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Auf dem Rückweg zum Polizeipräsidium legte sich Leutnant Uwe Friedrich eine sehr schöne Rede für seinen Kollegen zurecht. Von Beharrlichkeit und Voraussicht wollte er ihm erzählen, und ehe Ludwig mit einer zynischen Bemerkung kontern konnte, das Potenzial des sozialistischen Staates gleich mit herausstreichen.

Doch diese Freude blieb Uwe versagt. Das Büro war verwaist, und statt des Oberleutnants empfing ihn eine kurze Notiz, abgefasst in Ludwigs gestochen scharfer Schrift. Der Inhalt war bedrückend: In der Äußeren Neustadt war eine Leiche gefunden worden, und er sollte sich umgehend am Tatort einfinden.

Uwe zögerte keine Sekunde und schwang sich auf sein Fahrrad. Er trat wie ein Wilder in die Pedale. Heute verkniff er es sich, bei der Elbüberquerung einen kurzen Halt auf der Dr.-Rudolf-Friedrichs-Brücke einzulegen. Das schlechte Gewissen nagte an ihm, darum unterließ er es, sich an der Aussicht über das Elbtal zu erfreuen.

In den vergangenen Wochen hatten sie in der Morduntersuchungskommission eine ruhige Kugel schieben können. Da keine Tötungsverbrechen begangen wurden, hatte Uwe die Zeit genutzt, um die Berichte alter ungelöster Fälle durchzusehen. Voller Eifer hatte er sich über die Dokumente hergemacht und verzweifelt versucht, übersehene Hinweise aufzuspüren. Sehnlichst hatte er sich gewünscht, wenigstens einen dieser Fälle aufzuklären, doch in dem Maß, wie der Aktenstapel schrumpfte, ließ Uwes Enthusiasmus Stück um Stück nach. Deshalb hatte er sich die Frechheit herausgenommen, innerhalb der Dienstzeit dem Möbelhaus täglich einen Besuch abzustatten.

Und ausgerechnet heute, als er voller guter Vorsätze zu seinem Arbeitsplatz zurückkehrte, war er nicht an seinem Platz gewesen, als die Meldung eintraf. Uwe hätte sich in den Hintern treten können.

Völlig außer Atem traf er am Tatort ein. Er drückte die schwere Eingangstür auf und wollte sein Fahrrad eilig im Hauseingang abstellen, da trat ihm ein uniformierter Volkspolizist mit strengem Gesicht und erhobener Hand entgegen.

»Kein Zutritt!«, schnauzte er Uwe an.

Es war nicht das erste Mal, dass der junge Leutnant die leidvolle Erfahrung machen musste, aufgrund seines jugendlichen Aussehens nicht ernst genommen zu werden. Zudem kannte ihn der Vopo nicht und befand sich im Recht, aber Höflichkeit gegenüber der Bevölkerung war für Uwe ein Muss. Er schloss in aller Gemütsruhe sein Rad an, zückte seinen Dienstausweis und hielt ihm dem Wachtmeister vor die Nase. »Herrschst du eigentlich jeden Mitbürger so an, Genosse?« Eindringlich betonte Uwe jedes Wort.

Der Wachtmeister hob kapitulierend die Hände. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass du einer von uns bist.«

»Das hat mit meiner Frage nicht das Geringste zu tun. In Zukunft bemühst du dich um einen respektvolleren Ton, wenn du einen Bürger ansprichst. Verstanden?«

»Wir stehen hier alle unter Hochspannung. Ein Mord passiert schließlich nicht jeden Tag«, kam die kleinlaute Antwort.

Uwe ließ die Sache auf sich beruhen, nickte dem Vopo zu und lief durch den Durchgang in Richtung Hinterhof. Dass der Wachtmeister ihm ein »aufgeblasenes Arschloch« nachzischte, ließ er an sich abprallen.

Noch bevor Uwe seinen Kollegen sah, hörte er ihn. Ludwigs trockener Raucherhusten hallte bis ins Treppenhaus.

An der geöffneten Tür zum Hinterhof blieb Uwe stehen und machte sich ein erstes Bild. Wie erwartet koordinierte Ludwig den Einsatz der Kriminaltechniker und führte das große Wort.

Der braucht mich vorerst nicht, dachte Uwe und drehte eine Runde über den Hof. Die Häuserwände, Umgrenzungsmauern und das Toilettenhäuschen waren geprägt von Verfall. Der junge Leutnant konnte aber erkennen, dass die Bewohner im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht hatten, Farbe und Gemütlichkeit in ihre Lebensumgebung zu bringen. Die Hecken waren sorgfältig gestutzt, die Wäschestangen frisch gestrichen, und ein langer Tisch stand gleich neben der Tür zum Hinterhaus. Um den Tisch waren drei sechseckige Plastikgefäße gruppiert. Uwe blinzelte ungläubig. Normalerweise sah er die in der Kaufhalle stehen, beladen mit Milchbeuteln. Jetzt spross Heidekraut in den dunkelgrünen Kunststoffkübeln.

Eine nette Ecke zum Quatschen, dachte er und lächelte wehmütig. In seinem neuen Wohnumfeld gab es so etwas nicht. In dem Hochhaus lebte er anonym. Die wenigen Mitmieter, die er von Sehen kannte, grüßten kaum.

Ludwig hatte sich neben dem Außenklo positioniert und redete gerade dem Fotografen in seine Arbeit hinein, als Uwe sich zu ihm gesellte.

