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Dieser schäbige Hinterhof sollte also zu seinem Grab werden. Siegfried Rost war erstaunt, dass er keine Angst verspürte. Bedauern, das ja, wegen der vielen Dinge, die er eigentlich noch erleben wollte. Aber der kalte, unbarmherzige Blick, mit dem sein Gegenüber ihn musterte, war nicht misszuverstehen. Diesmal würde er sich nicht herausreden können. Ein Projektil würde seinen Körper gegen die Wand schleudern, sein Herz zerfetzen und ihn in ein totes Stück Fleisch verwandeln.

Natürlich, dachte er selbstironisch lächelnd, man kann nicht das gesamte Leben auf einem Drahtseil balancieren, ohne irgendwann abzustürzen.

Weshalb ihm gerade jetzt seine Mutter in den Sinn kam, konnte er nicht sagen. Vielleicht weil sie ihm erzählt hatte, dass in den letzten Sekunden vor dem Tod das gesamte Leben noch einmal vor dem geistigen Auge vorbeiziehen würde. Siegfried hatte nie daran geglaubt, doch ein Versuch konnte nicht schaden. Neugierig schloss er die Augen. Zu seiner Verwunderung sah er tatsächlich Bilder. Aber sie zeigten nicht seine Jugend oder sein Leben als Erwachsener, es waren die Ereignisse der letzten Stunden, die in seinem Kopf abliefen.

Er sah sich selbst in seinem Büro sitzen, als ihn der Anruf im Laufe des Nachmittags erreichte. An dem Telefonat war nichts außergewöhnlich. Es gab ihm auch nicht zu denken, dass der Anrufer seine Stimme verzerrt hatte. Das war keine Seltenheit. Seine Geschäftspartner wollten meist anonym bleiben. Und einen Stimmenverzerrer lötete ein geschickter Bastler im Handumdrehen zusammen. Die erforderlichen Bauteile gab es im Funkamateur auf der Ernst-Thälmann-Straße zu kaufen. Siegfried besaß selbst so ein Ding, hatte es aber bisher noch nie gebraucht.

Der Treffpunkt und die Uhrzeit, die der Anrufer durchgab, waren gleichfalls nichts Besonderes. In der Äußeren Neustadt von Dresden waren ihm schon oft Objekte von hohem Wert angeboten worden, und Diebe sowie Hehler zogen es vor, ihre Geschäfte unter dem Deckmantel der Nacht abzuwickeln.

Da Siegfried keine Lust hatte, vor dem Termin noch mal nach Hause zu fahren, arbeitete er länger. Zu tun gab es immer etwas, und auf diese Weise zeigte er an seinem Tarnarbeitsplatz Initiative.

Bei Einbruch der Dämmerung verließ er das Büro, fuhr mit seinem Wartburg in die Neustadt und suchte sich einen Parkplatz bei der Martin-Luther-Kirche. Er lief zur Alaunstraße und erwischte in der Konzertklause einen freien Stuhl in der hintersten Ecke.

Siegfried mochte diese Kneipe. Rustikal und mit einem gewissen Hauch von Verderbtheit passte sie zu ihm. Ohne zu fragen brachte der Kellner ein Pilsner. Siegfried bestellte Schnitzel mit Bratkartoffeln, trank durstig und ließ seine Blicke schweifen. Am Nachbartisch kloppte die übliche Runde Skat, ein paar Säufer ertränkten ihre letzten Träume, und die Halbstarken ließen ihre Muskeln spielen. Keiner der Anwesenden nahm ihn zur Kenntnis.

Belustigt dachte Siegfried an den Anrufer. Der musste ganz schön die Hosen voll haben, dass er ihn in einen Hinterhof bestellte. Sie hätten die Transaktion auch gleich hier in der Kneipe abwickeln können. Es wäre keine Premiere gewesen.

Das Essen war einfach, aber es schmeckte. Siegfried ließ sich Zeit, trank zur Verdauung in Ruhe einen Klaren und belauschte verstohlen die anderen Gäste. Schon manchmal war es ihm gelungen, durch Zufall Informationen aufzuschnappen. Heute Abend hatte er kein Glück, die Unterhaltungen drehten sich ausnahmslos um belanglose Dinge.

