Читать книгу Verlorenes Land - Andreas M. Sturm - Страница 7
5
ОглавлениеNach einer hastig gerauchten Zigarette betrat Oberleutnant Ludwig Unger das Objekt 1 des Kombinats VEB Pentacon auf der Schandauer Straße. Aus dem Inneren des Gebäudes schlug ihm der warme Atem der Werkzeugmaschinen entgegen. Im Lauf der vielen Jahre hatte sich der Geruch nach Metallstaub und Maschinenöl in den Fluren festgesetzt.
Ehe er kostbare Zeit mit Herumsuchen vertrödelte, schnappte sich Ludwig einen Lehrling, der in seinem blauen Arbeitskittel eilig die Treppe hinaufstieg, und erkundigte sich nach dem Büro des Objektleiters.
Über das Vorzimmer des Chefbüros wachte eine nicht unattraktive Brünette von Anfang vierzig. Ludwigs Jagdinstinkt entflammte auf der Stelle. In den siebenunddreißig Jahren seines Lebens war er bisher keine längerfristige Beziehung eingegangen. Stattdessen lebte er nach der Devise: »Warum soll ich mir eine Kuh kaufen, wenn ich ein Glas Milch trinken will?« Da es ihm bei seinen Eroberungen herzlich egal war, ob sich die Dame in festen Händen befand oder nicht, übersah er großzügig den Ehering der Frau.
Ludwig zauberte ein gewinnendes Lächeln auf seine Lippen und musterte das Objekt seiner Begierde voller Anerkennung. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie bei Ihrer Arbeit störe. Aber ich muss unverzüglich Ihren Chef sprechen.« Gleich darauf setzte er seinen einstudierten Dackelblick auf. »Jetzt habe ich doch glatt vergessen, mich vorzustellen. Sie haben mich vollkommen aus dem Konzept gebracht.« Er zückte schwungvoll seinen Dienstausweis. »Oberleutnant Unger, Kripo Dresden.«
»Oh, Besuch von der Kripo hatten wir hier noch nie.« In den weit aufgerissenen Augen der Sekretärin glitzerten Neugier und die Lust auf ein Abenteuer. »Einen kleinen Moment bitte. Ich schaue nach, ob Herr Scharfenberg Zeit hat«, flötete sie, lief mit elegantem Hüftschwung zur Tür des Chefbüros und huschte hinein.
Ihre wenigen Schritte genügten Ludwig, um zu sehen, dass ihr Körper hielt, was ihr Gesicht bereits versprochen hatte. Frechheit siegt, dachte er und pfiff ihr leise nach.
Ein kokettes Lächeln, als sie wenige Augenblicke später aus dem Büro trat und ihm die Tür aufhielt, gab ihm recht. Ludwig war hochzufrieden, das schmucke Fischlein zappelte an der Angel. Doch für lüsterne Fantasien fehlte ihm jetzt die Zeit. Er stellte sich vor, und Scharfenberg bat ihn zu einer Sitzecke.
Voller Freude registrierte Ludwig den Aschenbecher auf dem Tisch. Und als Scharfenberg sich eine Zigarette ansteckte und ihm die Schachtel reichte, kannte sein Glück keine Grenzen. In trauter Zweisamkeit genossen die Männer schweigend die ersten Züge, bis der Oberleutnant mit einem dezenten Hüsteln die Konversation einläutete. »Der Grund, der mich zu Ihnen führt, ist traurig und schrecklich zugleich.« Nach dieser Phrase schwieg er einige Sekunden, um Scharfenberg Zeit zu geben, sich für den bevorstehenden Schock zu wappnen. »Ein Kollege von Ihnen, Herr Rost, ist Opfer eines Tötungsdeliktes geworden.«
Die Miene seines Gegenübers fror ein. »Mensch, der Siegfried. Das muss ein Irrtum sein.«
»Leider nein. Fühlen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?« Ludwig fand, dass er sehr einfühlsam vorging. Eigentlich redete er nicht gern um den heißen Brei herum, doch in diesem Fall saß er einem hohen sozialistischen Leiter gegenüber. Da war Fingerspitzengefühl gefragt. Solche Leute hatten mitunter gute Beziehungen zur Parteiführung, und Ludwig wollte sich nicht selbst einen Stein vors Karrieretreppchen wälzen.
Fahrig drückte Scharfenberg seinen halb aufgerauchten Glimmstängel aus und zündete sich unmittelbar einen neuen an. »Fragen Sie!«
Ludwig zückte sein Notizbuch. »Welche Position hatte Herr Rost im Kombinat inne?«
»Er ist ...« Scharfenberg hielt inne und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Entschuldigen Sie, Siegfried war Abteilungsleiter des Werkzeugbaus.«
»Was genau war da Herrn Rosts Aufgabengebiet?«
»In dieser Abteilung fertigen wir unter anderem Spritzgusswerkzeuge und Gesamtschneidwerkzeuge. Wenn Ihnen das was sagt?«
Ludwig nickte wissend, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, was er sich darunter vorstellen sollte.
