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Auf die Minute genau um 7 Uhr hob Oberleutnant Unger die Faust und klopfte an die Tür des Leiters der Kriminalpolizei. Nach dem »Herein« des Majors betraten er und Uwe das Büro. Beide wussten, dass der Chef Unpünktlichkeit nicht tolerierte.

Jovial lächelnd nahm Major Horst Günzel ihren Gruß entgegen und deutete auf die Besucherstühle gegenüber seinem Schreibtisch. »Guten Morgen, die Herren. Das ist ja ein schöner Schlamassel, der uns da eingebrockt wurde. Ich hoffe, ihr präsentiert mir erste Ergebnisse.«

Unger straffte seinen Körper, bemüht, Sicherheit und Tatkraft zu demonstrieren. »Die Untersuchungen am Tatort sind abgeschlossen. Anhand der Spuren und der Menge des aus der Wunde ausgetretenen Blutes können wir annehmen, dass der Fundort gleichzeitig der Tatort ist. Die Brieftasche hat der Täter zurückgelassen.« Ludwig rang sich ein gekünsteltes Lachen ab. »Somit ist Raubmord als Motiv unwahrscheinlich. In der Brieftasche befanden sich seine Papiere und 90 Mark. Der Ermordete, Siegfried Rost, hat mit dem Rücken zur Außentoilette gestanden und wurde ins Herz geschossen. Das Projektil ist aus nächster Nähe abgefeuert worden. Es steckte in der Holzwand des Häuschens. Den Berechnungen der Techniker zufolge stand der Schütze circa zwei bis drei Meter entfernt von seinem Opfer, als er abdrückte. Eine Hinrichtung par excellence.«

»Dann war der Mord also etwas Persönliches?« Trotz des Ernstes seiner Frage versuchte sich Major Günzel an einem aufmunternden Lächeln. Er wollte versuchen, das Gespräch zu entkrampfen, das ständige Strammstehen von Unger ging ihm manchmal auf den Geist.

Doch der bekam nichts von dem Angebot mit. In dienstlichem Ton fuhr er fort: »Es deutet alles darauf hin, festlegen möchte ich mich allerdings nicht.«

Günzel verdrehte innerlich die Augen und ließ seinen Blick für einen Moment auf dem jungen Leutnant Friedrich ruhen. Der war von ganz anderem Kaliber, als sein direkter Vorgesetzter. Entspannt in seinem Stuhl sitzend, unterdrückte er offensichtlich ein Lächeln. Ungers gestelzte Ausdrucksweise schien ihn zu amüsieren. Günzel strich sich nachdenklich über die wenigen verbliebenen Haare. Solange der Grünschnabel nicht den Respekt vergaß, würde er es nicht zur Kenntnis nehmen. Flink holte er ein Taschentuch aus der Hosentasche und tat als müsste er sich schnäuzen. Jetzt war es an ihm, ein Grinsen zu überspielen. Fast meinte er, sich selbst da sitzen zu sehen, vor zwanzig Jahren. Er war ebenso gewesen. Offen, interessiert und zielstrebig. Diese Eigenschaften hatten ihn auf seine jetzige Position gehievt. Er würde abwarten, wie sich der Bengel mauserte. Potenzial schien er zu haben, und das war wichtig in diesen Zeiten. Die Welt veränderte sich rasant. Welche Rolle sein Heimatland, die DDR, in Zukunft spielen würde, war noch nicht abzusehen. Aber egal, in welche Richtung die Reise ging, aufgeschlossene, tolerante Mitarbeiter, die auch mal um die Ecke denken konnten, waren enorm wichtig für die kommenden Anforderungen. Friedrich könnte einer von denjenigen sein, die eine Erneuerung mitgestalteten.

Den arroganten und zynischen Unger dagegen hatte Günzel noch nie leiden können. Obwohl der erst siebenunddreißig Jahre zählte, war er bereits jetzt verbittert und engstirnig. Er seufzte. Man konnte sich seine Mitarbeiter eben nicht aussuchen.

