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ОглавлениеZurück auf der Straße blieb Uwe noch einen Moment stehen. Nachdenklich ließ er seine Blicke auf der Villa ruhen. Der Aufenthalt in Rosts Wohnung hatte neue Fragen aufgeworfen aber auch einen Hinweis gebracht. Doch diese Spur hatte Zeit bis morgen. Für den Rest des Nachmittags hatte er sich etwas anderes vorgenommen.
Uwe suchte sich eine Telefonzelle, unterrichtete seinen Chef über das Ergebnis der Befragung und informierte ihn darüber, was er heute noch zu tun beabsichtigte. Nach dem Gespräch verdrängte er den Unmut über Ungers abfälliges Lachen und führte ein zweites Telefonat. Danach strich er sanft über den Sattel seines Fahrrads und murmelte »Komm Mary, wir drehen noch eine Runde«. Mit kräftigen Tritten in die Pedale radelte er erneut zum Tatort.
Hier wurde Uwe bereits erwartet. Genosse Lindner, der ABV, war pünktlich. Der stattliche Mittfünfziger bockte gerade seine himmelblaue Schwalbe auf und empfing ihn mit einem warmen Lächeln. »Sportlich, sportlich, junger Freund. In deinem Alter war ich auch so fit.« Er zog ein verlegenes Gesicht. »Irgendwann kam der Tag, an dem die Bequemlichkeit über den Willen siegte.« Er strich über seinen beachtlichen Bauch, der die Knöpfe der Uniformjacke in Bedrängnis brachte. »Und seitdem meine liebe Bärbel als Verkäuferin im Deli arbeitet, sind die Verführungen nicht gerade kleiner geworden.«
Freundlich reichte Uwe dem Mann die Hand und präsentierte seinen Dienstausweis. »Ordnung muss sein. Sonst könnte ja jeder kommen und sich als Leutnant der VP ausgeben«, sagte er verschwörerisch zwinkernd. Der ABV war ihm sympathisch, mit dem würde die Zusammenarbeit ohne Probleme ablaufen.
»Hast recht, Herr Leutnant.« Krachend schlug Lindners große Pranke auf die Schulter des jungen Mannes.
»Für dich, Uwe.« Er überlegte kurz. »Du hast ja sicher schon gehört, was passiert ist. Ich brauche deine Hilfe. Du hast den besten Draht zu den Leuten, die in der Gegend wohnen. Hör dich um und bring alles in Erfahrung, was nur geht. Der kleinste Hinweis kann entscheidend sein. Zu dir haben die Menschen hier mehr Vertrauen als zu den Schupos. Achte bitte vor allem auf Leute, die schwarz mit Antiquitäten handeln, und auf die einschlägig Vorbestraften. Ich meine Einbrecher, Hehler und die Typen, die nicht zögern, jemandem in dunklen Ecken aufzulauern.«
Lindner nickte. »Ist ein eignes Völkchen, was in diesen Straßen lebt. Übrigens, ich bin der Erwin.«
Uwe führte Erwin zur Außentoilette und zeigte ihm den Tatort. Weiterhin informierte er ihn über die Tötungsart und wer den Toten entdeckt hatte. Der Leutnant wollte Lindner für seine Erkundigungen möglichst viele Anhaltspunkte mit auf den Weg geben.
Im Gegensatz zu Uwe hielt sein Chef nicht viel von den Abschnittsbevollmächtigten, nannte sie Hilfssheriffs und rümpfte die Nase über die Streifengänger.
Wie falsch Unger mit dieser Ansicht lag, zeigte das Verhalten des ABV eindrücklich. Lindner lief aufmerksam über den Hof und schaute auch in den kleinsten Winkel. Uwe ließ ihm die Zeit, die er brauchte.
Als Erwin seine Besichtigung abgeschlossen hatte, trat er zu ihm. »Die Kleine, die das Verbrechen entdeckt hat, kenne ich. Sabine Fuchs, süßes Ding. Wohnt gleich gegenüber.« Er deutete zu einem Hauseingang.
