Читать книгу Das Seelenkarussell - Band 1 - Vera - Andreas Loos Hermann - Страница 22

Kapitel 18

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So stand sie auch schon am Hohen Markt am Gehsteig. Zwei Gassen weiter war die Wohnung von Michael gewesen. Die Ankeruhr, eine der nicht so bekannten Sehenswürdigkeiten von Wien, zeigte bereits einundzwanzig Uhr fünfunddreißig an. Es war für Vera interessant zu sehen, dass bereits einige Stunden seit ihrem Tod vergangen waren, da sie ja um neunzehn Uhr dreißig gestorben war, es ihr aber nicht so vorkam. Es war eher so, als ob die Zeit für sie überhaupt keine Rolle mehr spielte. Eine weitere interessante Beobachtung, dachte Vera.

Sie ging durch die nächtlichen Gassen über den Fleischmarkt Richtung Schwedenplatz. Da es Dienstag war, begegnete sie kaum Leuten auf der Gasse. Am Wochenende war hier im so genannten Bermudadreieck, einem Viertel mit vielen Bars und Lokalen, wesentlich mehr los.

Sie kümmerte sich nicht um die Passanten, denn was solle ihr schon passieren. Früher hatte sie sich unbehaglich gefühlt, wenn sie des Nachts allein in einer dunklen Gasse unterwegs gewesen war. Jetzt drohte ihr keine Gefahr von irgendwelchen Stänkerern, Handtaschenräubern oder sonstigen Unholden, vor denen die braven Mädchen immer gewarnt werden. Wer sollte ihr denn jetzt noch etwas tun können. Der Gedanke belustigte sie direkt ein wenig. Einem Vergewaltiger könnte sie jetzt die lange Nase drehen. Schade, dass der es dann nicht sehen könnte.

In diesem Moment wurde sie von hinten gepackt und jemand zerrte an ihrer Hand, so dass sie kräftig zurückgerissen wurde. Mit ihrer Selbstsicherheit war es vorbei. Vera stolperte und stürzte zu Boden. Der Jemand hatte losgelassen und war selbst erschrocken einen Schritt zurückgesprungen. „Wieso kannst du mich anfassen“, schrie ihn Vera an.

Der Jemand war ein Typ so um die Fünfundzwanzig, in zerrissenen Jeans, total heruntergekommen, mit struppigem zerzaustem Haar und eingefallenen Augen, ein richtiger Junkie. Die Jeansjacke stand offen und zeigte sein total vergammeltes T-Shirt. Seine Kleidung war viel zu dünn für die Jahreszeit. Seine Knie wurden von den Jeans nur notdürftig bedeckt und waren voll Schmutz und verkrustetem Blut. Sein Gesicht war bleich und die Wangen eingefallen. Das Schlimmste aber war die Kälte, die er ausströmte. Vera fröstelte, als sie ihn nur ansah. Ein Grauen stieg in ihr auf. „Sahen nach einer Zeit im Jenseits womöglich alle so aus?“

„Das gleiche könnte ich dich auch fragen“, entgegnete der Typ total sanft, aber mit einer Traurigkeit in der Stimme, die Vera plötzliches Mitleid empfinden ließ. „Entschuldige, ich war wohl etwas zu heftig, aber du bist die erste Person, die ich endlich angreifen konnte, die mich spürt und die mich sehen kann.“

„Bist du denn ganz alleine da“, fragte Vera ungläubig, “ bei mir war zumindest meine Oma da, als es passierte.“

„Als was passierte, ich will endlich wissen was los ist, seit einer halben Ewigkeit hänge ich hier in diesem Trip rum und kann nicht aufwachen. Alles ist so anders als sonst, dabei war die Dosis die gleiche, wie immer, es war nicht mehr als sonst.“

„Aber diesmal war verunreinigtes Heroin dabei“, hörte Vera sich sagen. Sie war verwundert, dass sie es wusste, aber so war es eben, sie wusste es. „Deshalb bist du jetzt tot, genauso tot wie ich, denn mich haben sie heute Abend erschossen“, erklärte sie, fast mit einem gewissen Stolz darüber, dass sie jetzt schon so locker darüber reden konnte.

„Das habe ich mir auch schon gedacht, denn inzwischen ist hier fast Winter und die letzte Dosis habe ich im Juli genommen, aber es war alles lange Zeit so verschwommen.“

Vera tat der Junkie jetzt wirklich leid. So war das also, wenn es mit ihnen zu Ende ging. Da war ja sie noch besser dran. Sie hatte alle Umstände ihres Todes wesentlich besser mitbekommen.

