Читать книгу Perlen der Demenz - Almut Pfriem - Страница 18

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Kapitel 11

Die wirkliche Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erforschen, sondern darin, altes mit neuen Augen zu sehen.

Marcel Proust

WIE LANGE NOCH?

Dem Himmel sei Dank, da sitzt sie mitten im Trubel und schaut sich nervös nach allen Seiten um.

„Hallo, Mama, da bin ich wieder“, sage ich erleichtert.

„Gott sei Dank!“, atmet sie auf.

Das Paar am Nachbartisch lächelt mir freundlich zu, als ich mich mit einem Kopfnicken bei ihnen bedanke.

„Wo ist Bernie?“, fragend schaut sie mich an.

„Weißt du, Bernie möchte sich noch in Ruhe von Lydia verabschieden, er kommt gleich. Es ist gerade nicht leicht für ihn, seine Mama hatte doch einen Schlaganfall.“

„Oh, aha, na, dann braucht sie euch doch jetzt!“

„Ja und nein. Weißt du, wir waren die letzten drei Tage bei ihr. Jetzt übernimmt Bernies Schwester Gisela wieder.“

„Ach so“, sagt sie nur und auch ich schweige.

Das Räderwerk scheint sich zu beruhigen.

Kurz darauf kommt Bernie.

Sie steht sofort auf und will ihn umarmen.

„Oh, langsam, lass mich erst mal die Tasse abstellen“, sagt er, stellt seinen Kaffee auf den Tisch und nimmt Mama in die Arme. „Hallo, liebe Paula, schön, dass du da bist. Hattest du eine gute Fahrt?“ Beide strahlen sich an – wie immer, dann setzt er sich müde an den Tisch.

„Fahren wir jetzt?“, fragt sie ungeduldig.

„Gleich, lass mich noch kurz den Kaffee trinken und eine kleine Pause machen, okay?“

„Ja, klar. Pause machen, das ist wichtig! Vor allem für den Fahrer! Du bist doch der Fahrer, oder?“

„Ja.“

Ich sehe, dass auch er gegen die Brandung der Gefühle kämpfen muss, und frage mitfühlend:

„Wie hat Lydia es aufgenommen?“

„Sie weint“, sagt er nur.

„Wir hätten doch noch ein paar Tage bleiben sollen“, gebe ich schuldbewusst zu Bedenken.

„Nein, in ein paar Tagen wäre es auch schwer für uns gewesen. Wir können ihr nicht wirklich helfen und Gisela und Rainer sind ja da. Passt schon! Wir machen jetzt Urlaub“, sagt er und sein Gesicht hellt sich dabei ein wenig auf.

„Ja, in Frankreich, Urlaub, das machen wir!“, sagt Mama und steht sofort wieder auf.

„Okay, Mama, wir holen schon mal Proviant für die Fahrt. Ist das eine gute Idee?“, frage ich und biete ihr meinen Arm an.

„Bleibt doch noch ein wenig sitzen“, bittet Bernie uns.

‚Wie recht er hat!‘, denke ich, als wir uns wieder gesetzt haben.

Ja, es tut uns gut, beieinander zu sein und erst mal einfach nur in der Ruhe anzukommen.‘

Die Zahnräder beginnen wieder ineinanderzugreifen.

„Gehen wir jetzt endlich?“, fragt Mama schließlich.

„Ja, wir gehen.“

Wir nehmen sie zwischen uns, sie freut sich jetzt richtig und wird fast ein wenig übermütig.

Wir schauen uns an und lächeln.

Kurze Zeit darauf sind wir endlich auf der Autobahn.

‚Endlich weg da. Gott sei Dank sind wir jetzt endlich weg da!‘, denkt sie. Bei Bernie und Almut fühle ich mich wieder sicher. Diese vielen Menschen, diese vielen, vielen Menschen und ich weiß ja nie, was wirklich gespielt wird. Ich bin schon so aufgeregt. Frankreich. Papi, denk dir: Frankreich! Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind.‘ Sie schaut aus dem Fenster und fragt:

„Wie lange noch?“

„Wenn wir Glück haben vier Stunden“, antwortet Bernie, „kann aber auch länger werden.“

„Oh, aha. Ist Frankreich so weit?“, murmelt sie und verliert sich wieder in ihren Gedanken.

