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Die Handflächen auf die steinerne Begrenzungsmauer gestützt, schaute Uwe nachdenklich auf den Neumarkt hinunter. Er stand auf der Brühlschen Terrasse und war dem Gefühlschaos, das in seinem Inneren tobte, hilflos ausgeliefert.

Bis zum heutigen Tag war er stolz darauf gewesen, bei der Volkspolizei Dienst zu tun. Er hatte es als seine Aufgabe betrachtet, die Werktätigen und ihre Errungenschaften vor kriminellen Elementen zu schützen.

Seit heute Abend war er sich da nicht mehr so sicher. Die Menschen, die er beschatten sollte, waren keine Bedrohung für den Sozialismus. Friedlich stellten sie vor der Ruine der Frauenkirche Kerzen auf, legten Blumen ab und gedachten der Opfer des Bombenabwurfs auf Dresden. Sie demonstrierten für Frieden und sangen Lieder, die Uwe kannte. Er drehte sich vorsichtig um, ob keiner seiner Kollegen oder einer von der Staatssicherheit hinter ihm stand, dann summte er begeistert We Shall Overcome und Sag mir, wo die Blumen sind mit.

Nachdem der Gesang verklungen war, löste Uwe seine Handflächen von der Brüstung. Er kam sich mittlerweile ziemlich dumm vor, von oben auf das Geschehen zu starren. Er stieg die Stufen zum Neumarkt hinunter und mischte sich unter die Menge.

Seine Befehle waren eindeutig. Sobald er staatsfeindliche Aktionen in Form von Transparenten oder lauten Meinungsäußerungen bemerkte, hatte er Verstärkung zu rufen, die Personalien der Unruhestifter aufzunehmen und diese gegebenenfalls zuzuführen. Des Weiteren sollte er versuchen, die Organisatoren der Aktion auszumachen und möglichst unauffällig deren Identität festzustellen.

Major Günzel hatte diese Anordnungen heruntergeleiert, als wäre er ein Jungpionier, der widerwillig ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagt. Uwe hatte sehr wohl registriert, dass es der Chef dabei nicht vermocht hatte, seinen Leuten in die Augen zu sehen. Der letzte Befehl schien dem Major am meisten zugesetzt zu haben. Sein verkniffener Mund hatte die Worte mit mühsam unterdrückter Wut herausgepresst. Jeder der Einsatzkräfte, der in der Menge einen Bekannten entdeckte, sollte auch den melden.

Inzwischen war die Menschenansammlung weiter angewachsen. Uwe schätzte sie auf weit über fünftausend. Die Leute, die sich um ihn herum drängten, wirkten ernst und gleichzeitig ergriffen. Die Gemeinsamkeit ihres Willens, gegen jede Form der Kriegstreiberei auf die Straße zu gehen, vereinte sie. Und alle waren freiwillig gekommen. Bei diesem Gedanken stutzte Uwe. Es war etwas ganz anderes, als er es von den staatlich verordneten Demonstrationen her kannte.

Er erinnerte sich gut daran, dass er während seiner Grundausbildung zu den Aufmärschen am 1. Mai und am 7. Oktober als Fahnenträger eingeteilt gewesen war. Der zuständige Offizier hatte, bewaffnet mit der Liste aller Auszubildenden, am Treffpunkt gestanden. Uwe hatte beim Abfassen der Fahne und nach der Demonstration beim Abgeben jeweils ein Kreuz bekommen. Hätte bei der Auswertung eins oder gar beide Kreuze gefehlt, wären Disziplinarmaßnahmen über ihn hereingebrochen.

Ein bekanntes Gesicht, das sich plötzlich vor Uwe aus der Menschenmasse schälte, beendete den kurzen Ausflug in die Vergangenheit. Holger Korn, ein Schulfreund, mit dem er heimlich Kaugummibilder aus dem Westen getauscht hatte, kam strahlend auf ihn zu.

Freudig nahm Holger ihn in den Arm. »Das glaub ich ja nicht.« Er lachte leise. »Und das bei deinen Eltern. Die waren doch so rot. Hat sich das gegeben?«

Uwe hätte im Boden versinken können. »Eher nicht«, stammelte er.

»Na ja, das wird schon noch«, verkündete Holger und grinste. Er drückte Uwe ein paar Aufkleber in die Hand. »Für deine Freunde.«

Ratlos drehte Uwe den Sticker in den Händen. Um eine schematisch dargestellte Figur standen die Wörter »Schwerter zu Pflugscharen«.