In sich hineinlächelnd gratulierte sich Uwe dazu, den ABV hinzugezogen zu haben. Allein dieser Hinweis ersparte ihm eine Rückfrage bei Ludwig und dessen arrogantes Gefeixe. Er verabschiedete sich von Erwin und marschierte schnurstracks quer über den Hof zu dem angegebenen Hauseingang.
Die junge Frau, die auf sein Klingeln die Tür öffnete, ließ die Kinnlade des jungen Polizisten hinunterklappen. Erwins Beschreibung war mehr als zutreffend. Uwe fand sie süß, unglaublich süß sogar. Lange dunkle Haare, eine Wahnsinnsfigur und das hübscheste Gesicht, das Uwe jemals unter die Augen gekommen war. Er musste sich richtig zusammennehmen, damit er sich nicht wie ein kompletter Idiot benahm. Seine Finger zitterten vor Nervosität, während er seinen Dienstausweis aus der Tasche angelte. Unsicher hielt er ihn der Frau vor die Nase.
Die brach in lautes Gelächter aus, fasste nach seiner Hand, nahm ihm den Ausweis ab und drehte ihn, damit sie ihn lesen konnte.
Uwe wäre am liebsten im Boden versunken.
Nachdem Frau Fuchs einen Blick auf den Ausweis geworfen hatte, musterte sie ihn ohne die geringste Verlegenheit von oben bis unten und strahlte sie ihn an. »Komm rein.«
Sie lief ihm voraus in ein leicht chaotisches, aber ungemein gemütliches Wohnzimmer. Dort zeigte sie auf eine abgewetzte Couch, ließ sich in einen Sessel fallen und sah ihn erwartungsvoll an.
Wie bestellt und nicht abgeholt saß Uwe der Frau seiner Träume gegenüber und hatte keine Ahnung, was er jetzt sagen sollte. Als ihm der Grund für seine Anwesenheit wieder in den Sinn kam, holte er tief Luft.
Doch das kleine Energiebündel ließ ihm keine Chance. »Möchtest du ein Bier? Ich habe heute Bock in der Kaufhalle erwischt.«
Bevor er sich einen schwachen Hinweis auf den Dienst und seine Verkehrstauglichkeit abringen konnte, huschte sie aus dem Wohnzimmer. Uwe hörte eine Tür klappen und nutzte die Gelegenheit, seine Blicke durch den Raum huschen zu lassen. Dabei stach ihm die umfangreiche Sammlung medizinischer Literatur sofort ins Auge. Bevor er dazu kam, sich die Titel auf den Buchrücken genauer anzusehen, war Frau Fuchs zurück und hielt ihm eine geöffnete Flasche hin.
»Prost«, sagte sie fröhlich und schlug ihre Flasche gegen seine.
Uwes schloss ergeben die Augen, wobei er nicht sagen konnte, was das stärkere Argument war, sein trockener Mund oder die wunderschönen graugrünen Augen, die ihn schelmisch ansahen. Das starke, süffige Bier entfaltete auf der Stelle seine Wirkung. Wärme breitete sich in seinem Körper aus, und seine Selbstsicherheit kehrte zurück. Er zückte Notizbuch und Kugelschreiber und räusperte sich.