»Siegfried prüfte den eingehenden Bedarf an Werkzeugen und vergab die Aufträge an die Meisterbereiche. Gemeinsam mit den Meistern war er für die Einhaltung der Produktionspläne verantwortlich. Pia ... ich meine, Frau Dorn, meine Sekretärin, wird Ihnen eine Stellenbeschreibung mitgeben.«
Aha, Pia heißt die schnucklige Maus, grinste Ludwig insgeheim, ließ sich jedoch nichts anmerken. »Danke. Gab es in letzter Zeit unschöne Vorkommnisse mit seinen Kollegen? Streit? Oder war Herr Rost gezwungen, Disziplinarmaßnahmen über einen seiner Untergebenen zu verhängen?«
Scharfenberg schüttelte energisch den Kopf. »Das wäre mir bekannt.«
»Was für gesellschaftliche Verpflichtungen hatte er denn?«
»Na ja, er war natürlich in der Partei und trug als Abteilungsleiter die Verantwortung für die Kollegen des Werkzeugbaus. Da Siegfried auf dem Gebiet von Kunst und Kultur sehr beschlagen war, hielt er mehrmals Vorträge zu kulturellen Themen bei den Schulen der sozialistischen Arbeit. Zusätzlich war Siegfried in der Kampfgruppe.«
Ludwig schrieb sich die Informationen auf und hakte nach. »Finde ich hier im Objekt einen Kollegen, der gemeinsam mit Herrn Rost in der Kampfgruppe war?«
»Er sitzt vor Ihnen.« Unterschwellig klang in Scharfenbergs Stimme Stolz auf. »Wir waren Kameraden im selben Zug, und zwar sehr gute.«
Die Miene des Oberleutnants hellte sich auf. »Das spart mir einen Weg. Sie sind genau der Ansprechpartner, der mir weiterhelfen kann. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen«, er lachte kumpelhaft, »gab es Spannungen zwischen Herrn Rost und einem der anderen Kameraden?«
Scharfenberg schüttelte traurig den Kopf. »Siegfried war ein guter Kamerad. Sein Einsatz hat die anderen immer motiviert. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir unseren Kampfauftrag erfüllen.« Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Nach der Pflicht sind wir meist einen trinken gegangen. Sie wissen ja, wie das ist«, das Lächeln vertiefte sich, »manche haken den Einsatz ab und verschwinden ganz schnell in ihr Privatleben, aber nicht der Siegfried. Er hat immer mitgehalten und oft einen ausgegeben.« Sein Blick schweifte zum Fenster. Offensichtlich zogen Erinnerungen hinter seiner Stirn vorbei. Es mussten gute sein, denn Scharfenberg lebte sichtlich auf. »War ein guter Kumpel, der Siegfried. Er wird mir und den anderen im Zug fehlen.«
»Es trifft immer die Besten«, stimmte Ludwig ihm zu, froh, dass das Gespräch lockerer wurde. »Ich höre aus Ihren Worten heraus, dass Sie mehr als Kollegen und Kameraden waren, eher Freunde. Können Sie mir Auskünfte über das Privatleben von Herrn Rost geben?«
»Ja«, Scharfenberg nickte nachdenklich, »wenn ich so zurückdenke ... Siegfried war mir ein Freund. Private Kontakte pflegten wir allerdings nicht. Und natürlich kenne ich Monika, seine Frau. Wir saßen bei mehreren Gelegenheiten gemeinsam am Tisch, zu Feiern am Tag der Republik oder am 1. Mai. Die beiden waren ein attraktives und glückliches Paar. Bevor Sie fragen«, er hob die Hände, »von Spannungen in der Ehe habe ich nichts mitbekommen. Einen Sohn haben sie, den Olaf. Der leistet gerade seinen Wehrdienst ab, in Berlin, an der Grenze. Siegfried hat oft von ihm erzählt, muss ein feiner Kerl sein.«
Ludwig steckte sein Notizbuch weg und setzte sich gerade. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ich weiß das sehr zu schätzen, besonders weil Sie eine verantwortungsvolle Position innehaben. Da häufen sich die Aufgaben.« Er wusste, dass er dick auftrug, aber es war möglich, dass er Scharfenberg noch einmal brauchte. »Meine Kollegen werden noch mit den Meistern und einzelnen Facharbeitern sprechen.« Ludwig erhob sich und reichte Scharfenberg die Hand.
Im Vorzimmer wartete Frau Dorn auf ihn, die vor Neugier schon ganz zittrig war. Ludwig ließ sich nicht lange bitten und informierte sie in wenigen Worten über Rosts Tod. Nach mehreren ogottogott unterbrach sie der Oberleutnant und bat um die Stellenbeschreibung.
»Die habe ich leider nicht hier, ich fordere sie gleich in der Kaderabteilung an.« Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns fügte sie kokett lächelnd hinzu: »Wenn Sie möchten, können Sie das Dokument bei mir zu Hause abholen. Heute Abend, nach 22 Uhr.«
Auf dem Weg zu seinem Dienstwagen klopfte sich Ludwig innerlich auf die Schulter. Er hatte sehr gute Arbeit geleistet. Mithilfe seines Charmes hatte er genau die richtige Person als Quelle aufgetan. In der kommenden Nacht würde er mehr über Rost erfahren, als Scharfenberg preisgegeben hatte. Denn so naiv, dass er Scharfenberg die Schilderung von einem mustergültigen Mitarbeiter abkaufte, war er nicht.