Unverdrossen redete Unger inzwischen weiter. »Mit Fingerabdrücken sieht es mau aus. Der Hof ist nun mal ein öffentlicher Ort. Bewohner, Besucher und Postboten geben sich die Klinke in die Hand. Besondere Sorgfalt haben die Techniker bei dem Klo aufgewandt.« Er war in seinem Element, und seine Darstellungen wurden blumiger. »Viel hat es nicht gebracht. Kunststück, bei den Oberflächen. Hautfett haftet nicht so gut an wurmstichigen, steinalten Brettern. Bei dem Projektil handelt es sich um 9 Millimeter Parabellum-Munition. Damit ist die Mordwaffe vermutlich eine Luger Modell 08.«

»Si vis pacem para bellum. Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor.« Der Major lachte bitter. »Eine Luger gehörte bis Ende der Sechziger zur Standardbewaffnung der VP, darum ist sie leider nicht gerade selten. Das macht es nicht einfacher für uns.«

Unger und Friedrich nickten synchron.

»Das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung liegt ebenfalls vor«, sprach Unger in seinem Polizeideutsch weiter. »Ich war gestern am späten Nachmittag bei der Autopsie zugegen, gemeinsam mit Oberleutnant Möckel von der Kriminaltechnik.« Er warf Uwe einen vernichtenden Blick zu.

Verwundert registrierte Günzel die Spannung zwischen den beiden. Streitigkeiten innerhalb der Morduntersuchungskommission konnte er in dieser Situation nicht gebrauchen. Er beschloss, die Sachlage nicht aus den Augen zu verlieren, sollten sich die Spannungen zuspitzen, musste er handeln.

Unger öffnete eine Dokumentenmappe. »Sektionsnummer 049/82. Der Todeszeitpunkt liegt zwischen 22 und 23 Uhr. Das Projektil hat die linke Herzkammer getroffen und laut Aussage des Rechtsmediziners war Rost sofort tot. Weitere Verletzungen konnten nicht diagnostiziert werden, weder Abwehr- noch Kampfspuren. Das bestätigt noch einmal die Theorie der gezielten Hinrichtung.«

Unger wirkte erleichtert, als er den Ordner zuklappte, so als hätte er das Pflichtprogramm absolviert. Wesentlich entspannter fuhr er fort. »An Siegfried Rosts Arbeitsplatz, im VEB Pentacon, bin ich auf Widersprüchliches gestoßen. Sein Chef hat ihn in den höchsten Tönen gelobt, kein Wunder, die beiden Männer waren befreundet.« Er lachte spöttisch. »Waren Kameraden bei der Kampfgruppe und haben gern mal einen draufgemacht. Die Chefsekretärin, Frau Dorn, hat da ein anderes Lied gesungen. Rost hatte Affären, jede Menge sogar. Er hat es auch bei ihr versucht, sie hat ihn jedoch abblitzen lassen. Er wäre nicht ihr Typ, hat sie gesagt.«

»Moment!« Günzel hob die Hand. »Ist die Aussage der Frau glaubwürdig? Immerhin ist es möglich, dass die Sache umgekehrt gelaufen ist und sie bei ihm keinen Stich landen konnte.«

»Unwahrscheinlich. Die Sekretärin ist ein heißer Feger, so eine stößt man nicht von der Bettkante. Außerdem macht sie einen ehrlichen Eindruck auf mich.«

Und nicht nur den, dachte Günzel bei sich und musste sehr an sich halten, um nicht zu grinsen. Er arbeitete inzwischen lange genug mit Ludwig zusammen und wusste, dass der vor Gier hechelnd jeder Frau hinterherschnüffelte. »Na, wenn du dir sicher bist, nehmen wir die Aussage der Frau als gegeben und beziehen diesen Fakt in die Ermittlungen ein.« Der Major sagte das in neutralem Tonfall und forschte weiter: »Was haben wir noch?«

»Der Sohn des Ermordeten ist zurzeit bei der Fahne. Der Ordnung halber habe ich seinen Kommandeur angerufen, um ihn als Täter auszuschließen. Wenn der Vater in der Gegend rumvögelt, kann es schon sein, dass der Filius deswegen angesäuert ist.« Unger gab sich keine Mühe, seinen Sarkasmus zu verhüllen.