Die Lippen des Oberleutnants verzogen sich missbilligend. »Es ist schön, dass du es einrichten konntest.«

Uwe wollte sich rechtfertigen, ließ es jedoch. Wenn sein Chef in Fahrt war, hatte der kein Ohr für Argumente. Eine Entschuldigung murmelnd erkundigte er sich nach den Details. Seine Strategie war goldrichtig. Von seiner eigenen Bedeutung überzeugt warf sich sein Kollege in die Brust und legte los: »Wir haben hier einen männlichen Toten. Die Identität konnte ich schon klären. Kunststück«, er strahlte zufrieden, »er hat seinen Ausweis dabei. Es handelt sich um einen gewissen Siegfried Rost, geboren 1940, wohnhaft auf dem Weißen Hirsch, in der Nähe der Bautzner Landstraße. Dankenswerterweise befindet sich in seinem Portemonnaie auch sein Betriebsausweis. Rost arbeitete beim VEB Pentacon. Ich habe bereits in der Kaderabteilung angerufen und seinen Betriebsteil erfragt. Dorthin werde ich als Nächstes gehen. Sie haben mir auch gesagt, dass das Opfer verheiratet war.« Er holte ein Notizbuch aus der Jackentasche, riss ein Blatt heraus und reichte es Uwe mit den Worten: »Du darfst seiner Frau die Nachricht überbringen.« Unger wandte sich ab, froh, die undankbare Aufgabe delegiert zu haben.

Uwe verbiss sich ein Lächeln. Sein pedantischer Chef verfügte über eine ausgezeichnete Kombiniergabe, aber Sensibilität oder Geduld kamen in seinem Vokabular nicht vor. Er wollte sich gerade zu dem Toten hinunterbeugen, da drehte sich Ludwig noch einmal um. »Etwas ist merkwürdig. Der Mann trug keinen Schlüssel bei sich, frag mal die Ehefrau danach.«

Uwe nickte und begann mit der Betrachtung der Leiche. Er registrierte das Einschussloch in der Herzgegend, den Blutfleck an der Wand des Toilettenhäuschens und den entsetzten Gesichtsausdruck des Mannes.

Er schlussfolgerte, dass die Tat eindeutig in diesem Hof verübt worden war. Keiner der Anwohner würde in einer kalten Februarnacht seine Runden über die alten Pflastersteine drehen, wenn er nicht unbedingt musste. Ein passender Ort für eine Hinrichtung also.

Uwe lief zur Eingangstür des Hinterhauses, zu der sein Chef mittlerweile gegangen war und ihn amüsiert beobachtete.

Der junge Leutnant sparte sich einen Kommentar. »Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte er stattdessen.

»Eine Krankenschwester, die zeitig aufgestanden ist, weil sie zum Frühdienst musste. Ich habe ihre Aussage bereits aufgenommen.« Ludwig schwieg und ließ seinen unausgesprochenen Tadel wirken. Es machte ihm anscheinend Spaß, erneut in der Wunde zu bohren.

»Ich würde sie gern sprechen, natürlich nur, wenn dich das nicht stört.« Uwes Tonfall war schärfer als beabsichtigt, aber er hatte es satt, sich Vorhaltungen machen zu lassen. Ludwigs Arbeitsmoral war ebenfalls nicht gerade die eines Aktivisten der ersten Stunde. Sobald er erfuhr, dass es in einer der Kaufhallen der Umgebung Radeberger gab, verschwand er schneller aus dem Büro als ein ertappter Dieb auf der Flucht.

»Tja, das tut mir jetzt sehr leid für dich. Ich habe sie gehen lassen, um den Krankenhausbetrieb nicht ins Stocken zu bringen. Viel wusste sie ohnehin nicht. Sie wollte auf den Topf, hat sich gewundert, was da neben dem Scheißhaus liegt, und die Bescherung entdeckt. Dann ist sie zur nächsten Telefonzelle gewetzt und hat den Notruf gewählt.«

Uwe war noch etwas eingefallen. »Sind die Techniker mit der Leiche fertig?«

Ludwig nickte, und in seinem Blick lag etwas Fragendes.

Uwe verspürte keine Lust, sich näher zu erklären. Stattdessen lief er zurück zum Opfer. Er ging in die Knie, öffnete den Mantel des Toten und suchte nach dem Etikett des Herstellers. Flink notierte er sich die Daten und wiederholte die Prozedur bei dem Jackett und der Weste.

Danach kam er federnd in die Höhe und sortierte seine Erkenntnisse. Die Kleidung war offensichtlich maßgeschneidert. Ein Typ, der so teure Sachen trug, passte nicht in diese Gegend. Hier leben alte Leute, die schon immer in den Häusern gewohnt hatten, junge Leute, die woanders keine Wohnung bekommen konnten, Künstler und solche, die es verstanden, in einem System zu leben, ohne es zu akzeptieren.

Nachdenklich zog Uwe die Unterlippe zwischen die Zähne. Was hatte der Kerl bloß hier gewollt? Zweifellos war er freiwillig in den Hinterhof gekommen. Sein Mörder konnte ihn ja schlecht mit vorgehaltener Waffe quer durch die Neustadt getrieben haben. Uwe war sich sicher, die Antwort auf diese Frage würde ihn auf direktem Weg zur Lösung des Falls führen. Da er nicht die geringste Lust verspürte, Ludwigs spitze Zunge herauszufordern, würde er seine Überlegungen vorläufig für sich behalten.

Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass sein Chef bereits losgefahren war. Am Ausgang hielt Uwe inne und drehte sich noch einmal um. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getrogen, der Hof verströmte trotz des abblätternden Putzes einen urigen Charme. Er würde alles daransetzen, um herauszufinden, wer den Frieden dieses Ortes gestört und ihn als Richtstätte missbraucht hatte.

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