da gerade?“

„Zehn vor neun!“

„Okay, was hältst du davon, wenn wir uns nachher um 10.30 Uhr treffen?“

„Um 10.30 Uhr erst? Das hättet ihr mir auch gleich sagen können!“

„Entschuldige Mami, weißt du, unsere Zeit ist wohl anders als deine. Ich dachte, ich hätte es dir so gesagt.“

„Also ihr kommt jetzt immer noch nicht?“

„Doch, Mama, wir kommen!“, inzwischen bin auch ich genervt. Gabriela streckt mir die Hand entgegen. Erleichtert gebe ich ihr den Hörer.

„Mami?“

„Ja.“

„Guten Morgen, Mami, gerade wollten wir dich anrufen, du warst mal wieder einfach schneller!“

„Ja?“

Ihre Stimme schwingt einen Halbton höher.

„Ja“, fährt Gabriela fort, „gerade haben wir an dich gedacht und wollten anrufen. Wir haben besprochen, wie wir es machen könnten. Lass mich mal überlegen …“

„Ja, was soll ich denn jetzt machen?“, der halbe Ton höher scheint noch nicht gesichert.

Gabriela überlegt angestrengt.

„Wenn du noch ein klein wenig warten könntest, dann können wir uns sozusagen entgegenlaufen. Dann treffen wir uns an der Stadtmauer. Wir kommen von der einen Seite und du von der anderen. Das wäre doch schön, oder?“

„Ja, das ist schön!“, die Tonlage hat sich um einen ganzen Ton nach oben verlagert und scheint nun gesichert. Alle atmen wir erleichtert auf. „Ja, dann setze dich doch noch ein wenig in deinen Stuhl und döse. Wir rufen dich dann an, wenn wir loslaufen.“

„Ja, also in den Stuhl sitzen?“, deutlich ist da wieder Unsicherheit spürbar.

„Ja, Mama, am besten du setzt dich jetzt sofort in den Stuhl.“

„Okay.“

„Sitzt du?“

„Wo?“

„Na, in deinem Stuhl!“

„Was, du sitzt in meinem Stuhl?“

„Nein, Mama, ich frage dich, ob du in deinem Stuhl sitzt!“

Ich überlege mir gerade, ob ich auf unser schönes Frühstück verzichte und zu ihr fahre …

„Ja, warum?“

„Ja, dann bleibe da sitzen und höre mir jetzt noch mal gut zu. Also, du bleibst jetzt in dem Stuhl sitzen, bis ich dich wieder anrufe.“

„Okay, ich bleibe sitzen, bis du mich anrufst.“

„Ja, genau, und jetzt kannst du das Telefon auflegen, also auf den roten Knopf drücken.“

„Roter Kno…“, hören wir gerade noch, bevor es knackt.

„Tja, jetzt können wir nur hoffen“, sagt Gabriela.

Ich bin innerlich inzwischen ganz nervös, will am liebsten sofort zu ihr. Gabriela sagt bestimmt: „Nein, Almut, das ist jetzt unsere Frühstückszeit. Weißt du, das ist jeden Tag so. Das ist gerade mein ganz normaler Alltag. Jetzt möchte ich aber einfach nur mit euch frühstücken, darauf habe ich mich so gefreut.“

Mich bewegt das alles sehr, sowohl Mamas als auch Gabrielas Situation.

„Ja dann …“, sage ich zögerlich.

Schließlich kommt sie uns tatsächlich entgegen in Mantel und Hut. Unverkennbar. Als sie uns entdeckt, strahlt sie voller Freude. Da steht sie, klein, eindeutig alt und dennoch so aufrecht, hebt ihren Kopf und studiert Bernies Gesicht, welches mindestens drei Stockwerke höher angesiedelt ist.

„Da seid ihr ja endlich! Schön, dass du mich auch mal besuchen kommst!“, sagt sie und macht eine ungeduldige Geste mit den Armen.

‚Na, komm schon, nimm die alte Mutter deiner Frau in die Arme‘, scheint sie zu sagen.

Bernie strahlt und drückt sie fest. Jetzt bin ich abgemeldet, nur ein kurzer Kuss, dann schlendern die beiden Arm in Arm vor uns her. Und es freut mich, sie so vertraut miteinander erleben zu dürfen. Immer wieder staune ich darüber, immer wieder rührt es mich. Gabriela und ich schlendern glücklich Arm in Arm hinterher.

Im Restaurant nimmt Bernie Mama ihren Mantel ab und während er diesen an die Garderobe hängt, fällt sie um.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie nach hinten fällt, ihre Arme gehen dabei nach oben wie die einer Tänzerin. Es ging alles so schnell, dass jeglicher Versuch, ihren Fall zu verhindern, zu spät kommt. Ich weiß nicht, wie, aber wieder einmal ist sie elegant und so leicht gefallen wie eine Fee.

„Oh, Mama!“

Sofort bin ich bei ihr.

„Ja?“

„Hast du dir wehgetan?“

„Ach, i wo. Hilf mir auf“, sagt sie ungeduldig und winkt mit ihrem Arm.

Kurz darauf sitzt sie bei uns am Tisch. Die Aufregung hat sich gelegt. Auch die Bedienung ist wieder beruhigt und auf dem Weg, ein Wasser für Mama zu holen.

„Ja, ja, Kinder“, sagt Mama, „das Leben ist witzig bis dorthinaus, aber sehr schmerzhaft. Immer wieder musste ich lernen dem Glück zu vertrauen, es rennt nämlich davon, wenn man es zu greifen versucht. Ich erzähle euch mal was: Erst kürzlich … In mir war da ein Wirbel nach unten und als dann wieder Licht war, denn der Wirbel führte ins Dunkel, da lag ich am Boden. Ich lag also eine ganze Weile dort. Als schließlich ein junger Mann um die Ecke bog und mich da liegen sah, fragte er erschrocken: ‚Was machen Sie denn da?‘

‚Ich warte auf Sie, damit Sie mir aufhelfen‘, habe ich geantwortet.“ Sie lacht. Wir zwar auch, doch es reicht nicht, um meinen Schreck wirklich abzuschütteln.

‚Bin ich froh, dass der junge Mann da um die Ecke kam‘, denke ich. Schließlich bezwinge ich meine Sorgen und staune über ihre Gabe, aus einer Maus keinen Elefanten zu machen – oder ist es vielleicht doch umgekehrt? Während in mir die Maus und der Elefant sich ihre Plätze streitig machen, strahlt Mama und sagt verschmitzt: „Da habe ich doch, wenn man genau hinsieht, mal wieder richtig Glück gehabt, gell?“

Perlen der Demenz

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