»Mein Gott!«, Holger sah ihn verblüfft an. »Es laufen immer noch Leute herum, die davon noch nichts gehört haben.« Er schlug Uwe auf die Schulter. »Informiere dich! So, ich muss weiter. Viel Spaß noch. Freue mich, dass du hier bist.« Nach einem fröhlichen Winken verschluckte ihn die Menschenmenge.

Hastig steckte Uwe die Aufkleber in die Tasche. Nicht auszumalen, wenn ein Kollege ihn damit sehen würde! Ludwig zum Beispiel. Bei seiner Karrieregeilheit kannte der weder Freund noch Feind.

So, als wäre er Holger nie begegnet, drängte sich Uwe weiter durch die Menschen. Trotz der Massen war es erstaunlich ruhig. Fast alle schwiegen und die, die sich unterhielten, taten das leise.

Mit einem Mal glaubte Uwe, er wäre in einen schwülstigen Liebesfilm katapultiert worden. Er kniff die Augen zusammen und riss sie gleich darauf weit auf. Tatsächlich, keine fünf Meter vor sich sah er Sabine. Erfreut stellte er fest, dass sie kein Traumbild sein konnte. In Träumen oder Filmen schwebten die schönen Frauen oder wenigstens schritten sie. Der kleine Wirbelwind dagegen war sehr zielstrebig unterwegs. Entschlossen kämpfte sich Sabine mit einer Kerze in der Hand durch die Menge.

Ohne zu zögern, startete Uwe durch. Ihm war eine zweite Chance geboten worden, und die würde er nicht ungenutzt verstreichen lassen. Mithilfe seiner Ellbogen durchpflügte er die Demonstranten und holte Sabine noch vor der Ruine ein. »Hallo, so trifft man sich wieder.« Er überspielte seine Verlegenheit durch ein lockeres Grinsen.

Sabines Lippen öffneten sich ungläubig, dann lachte sie und sah gleich noch hübscher aus. »Das haut mich jetzt von den Socken. Darfst du eigentlich hier sein?«

Langsam war Uwe es leid, dass ihn jede Begegnung in die Defensive drängte. Er war doch kein Spitzel! Aber sofort zuckte er innerlich zusammen, seine Befehle sprachen da eine andere Sprache. Mit einem tiefen Durchatmen beschloss er, dass es niemals so weit kommen würde. Schließlich wollte er sich weiterhin im Spiegel ansehen können.

»Wer sollte mich daran hindern?«, beeilte er sich zu sagen.

Sabine blickte ihm ernst in die Augen und nickte dann. »Ich weiß, dass du ein ehrlicher Kerl bist, sonst würde ich dich links liegen lassen.« Sie trat an die Ruine heran, bückte sich und entzündete ihre Kerze an der Flamme einer anderen. Dann hielt sie die Kerze mit fachmännischem Blick schräg und tröpfelte Wachs auf einen der großen Trümmersteine. Ein kurzer Druck ihrer kleinen Faust, und die Kerze stand. Sich wiederaufrichtend faltete sie die Hände und stand lange Zeit still da.

Uwe fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Bisher hatte er immer gedacht, dass Beten etwas für Spinner sei. Doch inmitten all der Menschen und vor diesem Lichtermeer kam es ihm auf einmal richtig vor. Er rückte ganz dicht an Sabine heran, schloss die Augen und fühlte sich zu seiner Überraschung geborgen.

Ein Boxhieb in seine Seite holte ihn jäh in die Gegenwart zurück. »Wenn du so weitermachst, schmeißen dich die Bullen aus ihrem Verein.« Jetzt war es Sabine, die sich vorsichtig umschaute und ihre Blicke prüfend über die Gesichter gleiten ließ. Mit entschiedener Miene hakte sie sich bei ihm ein und zog ihn fort. »Lass uns gehen. Glaub mir, es ist besser so.«

Uwe setzte zu einem Protest an, Sabine meinte es jedoch ernst. »Hältst du mich für blöd? Ich weiß doch, weshalb du dich unter die Leute gemischt hast.« Ohne auf seinen gemurmelten Protest einzugehen, beschleunigte sie ihr Tempo und schleifte ihn schnurstracks in Richtung Augustusstraße.