22 Uhr verließ Siegfried mit den letzten Gästen die Kneipe. Er hatte noch eine Stunde Zeit bis zum Treffen. Die gedachte er zu nutzen; es konnte nicht schaden, früher da zu sein und den Hinterhof genau zu inspizieren. Ein gesundes Misstrauen war niemals verkehrt und hatte ihm schon oft den Arsch gerettet.

Nachdem er jeden Winkel mit seiner Taschenlampe angestrahlt hatte und davon ausgehen konnte, dass kein unliebsamer Lauscher im Schatten einer Nische lauerte, breitete er eine Serviette auf einer halb zerfallenen Bank aus und setzte sich.

An diesem Februarabend ging ein kalter Wind. Siegfried zog seinen Mantel fest um die Schultern und wartete ab. Gerade, als er überlegte, wie er die verbleibenden dreißig Minuten am sinnvollsten überbrücken könnte, erweckte ein leises Scheppern seine Aufmerksamkeit. Sein Kopf fuhr herum und er sah eine Katze hinter dem Toilettenhäuschen hervorkommen. Das Tier schlich geduckt auf ihn zu, blieb einen Meter vor der Bank stehen, machte einen Buckel und fauchte.

Die mag mich nicht, dachte Siegfried und fauchte zurück. Der Stubentiger zuckte erschrocken zusammen und verschwand pfeilschnell um die nächste Ecke. Dämliches Vieh! Seine Lippen verzogen sich zu einem gemeinen Lächeln.

Im selben Moment wurde ihm ein harter Gegenstand in den Rücken gedrückt. Siegfrieds Grinsen verwandelte sich schlagartig in eine verzerrte Maske. Der gezischte Befehl, sich ruhig zu verhalten, wäre nicht nötig gewesen. Siegfrieds innerer Gefahrensensor schlug aus und gab ihm eindeutig zu verstehen, dass es sich nicht um einen Bluff handelte. Gehorsam folgte er den weiteren Anweisungen, stand langsam auf, ging zu dem Außenklo und drehte sich um.

Mit der Person, die ihn mit der Waffe in Schach hielt, hätte er nicht im Traum gerechnet. Die hasserfüllte Anklage, die sie ihm entgegenschleuderte, ließ ihn begreifen, dass er auf eine Katastrophe zutrieb.

Das letzte Bild verblasste und Siegfried öffnete die Augen. Die kurze Rückschau hatte ihm nicht gefallen. Doch ob der Ablauf seines gesamten Lebens ihm schönere Bilder vor Augen geführt hätte, bezweifelte er.

Eins war ihm jedoch klar geworden. Er musste sich keine Vorwürfe machen, dass er in diese Falle getappt war. Die Anbahnung eines Geschäfts war oft so abgelaufen. Ärgerlich war es allerdings schon, vor allem wenn er an die Konsequenzen dachte.

Diese Überlegungen ließen ihn frieren, und zum ersten Mal seit Jahren bekam er Angst. Wie ein Schlag traf ihn die Erkenntnis, dass er jetzt sterben würde.

Der Gedanke löste einen Adrenalinschub in seinem Körper aus. Vielleicht konnte er mit etwas Geschick das Schicksal doch noch überlisten.

Verzweifelt prüfte er mit seinen Blicken die Örtlichkeit und erwog seine Chancen. Nichts zu machen, Widerstand war zwecklos. Sein Gegenüber war schlau und hielt den perfekten Abstand zu ihm ein. Nicht zu nah, dass Siegfried die Waffe hätte wegschlagen können und nicht zu weit entfernt, um dem Schuss aus dem Lauf der Parabellum zu entgehen.

Da Aufgeben absolut nicht seinem Naturell entsprach, wollte er noch einen letzten Versuch starten. Zu verlieren hatte er ja nichts mehr.

Siegfried setzte an, ein paar Worte zu seiner Verteidigung zu formulieren, doch die auf ihn gerichteten Augen funkelten ihn drohender an als die Mündung der Waffe. Er sah den Finger sich um den Abzug krümmen, und seine Hoffnungen brachen zusammen wie ein baufälliges Haus.

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