‚Oh ja, wie früher, da haben die Kinder das auch immer gefragt, erinnerst du dich, Ernstaugust? Ja, und du bist auch so schön ruhig gefahren – wie Bernie heute. Nur sitze ich jetzt hinten und Almut vorne.‘

„Sitzt du gut dahinten, Mama? Du kannst gerne auch vorne sitzen, wenn es dir lieber ist“, hört sie da ihre Tochter.

‚Kann die Gedanken lesen?‘, fragt sie sich und antwortet:

„Nein, nein. Ich sitze gerne hier hinten. Du musst vorne deinen Mann …, äh – hüten, dass er nicht einschläft. So habe ich das auch immer gemacht, weißt du noch?“

„Ja, Mami, das weiß ich noch und dann hast du Papi das Brot immer so in den Mund geschoben, dass er nur noch abbeißen musste, also weiterhin auf den Verkehr achten konnte. Ja, ja, das weiß ich noch gut.“

„Und weißt du auch noch, dass ihr immer gefragt habt: ‚Wie lange noch?‘ “

„Stimmt, so wie du jetzt. Wie sich die Dinge doch wandeln, wer hätte das gedacht, was wir so alles miteinander erleben.“

„Ja, Kind, wie recht du hast.“

Versonnen schaut sie auf die Landschaft, die in der Abenddämmerung zu versinken beginnt, und denkt:

‚Sie ist überhaupt eine ganz Schlaue, das war sie schon immer. Ein richtig kluges Köpfchen. Das hat sie aber nicht davor bewahrt, in ihrem Leben auch ganz schön Achterbahn fahren zu müssen. Mei o mei, das war richtig schlimm. Richtig schlimm war das, was sie da alles hat aushalten müssen – wir alle! Alle haben wir mitgelitten. Mei – und lange habe ich mir Sorgen um sie gemacht, lange! Das sah mal richtig düster aus. Und jetzt geht es ihr so gut, hat sie einen so lieben Mann. Oh, wie mich das freut!‘

„Schau“, sie sieht den Finger ihrer Tochter nach draußen zeigen, „da vorne ist die Grenze.“

„Oh, wie schön.“

„Was hast du gesagt? Ich versteh dich hier vorne so schlecht.“

„Sind wir gleich da?“

„Nein, immer noch nicht, erst mal einfach nur in Frankreich. Wir haben jetzt ungefähr die Hälfte. Es geht also noch mal zwei Stunden.“

„Das hat Bernie vorher doch schon gesagt.“

„Nein!“, wirft dieser ein. „Vier Stunden habe ich gesagt, vier, jetzt sind es nur noch zwei.“

„Das sind aber komische vier Stunden, wenn das jetzt immer noch mal so lange geht. Zwei sind doch noch mal so lange? Das geht doch gar nicht. Zwei sind noch mal so lange. Da stimmt doch was nicht, wenn zwei noch mal so lange ist, dann hört das ja nie auf. Das halt ich nicht aus!“

„Doch, Mama, das hört schon auf. Zwei und zwei macht vier und länger als vier dauert es nicht. Mach doch ein Nickerchen! Hast du dein Nackenkissen? Schau, neben dir liegt es. Der Tag war heute sehr aufregend, morgen wird es dann viel besser.“

Sie antwortet nicht mehr, überlässt sich lieber ihrer Gedankenwelt. ‚Vier! Länger als vier dauert es nicht und zwei ist morgen besser. Ja, der Tag heute ist vielmal lang. Da hat sie recht – und zweimal aufregend. Erst kam Gabriela nicht, kam und kam nicht. Ich habe gewartet und gewartet und schon gedacht, dass alles wieder falsch ist, dass ich doch nicht nach Frankreich darf. Als Gabriela endlich da war, hat sie alles wieder ausgepackt. Klar, nichts mehr, nichts mehr mache ich richtig. Alles wissen die besser. Immer! Das ist schon … zum Mäusemelken! Und dann der Stress im Auto: Mensch, Mama, sei doch einfach mal still, glaube mir, du kannst mir im Moment am besten helfen, wenn du einfach ganz still bist. Ich muss mich jetzt konzentrieren. Da habe ich dann nichts mehr gesagt. Das mit dem Klo hätte ich aber wieder sagen sollen. Keine Ahnung, die haben keine Ahnung, wie das ist! Nee, das kann keiner wissen, das musst du schon selbst erleben. Und als Gabi dann weg war, wurde es ja erst richtig schlimm. Da alleine in diesem Kaffee, ganz alleine! Alle haben sie auf mich geschaut – und auf meinen Rock. Almut hat zwar gesagt, dass er trocken ist, ich hab’s aber doch gespürt, dass er nass war. Alle haben auf meinen Rock geschaut und ich musste so tun, als ob das alles ganz normal ist. Und ich weiß doch, dass ich nicht mehr so richtig normal bin. Und da lässt die mich einfach alleine sitzen. Weglaufen konnte ich nicht. Dableiben wollte ich aber auch nicht. Das war total schrecklich, noch viel schlimmer als das ewige Warten im Heim.‘