„Und dir ist nie wer begegnet, mit dem du reden konntest“, fragte sie ihn daher nochmals, nachdem sie ihm geschildert hatte, wie sie ihre Oma getroffen hatte und wie ihr Oma weitergeholfen hatte.

„Nein, nie“, druckste er unsicher heraus, „aber so genau weiß ich das nicht, da ich nicht genau weiß, seit wann ich wirklich tot bin, da durch den Trip alles so neblig und unscharf war. Vielleicht hat mich wer angesprochen und ich dachte, ich lebe noch oder das ist eine Vorstellung im Trip und ich habe nicht darauf reagiert.“

„Wie bist du eigentlich in die Szene gekommen“, wollte Vera wissen, da der Typ hochdeutsch sprach und keine Dialektausdrücke gebrauchte, was bei einem Junkie am Schwedenplatz doch eher selten vorkam.

„Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände, mein Vater war Anwalt und ich habe in der Schule am Gymnasium versagt und wusste nicht, was ich wollte.“ „Meiner auch“, wollte Vera einwerfen, aber sie besann sich und hörte der weiteren Schilderung zu, als der Typ ihr seine Lebensgeschichte ausbreitete.

„Mein Vater schmiss mich aus der Wohnung, als ich auch nichts arbeiten wollte und von jedem Job, den er mir vermittelt hatte, nach kurzer Zeit gefeuert wurde. Und als ich dann ein Jahr später, nach den ersten Joints und einem Jahr bei den Sandlern, zu ihm zurückkommen wollte, war die Kanzlei aufgelöst und mein Vater tot, Herzinfarkt. Das hat mir den Rest gegeben. Meine Eltern waren schon lange getrennt und meine Mutter hatte einen Manager in Hamburg geheiratet und ich hatte keine Ahnung, wie ich dort hinkommen konnte. Als ich dann eines Tages doch dort aufkreuzte, schmiss mich dieser feine Herr am selben Tag wieder raus. So blieb ich dann in Hamburg hängen, obdachlos wie ich war und fing dort mit den Drogen erst so richtig an.“

„Bis dahin hatte ich nur hin und wieder gekokst, aber dort gab es dann die härteren Sachen. Du glaubst nicht, wie schnell du da drinnen bist und nicht wieder raus kannst, wenn du kein Geld mehr hast. Mit Diebstählen hielt ich mich über Wasser, dann wollten sie einen Strichjungen aus mir machen, das bringt viel mehr ein, sagten sie, aber ich hatte zuviel Angst vor Aids.“

„So flüchtete ich aus Hamburg und trampte nach Wien zurück. Ich dachte, hier sei es ja doch noch besser, aber sie zwangen mich hier sofort zum Dealen, weil sie mir sonst keinen Stoff mehr gegeben hätten.“

Vera schluckte, „Mein Vater war auch Anwalt, mein Bruder hat jetzt die Kanzlei.“ Sie begriff zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich, wie gut es ihr immer gegangen war; und sie war immer so unzufrieden gewesen. Vera schämte sich mit einem Mal. Der Junge tat ihr leid, Christian hieß er, wie er sich inzwischen vorgestellt hatte. Er hatte nicht einmal mitbekommen, wie sie seine Leiche aus der U-Bahnstation Schwedenplatz weggeschafft hatten, als er die verunreinigte Dosis erwischt hatte, und daher fehlte ihm jetzt jede Orientierung.

Wie konnte sie ihm helfen, da sie doch selber nur so wenig darüber wusste, wo sie jetzt waren und wie es weitergehen sollte. So erzählte sie ihm einfach das, was sie bisher erlebt hatte und das, was ihr Oma gesagt hatte. Christian hing an ihren Lippen. Endlich erklärte ihm jemand, wo er war und was er tun konnte und was er besser nicht tun sollte. Er konnte wieder jemanden hören, der zu ihm sprach. Das tat so gut, nachdem eine halbe Ewigkeit lang alle an ihm vorbei oder durch ihn hindurchgegangen waren und ihn nicht einmal ignoriert hatten.

Vera schloss ihre Ausführungen, indem sie ihn einfach in ihre Arme nahm und ihn fest an sich drückte. Der Schmutz und der Dreck, der an ihm klebten, waren für sie nicht mehr störend. Der Schmutz färbte auch nicht auf ihr immer noch sauberes gelbes Kleid ab. Sie spürte ihn und er spürte sie. Das erste Mal seit Monaten spürte er wieder jemand Lebenden bei sich. Es war für Christian, wie wenn man einem Verschmachtenden das erste Glas Wasser reicht. Er trank ihre Nähe in sich hinein und Vera spürte, wie sich sein Selbst wieder entfaltete und beide wurden von Energien durchströmt, die sie noch nie so gespürt hatten. Sie sah ihn an. Der verzweifelte Zug in seinem Gesicht war verschwunden und Christian brachte tatsächlich so etwas wie ein Lächeln hervor.

