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Oberleutnant Michael Reinhardt betrachtete seine Tätigkeit nicht als Arbeit, für ihn war sie Berufung. Schon in seiner Kindheit hatte es ihm ein unbändiges Vergnügen bereitet, möglichst viele Informationen über seine Familienmitglieder, Lehrer und Mitschüler zusammenzutragen.

Zu Beginn war es nur ein Spiel gewesen. Doch als er älter wurde, begann er Nutzen aus seiner kleinen, privaten Datensammlung zu ziehen. Das Wissen um die Aktfotos, die sein Bruder sicher versteckt glaubte, machte ihn gefügig. Ohne Widerspruch war er ab diesem Zeitpunkt bereit, sämtliche an ihn gestellten Forderungen zu erfüllen.

Einmal auf den Geschmack gekommen, setzte Reinhardt seine Erpressungen bei seinen Klassenkameraden fort. Die ganzen kleinen Geheimnisse, beispielsweise voneinander abgeschriebene Hausaufgaben, der Besitz verbotener Dinge aus dem Westen oder heimlich rauchen in einer dunklen Ecke des Schulhofs, das alles ließ sich prima für die Durchsetzung der eigenen Interessen verwenden.

Als Reinhardt eines Tages die junge Geografielehrerin beim Knutschen mit dem Direktor überraschte, erkannte er voller Glück, dass auch Erwachsene erpressbar waren. Um seine Kopfnoten und natürlich die Zensur in Erdkunde brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen.

Leider stieß er bei dem Versuch, seinem Vater die erhofften Weihnachtsgeschenke abzupressen, an seine Grenzen. Bei der Inspektion von dessen Schreibtisch waren ihm kompromittierende Briefe in die Hände gefallen, die von einer Liebesbeziehung zu einer Kollegin erzählten. Vater enttäuschte ihn allerdings maßlos. Statt auf seine berechtigten Wünsche einzugehen, verpasste der ihm eine Tracht Prügel, beichtete die Affäre der Mutter und verließ am selben Tag die Wohnung auf Nimmerwiedersehen.

Danach war eine schwere Zeit für Reinhardt angebrochen. Die verbliebenen Familienmitglieder mussten den Gürtel enger schnallen, und Mutter betrachtete ihn seitdem mit einer Mischung aus Abscheu und Angst.

Reinhardt zog die logische Konsequenz. Ohne zu zögern unterschrieb er am Tag der Musterung die Verpflichtung, den Grundwehrdienst bei der NVA auf drei Jahre zu verlängern. Von da an fieberte er dem Moment des Dienstantritts freudig entgegen. Im Gegensatz zu den Soldaten, die ihr Bandmaß jeden Tag um einen Zentimeter kürzten, um die Zahl der verbleibenden Tage, die sie noch bei der Fahne ableisten mussten, visuell schrumpfen zu sehen, zählte er sehnsüchtig die Stunden, bis er endlich aus der kleinen, miefigen Wohnung ausziehen konnte.

Die Armee erfüllte alle seine Erwartungen und entpuppte sich als ein Paradies für Reinhardt. Bereits in den ersten Tagen stellte er voller Freude fest, welche Fülle an Informationen es doch auszuspionieren gab: Soldaten, die Diebstähle begingen, ungebührliche Reden hinter dem Rücken der Vorgesetzten führten oder wie im Fall eines Unteroffiziers Urlaubsscheine fälschten.

Natürlich war Reinhardt klug genug, die ausgespähten Opfer nicht unter Druck zu setzen, denn die meisten seiner Genossen waren körperlich stärker als er und hätten nicht lange gefackelt. Tödliche Unfälle passierten bei der Armee schon ab und zu. Reinhardts Ambitionen gingen nicht so weit, dass er es gut gefunden hätte, einen Querschläger in den Bauch zu bekommen und jämmerlich auf dem Schießplatz zu verbluten. Deshalb wickelte er seine Geschäfte lieber in aller Stille ab.

Und das zahlte sich aus. Seine Vorgesetzten waren mehr als erfreut über die Nachrichten, die er ihnen übermittelte, sie zeigten sich geradezu dankbar. Obwohl er klein und schmächtig war und aus diesem Grund die hohen körperlichen Anforderungen oft nicht erfüllen konnte, wurde er vor der Zeit zum Unteroffizier befördert.

Besonders stolz war Reinhardt auf die Tatsache, dass während seiner gesamten Dienstzeit nicht der Schimmer eines Verdachts auf ihn fiel. Im Gegenteil, oft saß er mit anderen Soldaten zusammen, und gemeinsam stellten sie Vermutungen an, wer der arglistige Spion sein könnte.

