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9. Kapitel

Alex erwachte schweißgebadet nach einer weiteren Nacht voller wirrer Alpträume und schleppte sich mit hängendem Kopf in Richtung Bad. Im Flur schreckte er Miss Daisy auf, die fauchend flüchtete. Anders als sonst schenkte er dem Tier nicht allzu viel Aufmerksamkeit, sondern setzte seinen Weg ins Bad fort, wo er sich unter die Dusche stellte, um sich von Warmwasser berieseln zu lassen. Er brauchte eine ganze Weile, bis er die verworrenen Bilder der Nacht aus dem Kopf verbannen konnte. Ihm kam es fast so vor, als hämmere sein Bewusstsein mit beiden Fäusten an eine mentale Wand und wollte eingelassen werden, doch immer noch blieben die fehlenden Erinnerungen im Dunkeln. Wenigstens ließen die Kopfschmerzen nach, die ihn seit dem Erwachen plagten.

Im Anschluss schlurfte Alex auf der Suche nach Frühstück in die Küche. Miss Daisy hatte derweil einen strategisch günstigen Posten auf dem im Flur stehenden Kleiderschrank bezogen und schien nicht geneigt, diesen in nächster Zeit wieder zu verlassen. Im Rest der Wohnung herrschte Stille, also schliefen Jochen und Jessy wohl noch oder hatten außerhalb zu tun. Da er sowieso mit dem Einkaufen dran war, räumte er für sein Frühstück schamlos den Kühlschrank aus. Frisch gestärkt griff er sich eine Viertelstunde später seinen alten Rucksack und schickte sich an, die Küche in Richtung Wohnungstür zu verlassen.

Als er die Hand nach der WG-Katze auf dem Schrank für ein paar Abschiedskrauler ausstreckte, fauchte ihn das Tier boshaft an und zog sich so weit wie möglich zur Wand zurück. »Etwas kratzbürstig heute?«, brummte er sie an, um mit einem inneren Schulterzucken die Wohnung zu verlassen. Zunächst steuerte er die nächste Filiale seiner Hausbank an, wo er einen Teil des gestern erhaltenen Geldes nutzte, um sein Konto zumindest aus den roten Zahlen herauszubringen. Ein Großteil des Schmerzensgeldes lag aber immer noch zu Hause. Alex machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber Banken, ohne dafür wirklich eine Begründung liefern zu können.

Dann aber machte sich Alex auf den Weg zu Uhu, besser bekannt als Professor Sperling. Die Route kannte er auswendig, hatte er sie doch zu aktiven Studienzeiten mehrfach in der Woche angetreten. Der Geisteswissenschaftler lebte auf der Jahninsel, die sich gar nicht so weit von Stadt am Hof entfernt befand. Geschichtsprofessoren schienen eine Vorliebe für Donauinseln zu haben. Sein Weg führte ihn über die Steinerne Brücke, von wo aus er nicht mehr allzu lange bis zur leicht verfallen wirkenden Villa des Professors zu laufen hatte. Dort schien sich wenig verändert zu haben, wie Alex bei seiner Ankunft zufrieden feststellte. Mit der rechten Hand zog er etwas Efeu neben dem Gartentor zur Seite und drückte auf den Klingelknopf darunter. Zunächst geschah nichts, doch Alex hatte gelernt, sich in Geduld zu üben. Und tatsächlich wurde die massive Holztür erst gut zwei Minuten später geöffnet.

Professor Johann Sperling trug ausgewaschene Cordhosen, ein einfaches Stoffhemd und darüber ein Jackett, das an den Ärmeln inzwischen Flicken aufwies. Und natürlich klemmte ihm im Mundwinkel eine alte Pfeife, die er gemütlich vor sich hin paffte. Also genau den Aufzug, den Alex erwartet hatte. Zunächst nahm er sich die Zeit, seinen Besuch eingehend zu mustern.

Dann jedoch faltete sich das runzlige Gesicht des Professors zu einem Lächeln auseinander. »Was sehen meine trüben Augen? Alexander! Das ist aber eine angenehme Überraschung! Komm herein!«

Auch aus der Nähe sah der inzwischen im Ruhestand lebende Professor unverändert aus. Sperling hatte sich selbst Alex gegenüber einmal als eine Mischung aus Albert Einstein und Winston Churchill beschrieben, indem man die Frisur des genialen Physikers mit der Statur des englischen Politikers kombinierte. Alex wurde derweil einer weiteren, eingehenden Musterung unterzogen, wobei der Geschichtsprofessor den Sitz seiner Brille mehrfach korrigierte. »Junge, du siehst furchtbar aus, wie ist es dir ergangen?«, wollte er wissen und dirigierte ihn dabei bestimmt ins Innere des Hauses.

»Ich hatte etwas Pech in letzter Zeit!«, murmelte Alex ausweichend und sah sich derweil um. Die Einrichtung von Sperlings Domizil konnte am besten mit Verdun im Endstadium beschrieben werden, zumindest wenn man diplomatisch vorgehen wollte. Nüchtern betrachtet bestanden sämtliche Zimmer aus purem Chaos. Jeder Schrank, jeder Tisch, jede noch so kleine Abstellmöglichkeit wurde von aufgeschlagenen Büchern, vollgekritzelten Notizzetteln und mitunter obskuren Fundstücken belegt. Es roch förmlich nach Geschichte.