Vera fühlte, dass sie bei Christian etwas verändert hatte. Seine Lebensenergien waren gestärkt worden, er war nicht mehr so blass, wie noch eben vorhin. Irgendwie ging eine Art Ausstrahlung von ihm aus, die sie vorher noch nicht bemerkt hatte. Die Kälte war von ihm gewichen.

„Du bist ein Engel“, seufzte Christian und sah sie dabei groß an. „Aber nein, ich bin kein Engel, “ rief Vera, „ich habe doch gar keine Flügel.“ Wie albern der Satz war, kam ihr erst zu Bewusstsein, als sie ihn gesagt hatte. Wozu brauchen Engel denn Flügel? Sie fühlte sich selbst so wunderbar leicht und zufrieden. Sie nahm die Kälte der Nacht und die Finsternis ringsum nicht mehr wahr. Es war ihr, als sei die Umgebung heller und wärmer geworden. Oder war nur ihr so richtig warm ums Herz geworden.

Sie gingen gemeinsam eingehängt zum Schwedenplatz hinunter. Sie glaubte fast, ihre Schritte am Pflaster hallen zu hören, so wirklich gingen sie da. Dann fiel Vera ein, dass sie ja noch ihre Eltern besuchen wollte, sie würde sich wohl von Christian verabschieden müssen. Christian hatte jetzt wieder Kraft. Vera wunderte sich, dass so wenig Tote hier unterwegs waren, denn eigentlich hätte doch Christian schon längst jemanden treffen müssen. Wo waren denn die anderen alle? Das verstand Vera nicht. Sie zerbrach sich aber jetzt nicht den Kopf darüber, sie würde schon noch dahinterkommen.

Sie waren bis zu U-Bahnstation gekommen. Christian sagte: „Da unten hat´ s mich wohl erwischt.“ „Dann gehen wir da jetzt hinunter und sehen nach, du traust dich doch“, ermunterte ihn Vera.

Christian zögerte, er wollte da nicht hinuntergehen, er wollte lieber hier oben bleiben. „Da unten ist nichts Schreckliches, komm“, rief Vera und nahm ihn fest am Arm.

Sofort standen sie am Bahnsteig der U4. „Wie sind wir denn jetzt so schnell dahergekommen“, rief Christian verwundert, “wie ist das jetzt gegangen.“ Vera lächelte innerlich. „Das kann hier jeder, sagt meine Oma, sich dorthin bewegen, wo er gerade sein möchte, hast du das noch nicht versucht?“ „Nein, ich wollte immer da sein, wo ich gerade war und wollte nur Leute ansprechen, aber das hat nie geklappt.“

Der Bahnsteig war recht leer. Einige Jugendliche standen herum, warteten auf einen Zug oder darauf, dass die Zeit verging. Christian schmiegte sich an Vera. Sie hielt seine Hand in der ihren. Wenn sie jemand gesehen hätte, hätten sie ein seltsames Paar abgegeben. Sie im gelben Abendkostüm und er total verschmutzt und zerlumpt. Es war aber niemand da, der sie sehen konnte.

„Gibt es niemanden, den du besuchen willst?“, fragte Vera. Christian dachte längere Zeit angestrengt nach. „Mich haben doch schon alle längst vergessen. Die haben doch alle ihr Leben, nur ich habe meines kaputtgemacht.“ Bei diesen Worten sah er wieder ganz traurig drein.

„Doch einen gibt es, den könnte ich besuchen“, meinte er schließlich ganz leise. „Mein Religionsprofessor aus der siebenten Klasse am Gymnasium, der wollte nicht, dass ich alles hinschmeiße, der hat sich mit mir einen ganzen Nachmittag lang unterhalten, damit ich die Klasse noch einmal wiederhole und nicht aufgebe. Leider hat es nichts genützt“, fügte er traurig hinzu. „Ich weiß auch gar nicht, wo der wohnt.“

„Das macht nichts, denk einfach an ihn und wünsch dich in seine Nähe“, munterte Vera ihn auf. „Denk dran, du wirst jemanden treffen, der dir weiterhelfen kann, und wir sehen uns wieder, das ist sicher.“

Christian sah sie groß an. „Wenn du meinst, mein Engel.“ Vera sah, wie sich seine Augen verengten, als er sich auf den Religionslehrer konzentrierte. In der nächsten Sekunde stand sie allein am Bahnsteig. Christian war verschwunden.

Das Seelenkarussell - Band 1 - Vera

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