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Anton Jäger fühlte sich wie ausgekotzt. Eine tiefe Erschöpfung lähmte seine Muskeln und rasende Kopfschmerzen verhinderten jeden klaren Gedanken. In der letzten Nacht hatte er kein Auge zugetan. Hatte sich mit den Dämonen der Vergangenheit herumgeschlagen und viel zu viel Wodka in sich hineingeschüttet. Der Rauch zahlloser Zigaretten schien ihm die Luftröhre abzudrücken.

Verborgen hinter der Gardine hatte er den gesamten Vormittag in den tristen Innenhof hinabgestarrt. Die Polizisten waren im Haus ein und aus gegangen. Bei ihm hatten sie auch geläutet, mehrmals. Bei jedem Klingeln war er zusammengezuckt, aber die unsägliche Angst hatte ihn auf seinen Stuhl gebannt. Sie war stärker als das Gewissen.

Am frühen Nachmittag verschwand die Polizei, so, als ob hier nie ein Verbrechen begangen worden wäre. Anton, der sich gerade Kaffee gekocht hatte, konnte sich denken, was da ablief. Mit dieser Entwicklung hatte er gerechnet.

Er hob den Blick zum Himmel, als suchte er Kraft. Hoffte, innere Ruhe zu finden, um seinen wirren Überlegungen eine Richtung zu geben. Doch die Wände setzten seinen Gedanken Grenzen. Bewegung würde helfen! Bewegung ohne störende Barrieren. Frische Luft würde die Lungen lüften und den Nebel aus dem Kopf vertreiben.

Ein letzter Blick aus dem Fenster, der Hof lag menschenleer. Anton nutzte die Gelegenheit, schlüpfte in seine Winterstiefel, zog den Mantel über und stieg, so leise er es vermochte, die Treppen hinunter.

Sein Weg führte ihn durch einheitsgraue Straßenzüge. Es stank nach Abgasen, Müll und Vernachlässigung. Anton kämpfte seine Schwäche nieder und zwang sich, schneller zu gehen. Er musste raus aus diesen Schluchten, deren Wände und Mauern ihn zu erdrücken drohten.

Aufatmend erreichte er den Platz der Thälmannpioniere und zog seine Runden über die Wege, welche die Anlage durchschnitten. Anton steigerte sein Tempo, um ins Schwitzen zu kommen. Der Schweiß würde das Gift der vergangenen Nacht aus seinem Körper spülen.

Nach einer halben Stunde war er völlig ausgelaugt, schaffte es gerade noch zu einer Bank und ließ sich nach Atem ringend darauf nieder. Sein Herzschlag drohte ihm die Brust zu sprengen, das Blut rauschte rhythmisch in seinen Ohren.

Kraftlos wie ein Kleinkind wartete Anton ab, bis die Schwäche verging. Derartige Ausfälle häuften sich in letzter Zeit. Er tat es stets mit einem Schulterzucken ab, je eher es vorbei war, umso besser.

Während sich sein Herzschlag normalisierte, schaute er zu den Häusern hinüber, die den Bischofsweg säumten. Das Schicksal des langsam verfallenden Viertels ließ etwas in seinem Inneren zerbrechen. Er wusste um die Ursache: Die Parteiführung hatte die Neustadt aufgegeben und somit dem Untergang geweiht.

Anton gelang es nicht, die Tränen zurückzuhalten. Vor dem Krieg war die Äußere Neustadt ein Stadtteil voller wunderschöner Bauten aus der Gründerzeit gewesen, in dem das Leben pulsiert hatte. Jetzt war das Viertel verlorenes Land.

Das Rascheln einer Zeitung setzte Antons wehmütigen Gedanken ein Ende. Auf der Nachbarbank hatte ein Mann Platz genommen, der in der Sächsischen Zeitung blätterte.

Tief in Antons Kopf leuchteten Lichter auf, als fuchtelten seine Gehirnzellen mit Fackeln herum, um ihn zu warnen. Er lächelte sarkastisch. Seine Synapsen hatten noch nicht geschnallt, dass keine Eile mehr erforderlich war. Die Zeiten des Aufspringens und Weglaufens waren seit Jahren Geschichte.

In aller Ruhe wandte sich Anton dem Mann zu. »Wollen Sie nur wissen, wohin ich gehe, oder möchte mich jemand sprechen?«

»Bitte?« Seine Verblüffung wirkte täuschend echt.