»Hoffentlich hast du das nicht gegenüber dem Kommandeur so geäußert.« Im Ton des Majors lag eine deutliche Warnung. »Rost Junior hat gerade seinen Vater verloren, da ist ein wenig Diplomatie nicht verkehrt.«

»Natürlich nicht. Ich weiß, was sich gehört.«

Günzel nahm die Beteuerung mit einem Nicken zur Kenntnis und sah den Oberleutnant auffordernd an.

Der hob die Hände. »Das wars erst mal von meiner Seite. Die Kollegen stecken noch in der Befragung der Anwohner, der Kollegen bei Pentacon und der Kameraden der Kampfgruppe. Wenn sie neue Informationen bekommen, erfahren wir das im Laufe des Tages.« Er drehte den Kopf und lächelte Uwe breit an, beinah wirkte es echt.

Der Leutnant legte los. Er war gut darin, Sachverhalte logisch aufgebaut und verständlich wiederzugeben. Nach dem Bericht von seinem Besuch bei Rosts Ehefrau räusperte er sich und fügte hinzu: »Auch wenn ich gestern gewusst hätte, dass Rost seine Frau betrügt, nach dem Zustand ihrer Ehe hätte ich sie nicht fragen können. Die Arme stand kurz vor einem Zusammenbruch, ich war heilfroh, als ihre Mutter aufkreuzte.« Er dachte ein paar Sekunden nach. »Interessant ist die Wohnung der Rosts. Die Einrichtung kann man sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen. Ich kam mir vor wie im Jagdschloss Moritzburg.«

»Dort war ich noch nie«, maulte Ludwig.

»In welcher Schule warst du denn?« Uwe konnte es nicht fassen. »Seid ihr nie bei einem Wandertag nach Moritzburg gefahren?«

»Wir sind immer in den Zoo. Unsere Lehrerin hatte keine Lust zum Wandern.«

Der Major grunzte ungeduldig. »Ludwig wird schon wissen, wie es in einem barocken Schloss aussieht und ich ebenfalls. Komm endlich auf den Punkt, Uwe!«

»Ja, ja. Also ich dachte, so was gibt es nur im Märchenfilm oder eben im Museum. Die Möbel, die Teppiche einfach alles. Ich kenne mich mit Antiquitäten nicht aus, aber mir kam das Zeug ziemlich echt vor. Und wenn es so ist, steht in dieser Wohnung ein Vermögen. Mir lag die Frage nach den finanziellen Verhältnissen der Rosts schon gestern auf der Zunge, angesichts des traurigen Zustands der Frau habe ich sie mir aber verkniffen. Ich werde heute noch eine Runde durch die Nachbarschaft drehen, eventuell weiß jemand Näheres. Über eine Erbschaft zu Beispiel.«

Günzel hob die Augenbrauen. »Sei bloß diplomatisch!«

»Keine Sorge«, tat Uwe den Einwand ab. »Ich deichsle das schon.« Er überlegte kurz. »Das Rost Geld haben muss, ist mir gestern am Tatort bereits in den Sinn gekommen. Sein Anzug ist maßgeschneidert. Ich habe anhand der Etiketten die Schneiderei im Telefonbuch gefunden und angerufen. Dort ist Rost kein Unbekannter, er lässt seit Jahren seine Anzüge, Jacken und Hosen nähen. Näheres konnten sie mir über ihren Kunden allerdings nicht sagen. Ich weiß, es ist nur ein Detail und möglicherweise für unsere Ermittlungen irrelevant, ich wollte es aber abklären.« Er drehte sich zu Ludwig. »Für heute Vormittag habe ich übrigens für uns zwei einen Termin ausgemacht, bei Frau Höntsch.«

Der Oberleutnant holte tief Luft. Bevor er seinen Unmut kundtun konnte, stoppte ihn Uwes Handbewegung. »Allein will ich da nicht hin, ich brauche jemanden mit Erfahrung an meiner Seite.«

Major Günzel biss die Lippen zusammen. Hatte er es doch gewusst, der Junge war nicht auf den Kopf gefallen. Der kitzelte Ludwigs Schwächen auf höchstem Niveau.