Inzwischen war sie in einen regelrechten Sturmschritt verfallen. Vorbei am Fürstenzug zerrte sie Uwe zur Brücke. Erst auf dem gegenüberliegenden Ufer blieb sie stehen. Sie ließ ihn los, baute sich vor ihm auf und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Sag mal, schnallst du es nicht? Du hast gerade deinen Job riskiert. Wenn dich eins von den Stasi-Schweinen gesehen hat, bist du geliefert.«

»Mach mal halblang«, versuchte Uwe sie zu bremsen. »Ich hab doch gar nichts getan.«

»Ja, eben! Das ist es ja.« Ihr Zeigefinger tippte nachdrücklich auf seine Stirn. »Denk mal drüber nach!«

Oh, oh, dachte Uwe, die kleine Katze fährt ihre Krallen aus. Und wie ihre Augen blitzen! Er hätte sie am liebsten in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. Nach einer Sekunde des Zögerns traute er sich das. »Du hast vollkommen recht«, flüsterte er in ihre Haare. »In Zukunft bin ich vorsichtiger.«

»Das will ich dir auch geraten haben«, flötete sie in honigsüßem Ton. »Und weil du so einsichtig bist, darfst du mich nach Hause bringen.«

Ein warmes Gefühl stieg in Uwe auf, als er spürte, dass sie sich noch fester an ihn kuschelte. Er wusste, dass sein Grinsen dem eines debilen Schaukelpferds glich, das war ihm allerdings wurscht, er wollte nichts weiter, als ewig so stehen bleiben.

Schließlich kam Bewegung in Sabine. Sie schlängelte sich aus seiner Umarmung und grinste ihn frech an. »Bild dir bloß nichts ein. Mir ist einfach nur kalt.«

»Warum machst du dir eigentlich Gedanken darüber, ob ich meine Arbeit behalte?«

Sabine sah ihn offen an. »Ich habe in deinen Augen gesehen, dass du aufrichtig bist. Das sind nicht alle Polizisten, weißt du. Und heutzutage zählt jeder Einzelne.«

Sabines Unverblümtheit beeindruckte Uwe. Verblüfft nahm er zur Kenntnis, dass sich hinter ihrer lockeren Art ein scharfer Verstand verbarg, der aufmerksam seine Umwelt beobachtete und analysierte.

Beide liefen schweigend und in ihre Gedanken vertieft weiter. Auf dem Platz der Einheit überraschte sie ihn erneut. Sie schmiegte sich an ihn und ergriff seine Hand. »Lass uns schnell über die Straße gehen.« Ein Schaudern schwang in ihrer Stimme.

Alarmiert schaute sich Uwe um. Keiner der wenigen Passanten wirkte bedrohlich auf ihn. Er blieb stehen und musterte sie fragend. »Was ist los?«

»Tut mir leid. Das passiert mir an diesem Ort ständig.« Sie deutete auf das sowjetische Ehrenmal. »Hast du dir dieses Monstrum schon mal genau angesehen?«

Uwe versuchte, sich seine Ratlosigkeit nicht anmerken zu lassen. »Da stehen zwei Rotarmisten auf einem Sockel. Was macht dir daran Angst?«

»Der, der die Fahne hält, wirft eine Handgranate, der andere zielt mit seinem Maschinengewehr auf einen imaginären Gegner. Genau so war es am 17. Juni 1953. Da haben solche Soldaten gewaltsam den Arbeiteraufstand niedergeschlagen. Ich empfinde dieses Machwerk als ständige Drohung, es nicht noch mal zu versuchen, an der von Moskau verordneten Regierungsform zu rütteln.« Sabine drehte sich um und ging einfach fort.

Uwe beeilte sich, sie einzuholen. In ihrem Leben musste eine ganze Menge schiefgelaufen sein, dass sie so eine negative Haltung zu unserem Staat entwickelt hatte, fuhr es Uwe durch den Kopf. Na ja, solche Irrtümer ließen sich leicht korrigieren.

»Entschuldige, aber das grässliche Machwerk deprimiert mich jedes Mal, wenn ich daran vorbei muss. Komm, wärme mich!« Sie suchte Uwes Hand, und gemeinsam tauchten sie in die Neustadt ein, die nackt und kalt im Mondlicht vor ihnen lag.

Ermuntert durch Sabine Anlehnungsbedürfnis nahm Uwe seinen gesamten Mut zusammen und stellte ihr die alles entscheidende Frage: »Was sagt eigentlich dein Freund dazu, dass du spät am Abend allein durch die Gegend streifst?«

»Das fällt dir ja ziemlich zeitig ein «, stichelte sie. »Und weil ich so innig in einen anderen verliebt bin, latsche ich Händchen haltend mit dir durch die Botanik.« Stumm lief sie weiter und gab erst mehrere Minuten später einen glucksenden Laut von sich. Offenbar konnte sie sich das Lachen nur schwer verbeißen. »Hast du es noch nicht kapiert? Ich wandle auf Solopfaden durch die Weltgeschichte. Bisher jedenfalls«, relativierte sie schnell.