Wieder kam er nicht dazu, seine Fragen zu formulieren, Frau Fuchs war schneller. »Ich war ja vielleicht hin und weg, als im Ödland der Kaufhalle wie eine Fata Morgana die Palette voller Bockbier vor mir stand.« Sie beugte sich vor und grinste über beide Ohren. »Da hab ich gleich zehn Flaschen eingesackt. Das war eine Schlepperei, kann ich dir sagen. Aber ...«, sie nahm einen großen Schluck und warf der Flasche einen verliebten Blick zu, »es hat sich gelohnt. Schmeckt eindeutig nach mehr.«
Erneut setzte sie die Flasche an, und Uwe ergriff die Gelegenheit. »Ich habe noch ein paar Fragen an Sie, wegen des Toten, den ...«
Sie fuhr hoch, stellte sich vor Uwe, machte einen Knicks und streckte ihm die Hand hin. »Wenn du es unbedingt förmlich möchtest, bitteschön. Ich heiße Sabine und du Uwe, jedenfalls stand der Name im Ausweis.« Sie hob ihre Hand über den Kopf und ließ neckisch lächelnd den Finger kreisen. »In dieser Wohnung wird nicht gesiezt. Ist ein Prinzip von mir.«
Uwe blinzelte überrascht, dann grinste er wie ein kleiner Junge, drückte Sabines Hand und spülte seine Verlegenheit mit einem gewaltigen Schluck herunter. Er unterdrückte ein Aufstoßen und wurde dienstlich. »Der Mann ist erschossen worden. Den Knall müsste man eigentlich gehört haben. Ist dir nichts aufgefallen?«
»Ich schlafe immer wie ein Stein.« Zurück im Sessel wühlte sie andächtig ihren Hintern ins Polster. »Da muss schon das Nachbarhaus gesprengt werden, ehe ich aufwache.«
Er hob die Schulter und kam zur nächsten Frage. »Kanntest du den Toten?«
»Woher denn?«
»Na ja, ich versuche herauszufinden, was der Mann hier zu suchen hatte. Wenn er zu jemandem wollte, hätte ich einen Anknüpfungspunkt.« Er zupfte nachdenklich am Bieretikett und wog ab, inwieweit er Sabine trauen konnte. Sie war eindeutig ein kommunikativer Mensch. Wenn ihm jemand Auskünfte über die Menschen in der näheren Wohngegend liefern konnte, dann sie. »Weißt du zufällig, ob einer deiner Nachbarn Antiquitäten verkauft?«
Sabine, die an ihrem Bier nuckelte, verschluckte sich. »Du bist ja süß«, brachte sie nach mehrmaligem Husten heraus. »Alle Wohnungen kenne ich nicht von innen, aber die, in denen ich schon mal war, da stammt das Mobiliar zum größten Teil aus dem A & V. Was denkst du denn, weshalb in den oberen zwei Etagen keiner wohnt? Dort regnet es rein und wenn du da einen Chippendale-Sessel stehen hast, schwimmt der dir glatt weg.«
»Hm, dann habe ich nur noch eine Frage: Gibt es in der Umgebung Typen, denen du so eine Tat zutrauen würdest?«
Stirnrunzelnd dachte Sabine nach und schüttelte schließlich energisch den Kopf. »Wir haben schon ein paar zwielichtige Gestalten im Viertel, die ab und zu lange Finger machen, einen Mord traue ich jedoch keinem zu. Jedenfalls nicht den Leuten, die ich kenne«, schob sie schnell noch hinterher.
Uwe, der hingerissen die Sommersprossen auf Sabines Nase und Oberlippe studiert hatte, war mit seinem Latein am Ende. Um keinen Preis wollte er sich auch nur einen Millimeter aus der Nähe der hübschen Frau fortbewegen, aber ihm fiel beim besten Willen kein Grund ein, seinen Besuch länger auszudehnen.
Enttäuscht erhob er sich. »Ich muss dann mal los. Vielen Dank, du hast mir sehr geholfen.«
Sabine sprang flink auf und streckte ihm mit einem hilflosen Lächeln die Hand entgegen. »Welche Hilfe denn? Viel konnte ich ja nicht beitragen.« Sie zögerte kurz. »Klingel doch einfach bei mir, wenn du in der Gegend zu tun hast.«
Nachdem sich die Tür hinter ihrem Gast geschlossen hatte, verschwand das Lächeln aus Sabines Gesicht. Nachdenklich lief sie zum Fenster und schaute im Schutz der zugezogenen Gardine auf den Innenhof. Sie sah Uwe nach, bis er im Vorderhaus verschwunden war, blieb noch einen Moment stehen und nagte dabei unentschlossen auf ihrer Unterlippe. Schließlich kam sie zu einem Ergebnis. Sie schnappte sich ihren Schlüssel und verließ eilig die Wohnung.