Nervös ruckelt sie hin und her und fragt ganz verzweifelt:

„Wie lange noch? Ich kann jetzt wirklich nicht mehr! Das war jetzt alles schrecklich genug!“

„Was war schrecklich?“

„Alles!“

„Ach, Mama, jetzt sind es keine zwei Stunden mehr.“

„Was, immer noch zwei Stunden?“

„Nein, keine zwei Stunden mehr, also weniger als zwei, also ein bisschen mehr als anderthalb Stunden.“

„Was jetzt? Keine, weniger, ein bisschen mehr? Nur vier Kilometer habt ihr gesagt und jetzt sind es immer noch keine zwei, ein bisschen mehr, weniger als – was jetzt?“

„Nein, Paula, nicht vier Kilometer, vier Stunden habe ich gesagt …“

„Ja, ja, eure komische Vier … Was auch immer eure Vier ist, meine Vier ist ganz anders.“

„Schau doch mal, Mama, da draußen die Kühe. Die stehen auch bei uns neben dem Haus.“

„Na, dann sind wir doch jetzt da!“

„Nein, nicht diese Kühe stehen neben unserem Haus. Solche Kühe stehen neben unserem Haus, Mama.“

„Ach so, nicht diese, solche, Mama“, äfft sie ihre Tochter nach und gibt auf.

‚Das kann ja heiter werden, wenn das so weitergeht‘, denkt sie. ‚Nicht diese, solche. Nicht vier, zwei.‘

„Meinst du wir sollten mal anhalten und eine Pause machen?“, hört sie ihre Tochter vorne leise im Gespräch mit ihrem Mann.

„Nein, lass uns möglichst durchfahren. Ich möchte lieber schnell ankommen.“

„Okay, ich hoffe, sie schläft ein. Das war jetzt schon alles sehr aufregend für sie.“

„Für uns auch.“

„Ja, da hast du recht. Für uns war der Tag auch kein Zuckerschlecken, ganz und gar nicht. Es ist mir vorher richtig schwergefallen, Lydia so alleine zu lassen.“

„Ja, mir auch.“

‚Aha, kein Zuckerschlecken‘, denkt sie.

‚Ja, das stimmt, bis jetzt war es kein Zuckerschlecken. Nur die Ruhe bewahren. Bloß wie? Die wissen ja gar nicht, wie sich das anfühlt, wenn du so nervös bist. Ich kapier doch gar nichts mehr. Alles blockiert, bleibt einfach stehen. Da muss ich mich doch bewegen. Da kann ich nicht einfach sitzen bleiben. Das ist die Hölle …, nicht mal mehr die Vier. Oh Gott, am liebsten würde ich für immer davonrennen, ganz weit weg – weg von all dem Durcheinander, dem Gezappel. Jetzt gib doch einfach mal Ruh, dumme Kuh! Kühe …, nicht diese, … solche. Oh, die Kühe! Ja, das sind tolle Tiere! Wie lange habe ich keine Kühe mehr gesehen? Da freue ich mich! Oh, die streichle ich dann und schau ihnen in ihre klugen Augen, in ihre dunklen klugen Augen, schau ihnen zu, wie sie kauen, wiederkäuen, immer und immer wieder wie … der … käu …‘

„Ich glaube, jetzt ist sie eingeschlafen – bin ich froh.“

„Ja, das glaub ich dir. Wenn wir da sind, will ich auch nur noch schlafen.“

„Oh ja, ich auch.“

Perlen der Demenz

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