Stattdessen wurde man an anderer Stelle auf ihn aufmerksam. Der Kasernenbefehlshaber hatte seine Verdienste weitergemeldet. Noch vor Ablauf seines Wehrdienstes unterbreiteten ihm zwei Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit das Angebot, seine Talente zum Schutz des sozialistischen Staates in die Waagschale zu werfen.

Begeistert hatte Reinhardt die ausgestreckte Hand ergriffen und diese Entscheidung in all der Zeit noch nie bereut.

Als Reinhardt am gestrigen Tag zu Oberst Buchmann gerufen worden war und den Auftrag erhalten hatte, einen Leutnant der Kriminalpolizei zu observieren, war er vor Freude fast aus dem Häuschen geraten.

Endlich einmal ein interessantes Zielobjekt!

Nicht wie in letzter Zeit üblich ständig diese arglosen Ausreiseantragsteller. Diese Typen bemerkten ihn ja nicht einmal, wenn er ihnen auf die Hacken trat.

Ein Mann vom Fach, ein Kollege sozusagen, stellte dagegen eine Herausforderung dar. Fingerspitzengefühl war da vonnöten, und absolute Professionalität. Eigenschaften, die er sein gesamtes Leben kultiviert hatte.

Der Oberst hatte ihm Dossiers über Friedrich und den Mordfall Rost ausgehändigt und die Order erteilt, den Leutnant zu beobachten und sämtliche Bewegungsabläufe und Handlungen der Zielperson zu dokumentieren.

Voller Elan hatte sich Reinhardt an der Frauenkirche eingefunden, im Nu Leutnant Friedrich ausgemacht und sich an ihn drangehängt. Zu Beginn langweilte er sich fast zu Tode. Der Polizist stand ewig lange auf der Brühlschen Terrasse herum und starrte auf die Demonstranten hinab.

Als Friedrich sich endlich dazu bequemte, sich unter die Menschen zu mischen, was – wie Reinhardt wusste – sein Auftrag war, hatte der Oberleutnant inzwischen vor Kälte jedes Gefühl in seinen Füßen verloren. Eilig lief er dem Leutnant nach und wurde Zeuge von dessen Begegnung mit einem jungen Mann. Zu seinem Verdruss konnte Reinhardt nicht ausmachen, was da genau ablief und vor allem, was die beiden besprachen. Obwohl er sich auf die Zehenspitzen stellte, versperrte ihm die umherwogende Masse den Blick.

Natürlich hatte er den Vorfall in sein Notizbuch eingetragen.

Wenig später kam es zum Kontakt zwischen dem Polizisten und einer jungen Frau. Wenn Reinhardt die Körpersprache der beiden richtig interpretierte, waren sie ineinander verliebt. Zu gern hätte er ein Foto der Frau geschossen, aber das war ihm angesichts der Menschenmenge viel zu heiß. Nicht auszudenken, wenn ihn die Demonstranten enttarnen würden! Gelyncht zu werden stand nicht auf der Prioritätenliste des Stasi-Oberleutnants.

Nachdem die Frau eine Kerze vor der Ruine abgestellt hatte, verließen die zwei eilig die Demonstration. Reinhardt folgte ihnen auf ihrem nächtlichen Weg. Beobachtete, verborgen im Schatten einer Hausecke, ihren Abschiedskuss und folgte Friedrich anschließend durch die wie ausgestorben liegenden Straßen in die Pirnaer Vorstadt bis zu einem Wohnblock auf der Dürerstraße.

Nur aus Gewohnheit überprüfte Reinhardt die Namen auf dem Klingelschild. Genau genommen war das nicht erforderlich, er hatte sich gut auf seinen Einsatz vorbereitet und das Dossier über die Zielperson verinnerlicht. So wusste er, dass in diesem Haus die Eltern des Leutnants und seine beiden Geschwister lebten.

Schulterzuckend beschloss er, seinen Einsatz für heute zu beenden und den Polizisten am kommenden Tag bei seiner Dienststelle abzupassen.

Auf dem Heimweg drängten sich Reinhardt die letzten Worte von Oberst Buchmann in den Sinn. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er die Stimme in seinem Kopf zu hören glaubte.

Achten Sie bei Ihrer Arbeit peinlich darauf, dass Sie von dem Zielobjekt nicht bemerkt werden. Das hätte sehr unangenehme Folgen. Und, Reinhardt, seien Sie erfolgreich.

Sanft war Dr. Buchmanns Stimme bei diesen Worten gewesen, freundlich, ja fast herzlich, aber Oberleutnant Michael Reinhardt hatte die unverhohlene Drohung sehr wohl heraushören können. Sollte er scheitern, würde das nicht toleriert werden.

Schnell schüttelte er die unangenehme Erinnerung ab. So weit würde es nicht kommen, schließlich war er ein Meister seines Fachs.

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