Kurz wurde Alex schwindlig, so dass er haltsuchend an die Wand neben sich greifen musste. Doch das leichte Unwohlsein verschwand so schnell, wie es gekommen war, wurde aber von stechenden Kopfschmerzen ersetzt. »Alexander? Alles in Ordnung?«, hörte er Sperlings Stimme neben sich. Er zwang sich zu einem dünnen Lächeln. »Ja, geht schon. Ich bin noch etwas wackelig auf den Beinen, hatte vor ein paar Tagen so etwas wie einen Unfall.«

»Soso, einen Unfall!«, brummte der Professor, paffte ein letztes Mal an seiner ausgegangenen Pfeife, klopfte sie in einen Aschenbecher aus und wandte sich in Richtung Küche. »Ich setze uns erst mal einen Tee auf! Etwas Kuchen ist auch noch da! Du findest den Weg ins Arbeitszimmer ja selbst.«

Alex musste unvermittelt aufkeimenden Hustenreiz unterdrücken und sparte sich deswegen die Antwort, um sich so schneller auf den Weg nach oben machen zu können. Durch Sperlings Haus zu spazieren, kam einem Crashkurs in Sachen mittelalterlicher Geschichte gleich, hingen doch auch die Wände übervoll mit Wandteppichen, Waffen und anderen Schaustücken aus dieser Epoche. Bei den meisten Stücken handelte es sich um Repliken, doch Alex wusste, dass sich das eine oder andere Original darunter befand.

Am Ende der Treppe lag direkt das Arbeitszimmer seines Mentors, das einen Großteil des oberen Stockwerks einnahm. Auch hier gab es keine Veränderung am Gesamtbild. Es herrschte also wildes Durcheinander, wie er schmunzelnd feststellte, und sich dabei vorsichtig dehnte. Der Unfall steckte ihm noch gewaltig in den Knochen, wie sich nun zeigte. Es dauerte geraume Zeit, bis die aufgekommenen Schmerzen in Kopf und Rücken wieder schwanden.

Erst dann wanderte Alex in dem gemütlich eingerichteten Raum etwas herum, versuchte, den mitunter hüfthohen Bücherstapeln am Boden auszuweichen und betrachtete die gerahmten Bilder an den Wänden. Hier gab es so viel zu sehen! Schnittzeichnungen von Grabungen, die der Professor durchgeführt hatte. Fotos von Exkursionen oder Experimentalarchäologie und vieles mehr. Schließlich blieb sein Blick auf einem der neueren Bilder hängen, dessen Anblick ihn unwillkürlich zum Grinsen brachte. Unter anderem erkannte er sich selbst in Rüstung und Habit des Johanniterordens auf dem Bild.

Vor zwei Jahren hatte er, zusammen mit Sperling und einem Dutzend anderer Geschichtsstudenten den historischen Marsch der Kreuzzügler von Regensburg ausgehend, über die Alpen bis hin nach Venedig durchgeführt.

Auch jetzt noch verzog er das Gesicht bei der Erinnerung an wundgelaufene Füße, Druckstellen des Kettenhemds auf den Schultern und den unsäglichen Gestank ihrer ungewaschenen Kleidung, die sie ab der dritten Marschwoche fortwährend bis hin zu ihrem Marschziel begleitete. Immer noch schmunzelnd wanderte er weiter, um die Sammlung von Schwertern an der Wand oberhalb von Sperlings Schreibtisch zu begutachten. Gerade fiel sein Blick auf ein neues Stück in der Sammlung, als schwere Schritte auf der knarrenden Holztreppe das Nahen Sperlings ankündigten. Wie von ihm vermutet, trug der Professor ein Tablett in den Händen auf dem er zwei Tassen, eine Teekanne und zwei Teller mit je einem Stück Käsekuchen ausmachen konnte. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit enthielt die Kanne Kräutertee, das Leibgetränk Sperlings. »Was erheitert dich so, Alexander?«, fragte der Professor verwirrt, während er das Tablett auf seinem Schreibtisch abzustellen versuchte, ohne dabei eine mittelschwere Papierlawine auszulösen. »Ach nichts, ich habe nur festgestellt, dass ich mich viel zu lange habe nicht mehr blicken lassen, das ist alles!« Es kostete ihn Mühe, wieder ein ernsteres Gesicht zu machen. Sperling bedachte ihn mit einem Blinzeln, wie immer, wenn er etwas nicht genau fokussieren konnte. Anstatt zu antworten, griff er in das wilde Durcheinander auf seinem Schreibtisch, um eine andere Brille zutage zu fördern, die aber auch nicht auszureichen schien. Erst ein weiterer Brillentausch brachte dem Anschein nach zufriedenstellende Ergebnisse, woraufhin Alex kritisch beäugt wurde.

Dieser ließ das Ritual schweigend über sich ergehen, denn Sperlings Marotte hinsichtlich Brillen war ihm wohlbekannt.

Zu den aktiven Zeiten des Professors in der Regensburger Uni galt es als Sport unter den jeweiligen Kursteilnehmern, Strichlisten zu führen, wie oft ihr Dozent während seiner Vorlesungen die Brille austauschte. Von eben dieser kleinen Marotte rührte auch der Spitzname Uhu des Professors her.

Erst nach erfolgter Musterung antwortete er. »Das trifft allerdings zu, mein Junge. Und lass mich raten, du hast bislang mit einem anderen Studienfach nicht wirklich Erfolg gehabt, von einer normalen Stelle ganz zu schweigen?«

Etwas peinlich berührt fuhr sich Alex mit einer Hand durch die Haare. »Das trifft leider sogar zu!«

Acht

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