Uwe fiel ein Stein vom Herzen. Ein tiefes Glücksgefühl durchfuhr ihn. Mit einem Dauergrinsen im Gesicht lief er neben seiner Traumfrau bis zu ihrem Wohnhaus.

Am Toilettenhäuschen stoppte Sabine und blieb unschlüssig stehen. Sie zog Uwe an sich. »Immer wenn ich hier langgehe, bekomme ich Angst. Der Anblick des Toten verfolgt mich. Habt ihr den Mörder inzwischen geschnappt?«

Uwe atmete einmal tief durch. »Der Fall ist uns entzogen worden.«

Während er darüber nachdachte, ob es richtig war, Sabine in dienstliche Angelegenheiten einzuweihen, begann sie vor unbändigem Zorn zu beben. »Stasi!«, spuckte sie das Wort wie etwas Ekelhaftes aus.

Uwe stutzte, ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm auf. Hatte man Sabine auf ihn angesetzt? Sollte das eine Überprüfung seiner Loyalität sein? Hinter vorgehaltener Hand wurde im Polizeipräsidium von derartigen Vorfällen ab und zu gemunkelt. »Woher weißt du das?«, fragte er argwöhnisch.

Sabine schaute ziemlich verdutzt aus der Wäsche, ehe sie kapierte, was er da eben angedeutet hatte. Dann lief sie rot an, hielt rasch eine Hand vor den Mund, schaffte es jedoch nicht, an sich zu halten. Eingeleitet von einem pfeifenden Laut gab sie schließlich eine Lachsalve von sich, die an den Häuserwänden widerhallte.

Nach mehreren Minuten öffnete sich ein Fenster und eine erboste Stimme brüllte: »Ruhe da unten!«

Sabine klappte japsend vornüber, stützte sich mit den Händen ab und ihr kleiner Körper schüttelte sich weiterhin vor Lachen. Nach längerer Zeit gab sie ein keuchendes Schnaufen von sich und streckte Uwe ihre Hand entgegen. Dankbar den Halt ergreifend, zog sie sich hoch und wischte die Tränen weg, die über ihre Wangen strömten. »Guter Witz«, brachte sie hervor und hielt sich nach Luft ringend die Hände auf den Bauch.

Der anschließende Versuch, ein böses Gesicht aufzusetzen, misslang ihr gründlich. Das freche Leuchten ihrer Augen verriet sie. »Uwe Friedrich, solltest du noch einmal andeuten, dass ich, ausgerechnet ich, ein Handlanger der ›Kalten Hand‹ sein soll, dann ist es gesünder für dich, aus der Reichweite meiner Fäuste zu verschwinden.« Sie schüttelte die geballte rechte Faust vor seiner Nase. »Die ist zwar klein, kann aber verdammt hart zuschlagen.«

Uwe glaubte ihr aufs Wort. Jedes einzelne Wort! Was hatte ihn bloß geritten, auf eine so absurde Idee zu kommen? Er lächelte reumütig. »Tut mir leid, ich dachte ...«

»Das Denken überlass in Zukunft lieber mir.« Ihre Stimme senkte sich verführerisch. »Komm her, du!« Ehe er es sich versah, schlang sie ihre Arme um ihn, sah zu ihm auf und öffnete lockend die Lippen.

Uwes Mund war plötzlich so trocken, dass er kein einziges Wort mehr herausbrachte. Er zögerte keine Sekunde, die Einladung anzunehmen. Ihr Kuss schmeckte süß, ihre Lippen waren weich und verlangend. Seine Finger suchten sich einen Weg unter ihre Jacke, umfassten ihre vollen Brüste und streichelten sie zärtlich. Sabines Stöhnen war eindeutig zustimmend.

Als sie sich nach einer Ewigkeit trennten, schauten sie sich an, beide außer Atem. Sabine fand als Erste zurück in die Realität. »So, und jetzt gute Nacht, du süßer langer Lulatsch. Wenn ich morgen früh losmuss, schnarchst du noch friedlich in dein Kissen.« Sie deutete mit einer vielsagenden Gebärde auf ihre Armbanduhr.

»Sehen wir uns morgen?«, fragte Uwe hoffnungsvoll.

»Ich melde mich.« Lachend drehte sich Sabine um, klinkte die Haustür auf, warf ihm noch eine Kusshand zu und stieg die Treppen hoch.

Im ersten Stockwerk öffnete sich leise die Tür von Antons Wohnung. Sabine blieb abrupt stehen. »Mein Gott, Anton! Wegen dir bekomme ich noch einen Herzkasper.«

Ihr Nachbar legte einen Finger auf die Lippen und hielt ihr die Tür auf. »Wir müssen reden«, flüsterte er tonlos.

Verlorenes Land

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