Völlig ungerührt spann Uwe den Faden weiter: »Einen wichtigen Hinweis konnte mir Frau Rost vor ihrem Zusammenbruch nämlich noch geben. Sie hat von einem seltsamen Anruf erzählt. Eine Frau Höntsch war am Telefon und wollte Herrn Rost sprechen. Ich habe mal bei der Meldestelle nachgefragt. Es gibt tatsächlich eine Eva Höntsch in Dresden. Ich bin heute vor Dienstantritt zu ihrer Adresse gefahren und habe geklingelt, leider war keiner da. Aber ich habe eine Nachbarin im Treppenhaus getroffen. Die hat mir erzählt, dass die Höntsch ganz in der Nähe des Tatorts als Verkäuferin in einem Antiquariat auf der Bautzner Straße arbeitet. Da hat es bei mir geklingelt. Ich dachte, es ist eine gute Idee, ihr auf den Zahn zu fühlen.« Uwe nickte nachdrücklich.

»Gute Arbeit«, sagte Ludwig besänftigt. »Vielleicht kann sie unsere Frage beantworten, was Rost nachts in der Neustadt gewollt hat.« Er zog die Luft ein und ließ ein Grinsen aufblitzen. »Apropos auf den Zahn fühlen ... Was hat denn deine Befragung von Frau Fuchs gebracht?«

»Da ein Pistolenschuss Lärm macht, vor allem zu nachtschlafender Zeit, wollte ich gern abklären, ob Frau Fuchs den Knall eventuell gehört hat.« Uwe betonte jedes einzelne Wort und seine Augen funkelten rebellisch. »Zu unserem Pech ...«, er zuckte mit den Schultern, »hat die junge Dame einen sehr tiefen Schlaf. Ja, ich weiß, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Täter einen Schalldämpfer verwendet hat.« Uwe hob die Hände. »Doch das ist eher selten. Zurück zu der Zeugin, wo ich schon mal bei ihr in der guten Stube saß, habe ich gleich noch zwei Fragen nachgeschoben. Gebracht hat es allerdings nichts. Kriminelle Elemente, denen sie einen Mord zutrauen würde, treiben sich nach ihrer Aussage in der Umgebung nicht herum. Tja, und dann fragte ich sie noch aus, ob in der Nachbarschaft jemand privat Antiquitäten verkauft. Das hat sie ebenfalls verneint.«

Dass er den ABV auf diese Probleme hingewiesen hatte, verschwieg Uwe tunlichst. So dämlich, Ludwigs Spott herauszufordern, war er nicht.

»Das ist nicht gerade üppig.« Der Major sah die beiden Kriminalisten vielsagend an. »Zwei Spuren, denen wir nachgehen können, haben wir aber. Erstens die Sache mit Rosts Affären. Da besteht durchaus die Möglichkeit, dass es einem der gehörnten Ehemänner nicht so gut gefallen hat, seine Frau zu teilen. Erstellt eine Liste seiner Geliebten, und wenn sie einen Partner haben, überprüft den.« Er zögerte. »Die betreffenden Frauen werden ebenfalls durchleuchtet, Eifersucht ist immer noch eins der besten Mordmotive. Und zweitens die Antiquitäten. Wer weiß, ob da alles sauber gelaufen ist.« Er ließ seine Handflächen auf die Schreibtischplatte krachen. »Auf gehts, meine Herren! Es kann nicht sein, dass einer unserer Werktätigen einfach so abgeknallt wird.«

Werktätiger? Uwe hatte da seine Zweifel. Ihm war bisher noch kein Arbeiter begegnet, der in seiner Wohnung Kunstgegenstände hortete.

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