»Kommen Sie, wir sind beide Profis. Bringen wir es hinter uns.« Anton tat sein Bestes, trotz der Angst zu lächeln.

Der sportliche junge Mann schlug seine Zeitung zusammen und nickte mit ausdruckslosem Gesicht. »Nach Ihnen.« Seine Handbewegung war energisch und ließ keinen Zweifel darüber, dass er Anton keine Wahl ließ.

Ohne an Widerstand zu denken, zuckelte Anton vor dem Mann zur Straße. Ein kurzer Stoß in den Rücken zeigte ihm den Weg zu einem gelben Wartburg Tourist. Noch bevor er das Fahrzeug erreichte, öffnete sich eine der Hintertüren. Anton kannte das Prozedere und stieg ohne Umstände ein. Er hatte ohnehin keine Wahl. Als er den Mann neben sich erkannte, fühlte er sich geschmeichelt. Dr. Buchmann hatte sich persönlich herbemüht.

Sein ehemaliger Vorgesetzter nickte ihm freundlich zu. »Es ist lange her, Anton. Siehst gut aus.«

Lügen kann er immer noch perfekt, fuhr es Anton durch den Kopf. Auf einmal hatte er keine Angst mehr. Was kann mir schon passieren? Wenn sie mich aus dem Weg räumen, spart mir das eine Menge Schmerzen. Er erwiderte das Lächeln. »Du auch, Ernst. Die Jahre waren gnädig zu dir.« Und das war keine Lüge. Buchmann wirkte drahtig. Man sah ihm die vierundfünfzig Lebensjahre nicht an.

Buchmann gab dem Fahrer ein Zeichen, und der startete das Fahrzeug.

Anton lehnte sich behaglich zurück. Die weichen Kunstledersitze waren sanfter zu seinem Rücken als die harte Parkbank. Er hatte es nicht eilig. Buchmann wollte etwas von ihm, nicht umgekehrt.

Bevor das Schweigen peinlich werden konnte, ergriff Buchmann das Wort. »Du kannst dir denken, weshalb ich gekommen bin. Unser alter Freund Rost wurde erschossen. Und da dachte ich mir, wenn der gute Anton gleich um die Ecke wohnt, dann müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn der mir keine Informationen geben kann.«

Anton grinste. »Glaub mir, wüsste ich, wer diesem widerwärtigen Kerl die gerechte Strafe erteilt hat, ich würde es dir sagen.«

Er meinte jedes einzelne Wort ernst. Buchmann schien das zu spüren, dennoch warf er ihm einen Knochen hin. »Du weißt, dass ich dankbar sein kann. Ich bin bereit, für Informationen zu bezahlen, und ich meine damit nicht nur Geld. Gefälligkeiten sind oft viel mehr wert.«

»Mein Lebenshorizont rückt in greifbare Nähe. Was solltest du mir noch bieten können? Trotzdem danke, aber ich kann dir wirklich nicht helfen, so gern ich es möchte.«

Buchmann nickte, wobei er ein bedauerndes Lächeln andeutete. »Ich habe es befürchtet. Wo kann ich dich absetzen?«

Anton schaute aus dem Fenster. Sie waren die Otto-Buchwitz-Straße entlanggefahren, und beidseits der Straße zogen die Bäume der Dresdner Heide vorbei. Sein Zeigefinger beschrieb einen Kreis. »Wieder zurück in die Neustadt, von hier ist es mir zu weit zum Laufen.« Er lachte, doch es klang bitter. Lange war es noch nicht her, dass er Strecken bis zu zehn Kilometern als kurz eingestuft hatte.

Buchmann beugte sich vor und legte dem Fahrer die Hand auf die Schulter. »Du hast unseren Gast gehört.«

Stumm wendete der den Wartburg, und die Rückfahrt verlief schweigend. Auf dem Bischofsweg stoppte das Auto. Anton legte seine Hand auf den Türgriff, ein Zungenschnalzen ließ ihn innehalten.

»Eins noch, alter Freund.« Dr. Buchmann fixierte Anton mit kaltem Blick und legte einen harten Unterton in seine Stimme. »Unsere heutige Begegnung bleibt unter uns. Und sollte dich irgendjemand nach Rost fragen, dann ist es für alle besser, wenn du schweigst.« Er hob die Hand und lächelte zum Abschied.

Allein auf dem Gehweg starrte Anton dem Wartburg nach. Noch nie hatte er ein beunruhigenderes Lächeln gesehen.

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